Gruppen & Organisationen

Sozialistische Positionen

Einladung zum Tanz

Arbeitsprogramm der Sozialistischen Positionen

I.

Am Sozialismus festzuhalten wird einem in der Gegenwart nicht leicht gemacht. Wer sich öffentlich als Sozialist bekennt, ist größtenteils der Denunziation ausgesetzt und muß sich rechtfertigen — meist denen gegenüber, die wie geisteskrank frühzeitig die politische Seite gewechselt haben, um auf der vermeintlichen Siegerseite einen bequemen Platz zu finden. Das eine Wort hat Schaden genommen wie in der Geschichte kaum ein anderes. Es besteht kein Zweifel darüber, daß 1989 eine Epoche zu Ende ging. Gesellschaftliche Transformationen sind seitdem in Gang gekommen, die von weltgeschichtlicher Bedeutung sind. Der Realsozialismus, die in der Wirklichkeit in verzerrter Form geltend gemachte Idee einer befreiten Gesellschaft, ist in sich zusammengefallen. Schnell waren die Totengräber dabei, das Ende der Geschichte zu verkünden. Mehr als zehn Jahre danach wird aber immer deutlicher sichtbar, daß umgekehrt mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung nicht die Geschichte zu ihrem Ende gekommen ist, sondern die Universalgeschichte des Wertgesetzes ohne bipolare Barriere und scheinbar ohne Alternative wieder in rasanter Geschwindigkeit voranschreitet.

In dem Wort Globalisierung wird diese qualitative Veränderung noch unbegriffen: halbbewußt benannt. Denn Globalisierung existiert nicht erst seit zehn oder zwanzig Jahren, sondern ist der naturwüchsige Prozeß der Kapitalakkumulation seit ihren Anfängen, seit dem die Kapitalisten und heute die Kapitalverwalter in ihrem Heißhunger nach Mehrwert über den ganzen Erdball getrieben werden und die jeweiligen Verhältnisse nach ihrem Ebenbild modernisieren: „Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Lebenserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“ [1]

II.

Aus diesem Prozeß der Kapitalakkumulation und -konzentration entsprang das riesige und für eine lange Zeit stetig anwachsende Industrieproletariat, dessen internationalistischer Standpunkt ohne jene kosmopolitische Gestaltung der Welt durch das Kapital, gar nicht denkbar gewesen wäre. Das internationale Proletariat wurde durch die universalgeschichtliche Angleichung seiner Arbeiten an den Maschinen zu einer abstrakt homogenen Klasse gemacht, die es nicht schwer hatte, ihre Interessen im Gegensatz zur kapitalistischen Produktionsweise zu erkennen. Es war deshalb vorhersehbar, daß die Klasse des Proletariates sich mit zunehmender Kapitalisierung als revolutionäres Subjekt bewußt wird und versuchen würde, das bürgerliche Eigentum an Produktionsmitteln aufzuheben. Daß dieser Versuch scheitern mußte, war schon im Verlauf der Russischen Revolution von 1917 absehbar.

Wer am Sozialismus festhält, muß sich abgrenzen, um für sich eine klare und realistische Position jenseits von Stalinismus und sozialdemokratischen Reformismus zu gewinnen. Am Sozialismus festzuhalten, ist keine Glaubensfrage. Das Leiden der Menschen erzeugt diese Notwendigkeit. „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ [2] Die Verhältnisse erzwingen diese Lebendigkeit. Die Wirklichkeit drängt zum Gedanken. Diese Philosophie — die Marxsche ist gemeint — erhalte sich aber nur durch die rücksichtslose Kritik ihrer selbst am Leben. Zur rücksichtslosen Selbstkritik ist sie angehalten, nachdem sie „das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach“. [3] Seit seinem Anbeginn warf der Realsozialismus einen düsteren Schatten auf die sozialistischen Theorien und muß seitdem seine aufrichtigen Kritiker dazu veranlassen, die Entwicklungsgeschichte der Marxschen Theorie hin zu einer Legitimationswissenschaft kritisch zu reflektieren.

Der Produktionszusammenhang kritischer Theorie, der solche Reflexion einlöst, ist auf Seiten des westlichen Marxismus gegeben, der über Adorno, Horkheimer und Marcuse hinaus auch die Geselleschaftstheorien von Bloch, Korsch, Lukács, Luxemburg und dem späten Trotzki, bis hin zu Sartre und Merleau-Ponty und andere wie Gramsci und Pasolini, miteinbezieht. Haben diese Theoretiker noch eine recht rege Rezeption gefunden, sind die Denker der anti-etatistischen Variante des Sozialismus, die Anarchisten, fast völlig dem Vergessen preisgegeben worden. Auch die verschütteten Theorien der Landauers, Mosts, Kropotkins, Bakunins, etc. gilt es wieder aufzugreifen. „Sozialistische Positionen“ sind nicht zur Reduktion auf eine einzige theoretische Schule angewiesen. Ihr Anliegen ist es, zu intervenieren. Es bedarf nicht der einen Position um die lebendige Diskussion zu haben: gerade die Vielfalt, ohne die Beliebigkeit, kann die Stärke einer lebendigen Linken sein. Die Freiheit des Andersdenkenden ist auch immer die eigene Freiheit. Sie zu haben, ist die Essenz des Kampfes um eine bessere Gesellschaft.

Von Walter Benjamin stammt die Allegorie, Geschichte gegen den Strich zu bürsten. Es geht dabei um eine unterirdische Geschichte, die unter der offiziellen verläuft. „Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften.“ [4] All das, was auf der Strecke bleibt an Möglichkeiten und Erfahrungen im Kampf gegen die Herrschenden, darf nicht vergessen werden. Es muß aufbewahrt und immer wieder erinnert werden. Solch kumulatives Bewußtsein (Sartre) macht denkerisch die Vergangenheit gegenwärtig, nicht aus Selbstzweck, sondern um des Entwurfes einer befreiten Zukunft willen, in der die Repressionen der Gegenwart und Vergangenheit aufgehört haben, zu sein.

Den Repräsentanten der kritischen Theorie ist das Verständnis eines Sozialismus als negativer Utopie gemeinsam. Ihnen geht es um das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit, der kein dogmatisches Denk- und Traumverbot auferlegt werden darf, weil ihre Wirkung versagt, wenn sie zum Privilegium einer einzigen Gruppe oder Partei wird, die vorgibt, was sein soll. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden (Luxemburg). Sie zu haben, ist die Voraussetzung des Kampfes um eine bessere Gesellschaft, deren Wahrheit zuletzt aus der Dialektik von Spontaneität und Organisation hervorgehen muß; oder sie bleibt ein Abstraktum, das — in der Wirklichkeit ohne Basis, d.h. ohne Anerkennung geltend gemacht — nicht Wirklichkeit verändert, sondern zerstört.

Die Bierernsthaftigkeit des inquisitorischen Dogmas, das weder Witz noch Abweichung zuläßt und sich selbst konkretes Leben verbietet, solange es Kapitalismus oder die vermeintliche Gefahr einer reaktionären Konterrevolution gibt, verschreckt jeden potentiellen Mitstreiter für die gemeinsame Sache und hat zu viel von jener bürgerlichen Kälte verinnerlicht und gegen sich selbst einen notorisch-selbstzerfleischenden Moralismus mobilisiert. Kritischer Theorie geht es dagegen um eine Freiheit der Einzelnen jenseits der Notwendigkeit, während die stalinistische Linke die Seite der Notwendigkeit in der Freiheit jedes Einzelnen verabsolutierte. Kritik setzt Lebendigkeit und Phantasie voraus, deren spielerische Inhalte unterschiedliche Formen annehmen können, in denen die Bereiche Kunst, Philosophie und Wissenschaft als gleichwertige Medien der Erkenntnis beinahe nahtlos ineinander übergehen. „Das Bestehen darauf, daß eine sozialistische Gesellschaft leichtfüßig und spielerisch sein kann und sollte, daß diese Qualitäten wesentliche Elemente der Freiheit sind; das Vertrauen in die Rationalität der Phantasie; das Verlangen nach einer neuen Moral und Kultur“ [5] sind elementare Voraussetzungen für den Umbau der Gesellschaft.

Die Idee einer befreiten Gesellschaft ist notwendig eine negative Utopie. Freiheit kann kein Zustand sein, der sich nach einem positiven Ideal einrichten läßt. Freiheit bedeutet in der Praxis Befreiung; sie vollzieht sich durch die Dialektik der Aufhebungen. In diesem Sinne ist der Sozialismus die „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ [6]

III.

Die dieser Bewegung entsprechende Methode ist die immanente Kritik; sie erstellt keinen Katalog für die Praxis. Kein Dogma, keine Wahrheit, die als Abstraktion aus der reinen Vernunft gewonnen wäre, hält sie der Welt vor, sondern knüpft an die wirklichen Bedürfnisse der Menschen, an ihre Kämpfe an, denn die immanente Kritik versteht sich als säkularisierte Philosophie. Damit ist die Theorie kritisch in die Praxis involviert; sie ist rücksichtslose Kritik alles Bestehenden und fürchtet sich genauso wenig vor den Konsequenzen ihrer Resultate wie vor dem Konflikt mit den herrschenden Mächten. „Es hindert uns also nichts, unsere Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen ihr die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will.“ [7]

Die Kriterien der Kritik sind aus der Realität vermittels der Anknüpfung an die wirklichen Kämpfe, Leiden und Bedürfnisse der Menschen gewonnen, in welchen die individuelle Vernunft aus der Not heraus unvernünftige Überlebensstrategien entwickelt und sich gegenüber der Wirklichkeit wie eine fensterlose Monade abdichtet, aus dem Menschen ein unpolitisches, paralysiertes Wesen macht, das unmöglich von selbst in dem Schicksal des anderen sein eigenes wiedererkennen kann, um sich mit Selbstbewußtsein solidarisch zu verhalten. Das sich seiner selbst unklare Bewußtsein formuliert einen Anspruch, dessen ideologische Gestalt einerseits Ausdruck der herrschenden Verhältnisse ist: geistiges Aroma, andererseits kommt darin ein historisch gewachsenes und sich mit den Verhältnissen wandelndes Bedürfnis zum Vorschein, dessen wahre Befriedigung die Aufhebung von Entfremdung und Herrschaft impliziert. Dieses historische Kriterium der Kritik macht den Zeitkern der Wahrheit aus. Das Denken gilt als gebunden an zeitliche und räumliche Formen gesellschaftlichen Seins. Hegel schrieb, das Individuum sei ein Sohn seiner Zeit, und Marx präzisierte: das Bewußtsein ist durch das gesellschaftliche Sein bestimmt, somit der Mensch ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die kritische Theorie nahm sich vor, die blinde Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens dem Bewußtsein der Einzelnen zu erhellen, damit sie endlich die Einrichtung einer „Gesellschaftsform, in der die Menschen ihre Arbeit bewußt für ihre eigenen Interessen und Zwecke organisieren und immer aufs neue damit in Einklang bringen“ [8] können, konsequent angehen. Bei Marx heißt es, Wissenschaft sei nicht nötig, wenn Wesen und Erscheinung zusammenfielen. Die Differenz von Wesen und Erscheinung macht erst das Spannungsfeld von Ideologien aus. Das gilt insbesondere für Herrschaftsverhältnisse. Ideologiekritik arbeitet sich an dem Kern von Rationalität in der Verschränkung von Wahrem und Unwahrem ab. Sie spürt die undurchsichtigen und vermittelten Herrschaftsverhältnisse auf, indem sie das konkrete geschichtliche Moment aufs gesellschaftliche Ganze transzendiert und sie zum Zwecke ihrer Negation sichtbar macht.

IV.

Nie waren in der Geschichte der Menschheit die ökonomischen Möglichkeiten für eine Welt ohne Hunger und Krieg ausgereifter, und doch stehen die Chancen der Umsetzung einer sozialistischen Alternative so schlecht wie selten in der Geschichte zuvor. Eine monströse Ökonomie: ein alle Bereiche des Lebens erfassender Markt kennzeichnet die Gegenwart. Die vom Zirkel der Kulturindustrie aus Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis durchdrungenen Einzelnen stehen heute stärker denn je devot in der ideologischen Bindung an das kapitalistische Herrschaftssystem, dessen repressive Moral und Kultur von jeher bei den Beherrschten stärker wurzelte als bei den Mächtigen. Kulturindustrie ist eine Ideologie mit Tendenz zum Totalitären, so daß sich ihr keiner mehr entziehen kann. Verdinglichung und Entfremdung überschreiten in ihr ein Maß, das die Grenze der Obszönität längst überschritten hat. Die vereinzelten Einzelnen reagieren auf sie durch annähernd totale Anpassung und entziehen damit dem System seine letzte Lebendigkeit, ohne die es nicht auskommen kann. Darin vollzieht sich eine dialektische Wendung am Rande des Verstummens jedweder Subjektivität: die Grenzen der Verdinglichung werden sichtbar. Der Faschismus hatte noch gelehrt, daß Menschen bereit sind, den größten Blödsinn für Wahrheit zu halten und — falls der Beweis noch nötig war — in der Lage sind, alles zu phantasieren, was sie mit Allmacht ausstattet gegen ihre reale Nichtigkeit und Vernichtung. Wie der Mensch aber zum dümmsten Killer werden kann, so ist auch das Gegenteil möglich. Der befreiten Subjektivität: dem ganz anderen Menschen ist aber erst noch der Kampf um eine befreite Gesellschaft vorausgesetzt.

Jede Theorie, die sich als politisch versteht und darauf hofft zur materiellen Gewalt zu werden, in dem sie von den Massen ergriffen wird, muß für sich und nach außen glaubwürdig geklärt haben, von welchen Massen die Rede ist. Der wirkungsvolle politische Eingriff in die gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt aus, wenn die theoretische Botschaft zu ungenau adressiert ist — oder unkontrolliert, wenn sie einfach als Flaschenpost in das große Meer des kulturindustriell dominierten Pluralismus geworfen wird, in der Hoffnung irgendwann wird irgendwer sie schon entkorken.

Der an der Theorie orientierte politische Eingriff kann nur durch ein geschichtliches Subjekt der Gesellschaft erfolgen, dessen Zusammenhalt größer ist als die Kraft der Vereinzelung. Vereinzelte Einzelne lassen sich für unkontrollierte Revolten begeistern, aber nicht für eine Revolution. Wo hat sich das Proletariat versteckt, das heute seinen Einsatz verpaßt? An sich besteht es noch, aber nur so abstrakt, wie es die Verortung im Produktionsprozeß als Nicht-Eigentümer der Produktionsmittel festlegt. Objektiv aber spricht alles dafür, daß „die Unterdrückten, heute nach der Voraussage der Theorie die übergroße Mehrheit der Menschen, sich selber nicht als Klasse erfahren können.“ [9]

Unsere Epoche ist nicht mehr wie vor 150 Jahren die Epoche der Bourgeoisie, gleichwohl sie kontinuierlich eine kapitalistische Epoche geblieben ist. Aber die Gesellschaft ist nicht mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen geteilt, gleichwohl sie kontinuierlich eine antagonistische Klassengesellschaft geblieben ist. Der Abschied vom oder das Festhalten am Proletariat ist kein religiöser Voluntarismus. Wer es dazu kommen läßt, verhöhnt bloß die Gegenwart und teilt die Kritiker in Schafe und Böcke und überführt die Auseinandersetzung in ein unproduktives, weil blind vor sich gehendes Handgemenge, in dem die einen als Häretiker der Vernunft für ihr Ketzertum gebrandmarkt werden und die anderen als Gralshüter des reinen Marxismus ihre Selbstapotheose in Wahngebilden auf die Gegenwart projizieren.

In der Gegenwart erscheint das Proletariat nicht mehr als Träger des Sozialismus. „Die Klassenherrschaft schickt sich an, die anonyme, objektive Form der Klasse zu überleben.“ [10] Das Wort Proletarier geht seiner Herkunft nach auf das lateinische proletarius zurück und bezeichnete im alten Rom zunächst nicht mehr als den Angehörigen der untersten Bürgerklasse. Seit dem 18. Jahrhundert wurde mit dem Proletariat in der politischen Ökonomie die eigentumslose Klasse der modernen Lohnarbeiter bezeichnet, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können. Zu klären ist, inwieweit weitreichende strukturelle Transformationen die Klassen der Möglichkeit nach als selbstbewußte kollektive Akteure auf unabsehbare Zeit verschüttet haben. Muß von der klassischen Unterscheidung von Bourgeoisie und Proletariat gänzlich abgesehen werden? Es besteht kein Zweifel daran, daß die strukturelle Veränderung der Klassen, wie sie auf der Oberfläche erscheinen, zu prägnant ist und deshalb mit der Blütephase des Kapitals im 19. Jahrhundert nicht mehr identisch ist. Die Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten.

V.

Die Frage des historischen Subjekts stellt sich am Ende des short century (Hobsbawm) drängender und offener denn je. Es herrscht ein Tiefstand des revolutionären Potentials — und das trotz der immer zahlreicher werdenden gegen die Globalisierung aufbegehrenden Gruppen in der Welt, die manch einen schon dazu verleiten, von einer neuen sozialen Bewegung zu sprechen. Der Tiefstand des revolutionären Potentials ist jedoch weniger ein Problem der Vermittlung, sondern vielmehr darauf zurückzuführen, daß lebendige Arbeit in der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion tendenziell zu einer Marginalie wird. Der Auswurf nicht mehr gebrauchter lebendiger Arbeitskraft aus den Produktionsprozessen und Dienstleistungsbetrieben aufgrund des Einsatzes der jeweils fortschrittlichsten Technologien läge heute in Deutschland allein bei über 38%. [11] Der Anteil derer, die kontinuierlich Lohnarbeit verrichten, wird in der nahen Zukunft in den fortgeschrittenen westlichen Industrienationen riesige Ausmaße annehmen und der im Schwund begriffenen Lohnarbeiterklasse ein riesiges Herr der Arbeits- und Erwerbslosen, sowie Gelegenheitsarbeiter in prekären und temporären Arbeitsverhältnissen gegenüberstellen. — Gemeint ist das Ende der Arbeitsgesellschaft, deren Erosionen heute schon überdeutlich zu spüren sind.

Die dritte industrielle Revolution, die Mikrotechnologie, bedarf einer anderen Organisation des Produktionsprozesses als der des Taylorismus. Innovativität und Flexibilität als notwendige Charaktereigenschaften des „postindustriellen“ Arbeiters verlangten in den westlichen Demokratien nach einer „Humanisierung der Arbeit“, d.h. nach einer partiellen Enthierarchisierung des Produktionsprozesses. In den staatskapitalistischen Ländern des Ostblocks mußte außerdem der Versuch unternommen werden, die gesamte totalitäre politische Struktur zumindest ansatzweise zu demokratisieren, um dem „westlichen Imperialismus“ weiterhin standhalten zu können: Perestroika und Glasnost. Jedoch: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Das geflügelte Wort holte seinen Propheten ein.

Die gegenwärtig sich vollziehende dritte industrielle Revolution wälzt den überkommenen Produktionsprozeß völlig um. Die traditionelle Arbeitsgesellschaft, die doch besser als Lohnarbeitsgesellschaft bezeichnet werden sollte — der einzelne definiert sich über seine geleistete Lohnarbeit —, scheint obsolet zu werden. In Zeiten eines jobless growth, in denen neben steigenden Gewinnen auch eine ständig wachsende Zahl von drop outs, Ausgeworfenen, produziert wird, ist die Lohnarbeit als ideologische Grundlage der Gesellschaft in Frage gestellt; dies nicht nur von radikalen Kritikern, das System selbst muß sich eine neue ideologische Grundlage geben, wenn Gesellschaft nicht auseinander fallen soll: Keine Gesellschaft, die nicht auf die Ebene der zivilisierten Barbarei zurückfallen will, kann es sich leisten, auf Dauer große Teile der Bevölkerung auszuschließen. Die Gelegenheit, sich vom Fetisch der Lohnarbeit zu befreien, ist günstig.

Eine solch radikale gesellschaftliche Veränderung muß sich auch in der kritischen Theorie niederschlagen. Die im 20. Jahrhundert so dominierenden Verzerrungen des Marxschen Denkens im Marxismus verschiedener Spielarten sind gemeinsam mit ihrem historischen Subjekt, der Klasse der Lohnsklaven, obsolet geworden. Der wissenschaftliche Sozialismus war nie etwas anderes als die Übertragung der wissenschaftlichen Betriebsführung auf die Gesellschaft: Das Individuum ist hier bloßes Anhängsel der Maschinerie, nicht ihr Gestalter. Sozialismus, wie er von Marx begriffen wurde als „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ [12], war undenkbar.

Marx hatte als revolutionäres Subjekt noch einen Arbeiter vor Augen, der als Individuum den Produktionsprozeß durchschaute. [13] Bereits Lenin war dieser Typus von Arbeiter als „Arbeiteraristokratie“ verdächtig. Er setzte vollends auf den zum bloßen Rädchen im System regredierten Fabrikarbeiter, dem seine Arbeit mehr widerfuhr, als daß er sie ausführte. Das sozialistische Bewußtsein mußte ihm von außen, d.h. von bürgerlichen Intellektuellen beigebracht werden. Mit diesem Arbeiter ist das Postulat, daß die Befreiung der Arbeiterklasse die Tat der Arbeiter selbst sein muß, nicht mehr denkbar, und wandelt sich schnell in „Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.“ [14]

Heute entsteht ein neuer Typus von Facharbeiter, der in mancher Hinsicht mit dem Arbeiter übereinstimmt, den Marx vor Augen hatte, als er das Proletariat begrifflich faßte. Der moderne Wissensarbeiter, an Universitäten und Fachschulen ausgebildet, tätig in den von der dritten industriellen Revolution beschleunigten Schlüsselindustrien Informatik und Biotechnologie, überschaut den Produktionsprozeß wieder und ist im Stande die ihm zugewiesenen Schranken zu überschreiten. Wie reagiert der Wissensarbeiter, der merkt, wie potentielles Wissen, das menschliches Leid verringern könnte, aus Profitgründen verschlossen bleibt? Wie verhalten sich Ärzte und Forscher, die bemerken, daß Medikamente nicht verfügbar sind, da das menschliche Genom in Privatbesitz überführt wird? Und daß das keine individuelle Ausnahmesituation ist, sondern daß die Zerstörung von Freiheit systematisch geschieht, systeminhärent ist?

In dem neuen Wissensarbeiter wird die gesellschaftlich nützliche Arbeit nicht mehr auf die entfremdete Lohnarbeit verengt, sondern gerade von denjenigen, die als Facharbeiter ausgebildet wurden und im Produktionsprozeß nicht mehr gebraucht werden, auf den Bereich kreativer Muße ausgeweitet. Dieses Heer der Nichtarbeiter (Gorz) könnte zu einer neuen Klasse für sich werden, was sie an sich als vom Produktionsprozeß ausgeschlossene schon sind. Die drop outs müssen sich organisieren. Ihr Kampf, der sich von dem der verbürgerlichten Lohnarbeiter (Marcuse) unterscheidet, richtet sich gegen eine überreiche Klassengesellschaft, in der sie zu einem menschenunwürdigen Leben gezwungen werden, obwohl das Produktionsniveau, das Marx für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft voraussetzte, längst erreicht ist. Durch radikale Verkürzung der Arbeitszeit könnte für alle Menschen die Lohnarbeit aufhören, die Dominante in ihrem Leben zu sein. In den zukünftigen Kämpfen wird es immer seltener darum gehen, bloß das Eigentum an Produktionsmitteln aufzuheben, sondern viel mehr darum, das Leben weitgehend ohne Lohnarbeit für sich zu entdecken und existenzgesicherte Freiräume jenseits der Lohnarbeit zu schaffen. Je mehr dieser Kampf den vor sich gehenden Prozeß beschleunigt, desto umfassender könnte er als revolutionärer in die Geschichte eingehen. „Was der Mensch dem Menschen angetan hat, muß aufhören, radikal aufhören — dann erst und dann allein können die Freiheit und die Gerechtigkeit anfangen.“ [15]


Sven Oliveira Cavalcanti
Marcus Hawel
Oliver Heins

[1Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, Berlin 1959, S. 466.

[2Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975, S. 15.

[3Ebd.

[4Max Horkheimer, Theodor. W. Adorno: Interesse am Körper, in: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1969, S. 246.

[5Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, Frankfurt/M. 1969, S. 46.

[6Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: MEW Bd. 3, Berlin 1958, S. 35.

[7Karl Marx: Brief an Ruge, in: Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“ (1844), in: MEW Bd. 1, Berlin 1972, S. 345.

[8Max Horkheimer: Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935), in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 3, Frankfurt/M. 1988, S. 253.

[9Th. W. Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Soziologische Schriften Bd. 1, Frankfurt/M. 1979, S. 377.

[10Ebd.

[11Vgl. H. A. Henzler, L. Späth: Sind die Deutschen noch zu retten?, München 1993.

[12Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O., S. 482.

[13Dieser Typus von Facharbeiter konnte allerdings mit dem Marxismus recht wenig anfangen. Stattdessen war er Anarchosyndikalist. Bezeichnend ist, daß der Marxismus im 19. Jahrhundert lediglich in Deutschland, später auch in Rußland wirkmächtig wurde. Der vorherrschende Sozialismus war anarchistisch.

[14Vgl. Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, Berlin 1962, S. 22.

[15Herbert Marcuse: Nachwort, in: Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt/M. 1965, S. 104.

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