MOZ, Nummer 50
März
1990
Die Leichenschändung von Timisoara:

Antigone, Graf Dracula und die Medien

Millionen von Menschen haben die erschütternden Bilder der Massengräber in Timisoara von der Grausamkeit der Ceausescu-Diktatur überzeugt. Jetzt stellt sich heraus: Es waren die falschen Leichen. Die Fotos waren gestellt.

Die Volkstribunen riefen es vom Balkon des Opernplatzes, heute Platz der Märtyrer: „Wir gehen nicht nach Hause, die Toten erlauben es uns nicht!“ (Nu plecam acasa, mortii nu ne lasa!) — und 100.000 Teilnehmer knieten nieder und forderten die Übergabe der Toten an die Angehörigen. Zunächst war keine Forderung nach freier Presse, Wahlen usw. zu hören. Die ganze Stadt (350.000 Einwohner) konnte, wie Antigone, die Tochter des Ödipus in der griechischen Mythologie, keinen Frieden finden, ehe die Toten begraben waren. Die unschuldigen Opfer gaben dem Volksaufstand Entschlossenheit, Halt und Legitimation. In der griechischen Tragödie der Antike waren der Sachverhalt und die Zahl der Toten überschaubar. In Timisoara (deutsch Temeschburg, ungarisch Temesvar) nicht.

Als Teilnehmer hatte man wenig Orientierungspunkte in dem Chaos, und man war auf die eigene Wahrnehmung, auf die Überlieferung der Nachbarn und auf die Berichterstattung der Medien angewiesen. Daß geschossen wurde und daß es Tote und Verletzte gab, nahm man unmittelbar wahr. Man fand Patronenhülsen und sah Blutspuren auf der Straße. Bei Gefechten unterschied man die ‚Guten‘ von den ‚Bösen‘, die schweren MG der Armee von den leichteren Waffen des Geheimdienstes. Die Dissidenten-Familie Tökés sei grausam geschlagen worden. Die schwangere Frau habe ihr Kind dabei verloren. Zwei Tage später sah ich im Fernsehen den Pfarrer. Kein Zeichen und kein Wort von Mißhandlungen. Seine Frau hat das Kind nicht verloren. Die Zahl der Toten wurde zwischen 100 und 10.000 geschätzt. Das „Freie Fernsehen Timisoara“ zeigte Verletzte von der Chirugischen Station des Kreiskrankenhauses Timis und machte Interviews mit Ärzten und Betroffenen. Junge Männer und Frauen erzählten, wie sie von Schußwaffen oder von Militärfahrzeugen verletzt wurden. Jeder hatte seine Geschichte, und der Zufall machte aus einigen Märtyrer. Der Chefarzt Prof. Calogera, die Stationsärzte und das Pflegepersonal waren Herr der Lage. Die Anzahl der Schwerverletzten oder der erwähnten Toten war auffällig gering. Es gab im Fernsehen kein Bild aus der Folterkammer der Securitate. Dieser Mangel wurde auf dem Armen-Friedhof von den Medien aufgehoben. Auch Dr. Copaceanu war während der Revolution mit der Kamera unterwegs. Er gab mir Fotos, die er zusammen mit Fotojournalisten aus aller Welt auf dem Friedhof aufgenommen hatte. Eine tote Frau mit Kind, Leichen junger Männer waren unwiderlegbare Anklage gegen die Regierenden, die gehaßte Securitate.

Nach meiner Rückkehr in den Westen sah ich, daß diese Aufnahmen vom Friedhof zu Bildern des Jahres geworden sind. Die tote Frau mit Kind war in allen Illustrierten der Welt nach Weihnachten zu sehen. In ‚Das war 1989‘, dem Jahrbuch des STERN, sind „zwei Füße eines Toten, mit rostigem Draht zusammengebunden — ein Folteropfer des Geheimdienstes“ in Farbe lebensgroß (26/32 cm) abgedruckt. An den Füßen sind keine Wunden oder eingedrückten Stellen zu sehen. War der rostige Draht den Leichen nach der Exhumierung angebunden worden?

Damals, als bei jedem Schritt und Tritt Gefahr drohte, suchte man begierig und war dankbar für jede Information. Heute darf man auch das Fotomaterial kritisch überprüfen.

Die rumänische Tageszeitung „Renasterea Banateana“ aus Timisoara hat am 18. Januar 1990 eine erste Liste mit den Opfern des Aufstandes veröffentlicht: 90 Tote durch Schußwaffen, davon 71 identifiziert und 33 vermißte. „Le Figaro“, „Le Monde“, „Libération“, „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „RTL-Plus“ berichten, daß die Leichen, die während der Weihnachtsrevolution in Timisoara aus Massengräbern exhumiert wurden, nicht Opfer der Securitate gewesen waren. Die Bilder, die am 27. Dezember 1989 um die Welt gingen, waren mißbraucht und/oder verwechselt. Welche Rolle spielten bei der makabren Inszenierung die ‚freien rumänischen‘ oder westlichen Medien?

Bei dem Massaker vom 17. Dezember 1989 waren höchstens 150 Menschen von der Securitate getötet worden. Das Leichenschauhaus in Timisoara habe 96 Tote des Blutbades registriert. 40 Leichen seien Opfer des Geheimdienstes gewesen, der sie verschwinden lassen wollte. Prof. Milan Dressler, Gerichtsmediziner des Bezirks Timisoara, stellte weiter in einem Bericht für „Le Figaro“ fest: Die während der Revolution auf dem Friedhof ausgegrabenen Toten seien Leichen von Landstreichern, Armen und Neugeborenen gewesen. Die genähten Stellen an Thorax und Abdomen waren durch die Autopsie entstanden und sind keine Zeichen von Folterungen. In Rumänien wird jeder Tote von Pathologen untersucht, unabhängig von der Todesursache. Sie wurden dort rechtmäßig in Massengräbern beigesetzt. Ist Leichenschändung für einen guten Zweck, während einer Weihnachtsrevolution erlaubt?

Zu den grausamen Bildern der exhumierten „Frau mit Kind“ und der „gefolterten Männer“: Die Frau starb in Folge einer Alkoholvergiftung, und die Leiche des Kindes gehörte nicht zu ihr. Sie haben nicht an der Weihnachtsrevolution teilgenommen und waren nicht gefoltert worden, das haben mittlerweile Gerichtsmediziner aus Timosoara klargestellt. Die Drähte, mit denen die Beine der Leichen der Mäner umwickelt waren, müssen nach der Exhumierung angebracht-worden sein, und zwar mit dem rostigen Zaun des Armen-Friedhofes. Die Leichen sind vor der Revolution legal beigesetzt worden. Wer hatte ein Interesse daran, daß die Bilder der auf natürliche Weise Verstorbenen um die Welt gingen?

Seit Jahrhunderten spukt die Dracula-Legende durch die Medien. Im gemeinsamen europäischen Haus, das Gorbatschow und Bush nun dem alten Kontinent vom Atlantik bis zum Ural anbieten möchten, wird es auch weiterhin ein Apartement in den Karpaten geben, das dem Graf Dracula und seinen Vampiren reserviert ist. Der Untote hat keine feste Gruft, seine letzte Inkarnation Ceausescu übrigens auch nicht, und, wie in der Legende, gefällt es ihm, das Blut seiner Untertanen, vorwiegend in Transsylvanien, zu saugen, und er läßt auch die Toten nicht in Ruhe. Die Leichenschändung der Medien von Timisoara paßt in das Überlieferte.

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