Streifzüge, Heft 3/2001
Oktober
2001

Angriff der Glücksritter

Während Deutschland nach dem 11. September nationalistisch formiert wird, entdecken Antideutsche den Glamour der bürgerlichen Geellschaft.

„Nichts wird mehr so sein wie vorher“ tönte es einhellig nach den reaktionären Terroranschlägen, und es entstand das spontane Gefühl, dass dieser Satz nicht nur eine Feststellung sei, sondern auch eine Drohung enthalte. Wenige Wochen nach dem 11. September lassen sich viele Stichworte nennen, die bezeugen, dass die Ahnung von der Realität überholt wurde: Militarisierung und Homogenisierung von Politik und Gesellschaft, Verschärfung innerer Sicherheit und rassistischer Ausgrenzung.

Drohung meint hier jedoch noch etwas anderes, etwas, dessen Ausmaß und Folgen noch ebensowenig abzuschätzen sind, wie die des Terrors. Die Rede ist von der ohne Not preisgegebenen Erkenntnis einer Einheit von Fortschritt und Barbarei, einer Totalität kapitalistischer Weltvergesellschaftung, die kein Innen und Außen kennt. Der Unwillen vieler Linker jenseits des autoritären, traditionsmarxistischen Spektrums, den Terror innerhalb dieser Einheit zu denken, mündet nicht selten in die manichäische Vorstellung „orientalische Barbarei versus abendländische Zivilisation“, wenn nicht gar in die Forderung, letztere müsse durch einen umfassenden Krieg verteidigt werden.

Zunächst scheint sich diese Regression des Denkens keinesfalls aus Abwegigem zu nähren: Im Anschlag und der Ideologie des islamischen Fundamentalismus, die ihn vermutlich hervorgebracht hat, ist nicht im Entferntesten eine Spur der Emanzipation zu erkennen, sondern ein aggressiver Antiamerikanismus, dem der Antisemitismus innewohnt. Doch der Versuch vieler Antideutscher, darüber hinaus anhand der notorischen Umdeutung imperialistischer Binnenkonkurrenz einen bruchlosen Antiamerikanismus und eine tiefe Verbundenheit mit dem Islam als zentrale Motive des hiesigen Mobs und seiner Eliten auszumachen, verfehlt die Dynamik einer Identitätspolitik, die sich zur Zeit alles andere als eine eindeutig antiamerikanisch Form annimmt. Die kollektive „Trauerarbeit“ der Deutschen, die permanente Anrufung eines „deutschen Volkes, das geschlossen hinter Amerika steht“(Gerhard Schröder), zeigt, wie das Deutschnationale durchaus auch als bedingungs- und besinnungslose Akzeptanz des „Garanten von Frieden und Freiheit“ (Friedrich Merz) gedeihen kann.

Die unbestreitbare Virulenz des Antisemitismus hingegen verweist zugleich darauf, das dieser auch ohne Antiamerikanismus funktioniert, zumal der Antiamerikanismus für den Antisemitismus auch historisch nicht konstitutiv war. In der Beziehung „der Deutschen“ zu den USA drückt sich – psychoanalytisch gesprochen – eher eine Ambivalenz gegenüber dem als „mächtiger“ wahrgenommenen aus, eine Hassliebe, der die Amerikaner sowohl als „Besatzer“, als auch als „Befreier“, sowohl als Vorbild, dessen Angriff letztlich auch uns treffen kann, als auch als Neidobjekt, das für die eigenen Versagungen verantwortlich sein soll, gelten. Diese Ambivalenz hat sich in Deutschland zu verschiedenen Zeiten mal im Anti-, mal im Proamerikanismus Bahn gebrochen.

Ein weiterer Extraprofit, den Deutschland aus der Tragödie zieht, liegt auf der Ebene des diskursiven Kampfes um die Deutungshoheit darüber, was das Böse und das Unzivilisierte seien. Der Antiorientalismus diente nach 1945 ähnlich wie der Antikommunismus dem Bedürfnis, die nationalsozialistische Barbarei und den eliminatorischen Antisemitismus, der in Deutschland auch bzw. gerade unter den Bedingungen des zivilisierten Abendlandes entstehen und gedeihen konnte, zu historisieren und zu relativieren. Die Konstellation des kalten Krieges war in dieser Hinsicht für Deutschland ein Geschenk des Himmels: Unversehens stand man plötzlich auf Seiten der Zivilisierten gegen das dunkle Reich des Ostens. Genau dieses Muster wird derzeit reaktiviert.

Hinkt also schon die antideutsche Analyse des deutschen Terrormanagements seinem realen Parforceritt hoffnungslos hinterher, entbehrt die Forderung, nicht gegen den Nato-Krieg, – der im Übrigen keineswegs Israel schützen wird – sondern für die Zivilisation zu votieren, vollends jeglicher Vernunft. Sie speist sich offenbar aus Versatzstücken einer Geschichtsphilosophie, die zu früheren Zeiten noch mit gutem Recht propagierte, dass die universelle Forcierung des Kapitalverhältnisses unweigerlich ein gesellschaftliches Bewußtsein von dessen Schranken und damit die Voraussetzung für seine Überwindung schaffe.

Doch wie oft mußte spätestens seit 1945 schmerzhaft reflektiert werden, dass das Voranschreiten des kapitalistischen Tauschprinzips nicht nur nicht zu revolutionärem Bewußtsein geführt hat, sondern auch – moderat ausgedrückt – Auschwitz nicht verhindert hat. Barbarei ist der Zivilisation kein äußerliches Moment, etwa im Sinne eines Defizit an Fortschritt, der nur universell, gewissermassen als nachholende Modernisierung weltweit durchgesetzt werden müsse. Das Aufkommen religiöser Fundamentalismen seit 1989 kann folglich nicht außerhalb dieser Totalität betrachtet werden.

Zwar ist der Islamismus nicht konstitutiv aus dem Kapitalismus zu erklären, aber allemal die Tatsache, dass er trotz weltgeschichtlicher Modernisierung nicht verschwindet. Es lassen sich viele Analogien zwischen einer blind wütenden Ökonomie und einer blindwütigen Idotie des Terrors ausmachen. Allerdings ist aus gutem Grund eine Differenzierung vorzunehmen, die vor allem eine Konsequenz aus dem Wissen um die spezifische (Nicht-)Ökonomie des nationalsozialistischen Judenmordes ist. Gemeint ist der beträchtliche „Unterschied zwischen Vernichtung als Zweck und Vernichtung als in Kauf genommenes, aber nicht bewußt angestrebtes Resultat“ (Horst Pankow, bahamas 36).

Und dennoch wäre es ideologisch, den Zusammenhang zwischen Fortschritt und Regression, der im Kapitalismus ein zwingender ist, zu zerreißen. Denn der Islamismus lässt sich „als Ideologie in einer ökonomischen Zusammenbruchsregion dechiffrieren, die vom Staatssozialismus nichts zu erwarten hatte und vom weltweiten Kapitalismus noch weniger. Er ist die Rechtfertigung des materiellen Elends als einfaches Leben des Volkes“, wie es in einem Flugblatt von Antideutschen aus Freiburg treffend heißt. Man ist geneigt, zu ergänzen, dass spätestens der Neoliberalismus nicht weit davon entfernt ist, die liberalistische Proklamation, wer zu kurz kommt, ist halt selbst schuld, in gleichem Sinne auszubuchstabieren.

Die Rede vom Glücksversprechen der Moderne, das gegen die islamische Bedrohung verteidigt werden müsse, garniert mit hipper Verbalerotik à la „Sherry statt Sharia“ (Andrea Albertini, Jungle World 36/01), scheint zur Zeit das veredelte Ticket für die Rückkehr in den Schoß der bürgerlichen Zivilisation darzustel- len. Diese Affirmation bürgerlicher Basisideologie blamiert sich allein schon an der Realität des Spätkapitalismus, dem jegliche Transzendenz abhanden gekommen ist, so es sie je gegeben hat. Das Bürgertum hat die Vorstellung vom guten Leben in Freiheit nicht erfunden, konnte sie aber effektvoll für sich reklamieren, gerade weil der entstehende Kapitalismus „Befreiung“ erforderte: nicht von aber zur (Lohn-) Arbeit, nicht gegen, sondern für repressive Vergleichung. Reichtum und Armut, demokratische Freiheit und repressiver Despotismus sind innerhalb seines Universums notwendigerweise jeweils Folge und Voraussetzung des anderen.

Allein schon der verengte Blick auf die am weitesten entwickelten Industriegesellschaften zeigt, dass die Steigerung der Produktivität in ihrer kapitalistisch gebannten Form notwendig regressiv verläuft und zunehmend Elend durch und ohne Arbeit sowie christlich reaktionäre Bewußtseinsformen hervorbringt. Was schon in der Binnenperspektive einer voll entwickelten kapitalistischen Nationalökonomie unmöglich ist, funktioniert im Weltmaßstab schon gar nicht. Den Kapitalismus aus der metropolitanen Perspektive zu bewerten, war schon immer eine Mogelpackung, denn es gibt ihn ganz oder gar nicht.

Gesellschaftlicher Fortschritt hingegen, verstanden als die Verwirklichung von Glück und Genuss bei einem Minimum an zwanghafter Arbeit, und zwar für alle, kann definitiv nicht (mehr) innerhalb der kapitalistischen Fortschrittslogik, sondern nur in ihrer anarcho-kommunistischen Negation gedacht werden. Das Verschwinden dieser Erkenntnis ist der Kern der Drohung: „Nichts wird mehr sein wie vorher.“ Sich nicht dumm machen zu lassen erfordert offenbar die Verteidigung des Banalen: Man kann über Sherry reden, man kann ihn aber auch einfach genießen – ohne den bitteren Beigeschmack der Affirmation.

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