Café Critique, Jahr 2004
Januar
2004

Das Rätsel der Macht

Manfred Dahlmann über Michel Foucault

Das Rätsel der Macht

Michel Foucaults unfreiwillige Anthropologie
von Manfred Dahlmann
(aus: BAHAMAS 26/1998)

Bezeichnend für das Denken von Foucault ist dessen Leitfaden für das Alltagsleben, den er nach der Lektüre des Anti-Ödipus von Deleuze/Guattari zusammengestellt hat:

  1. Befreie die politische Aktion von jeder vereinheitlichenden und totalisierenden Paranoia!
  2. Verweigere den alten Kategorien des Negativen (das sind Gesetz, Grenze, Kastration, Mangel, Lücke), die das westliche Denken so lange als eine Form der Macht und einen Zugang zur Realität geheiligt hat, jede Gefolgschaft! Gib dem den Vorzug, was positiv ist und multipel, der Differenz vor der Uniformität, den Strömen vor den Einheiten, den mobilen Anordnungen vor den Systemen! Glaube daran, daß das Produktive nicht seßhaft ist, sondern nomadisch!
  3. Denke nicht, daß man traurig sein muß, um militant sein zu können – auch dann nicht, wenn das, wogegen man kämpft, abscheulich ist! Es ist die Konnexion des Wunsches mit der Realität (und nicht sein Rückzug in Repräsentationsformen), die revolutionäre Kraft hat.
  4. Gebrauche das Denken nicht, um eine politische Praxis auf Wahrheit zu gründen – und ebensowenig die politische Aktion, um eine Denklinie als bloße Spekulation zu diskreditieren! Gebrauche die politische Praxis als Intensifikator des Denkens und die Analyse als Multiplikator der Formen und Bereiche der Intervention der politischen Aktion!
  5. Verlange von der Politik nicht die Wiederherstellung der ’Rechte’ des Individuums, so wie die Philosophie sie definiert hat! Das Individuum ist das Produkt der Macht. Viel nötiger ist es, zu ’ent-individualisieren’, und zwar mittels Multiplikation und Verschiebung, mittels diverser Kombinationen. Die Gruppe darf kein organisches Band sein, das hierarchisierte Individuen vereinigt, sondern soll ein dauernder Generator der Ent-Individualisierung sein.

Und schließlich:

 6. Verliebe dich nicht in die Macht!

Weil es so etwas wie eine Zusammenfassung seines Selbstverständnisses ist, sei noch eine längere Stelle zitiert:

Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und Kraftlinien kenntlich macht, der fortwährend seinen Ort wechselt, nicht sicher weiß, wo er morgen sein noch was er denken wird, weil seine Aufmerksamkeit allein der Gegenwart gilt; der, wo er gerade ist, seinen Teil zu der Frage beiträgt, ob die Revolution der Mühe wert ist und welche (ich meine: welche Revolution und welche Mühe), wobei sich von selbst versteht, daß nur die sie beantworten können, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um sie zu machen.

Foucault also geht es um die Zerstörung von Evidenzen und Universalien. Sein Motiv ist eindeutig: Diese Evidenzen und Universalien – dazu zählt er etwa die in den Wissenschaften produzierten Wahrheiten und Begriffe – gelten ihm als Orte, von denen aus die Macht ihre Herrschaft ausübt. Gegen diese, in Allgemeinbegriffen repräsentierte Macht gilt es unter Einsatz des Lebens zu kämpfen.

Der Machtbegriff von Foucault umfaßt zwei Ebenen: Die erste ist die konzeptionelle, ist das ’Analyseraster einer Mikrophysik der Macht’. Hier geht es um das Verhältnis der ’lokalen Mächte zur allgemeinen Macht’, um die Beziehung der Mächte zu ihrem Außen – den Körpern – sowie um die Konsequenzen für die Analyse, die in dieser Konzeption von Macht enthalten sind: vor allem um die Subjektlosigkeit der Macht und um den Positivismus, den Foucault seiner Mikrophysik der Macht zugrundelegt. Die zweite Ebene wäre dann die Mikrophysik der Macht selber, also, wie man sich früher einmal ausgedrückt hat, die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft.

Macht und Mächte

Zuerst einmal wäre also zu klären, was Foucault eigentlich unter Macht versteht. Hier gibt er freimütig zu, eigentlich nicht zu wissen, was die Macht ist. Seit Marx wisse man zwar, was Ausbeutung sei, aber schon der Begriff Herrschaft sei unklar, da keiner wisse, von wo aus sich die Macht bestimmt. Die Tatsache allerdings, daß die Macht existiert, kann nicht geleugnet werden. Und, so Foucault weiter, bevor wir wissen können, was die Macht ist, müssen wir uns darüber verständigen, auf welche Art und Weise sie wirkt. Foucault geht es um das ’Wie’ der Macht – und erst in zweiter Linie erst um ihr ’Was’.

Dem Dilemma, Wirkungen analysieren zu wollen, ohne zu wissen, was die ihnen zugrundeliegende allgemeine Ursache ist, entzieht sich Foucault mit einem Verfahren, das so alt ist wie die Wissenschaft: Zur Anleitung der Forschungspraxis wird eine Hypothese formuliert, um im Verlauf des Forschungsprozesses herauszufinden, ob sich mit der Ausgangshypothese arbeiten läßt, ob sie modifiziert oder von einer anderen abgelöst werden muß. Der Inhalt der Ausgangshypothese ist für dieses Verfahren völlig ohne Belang. Etwa auch der Satz, daß der Urbaustein der Materie aus grünem Käse besteht, kann, vom Prinzip des kritischen Rationalismus aus gesehen, bekanntlich durchaus die Funktion erfüllen, einen Forschungsprozeß sinnvoll anzuleiten.

Als eine solche Konstruktion – Foucault nennt dies seinen Nominalismus – versteht er seinen Machtbegriff, und seine Arbeiten sollen den Einsatz zu einem allumfassenden Spiel abgeben, einen Einsatz, der schließlich zeigen soll, ’ob man so denken kann’.

Macht also ist, zuerst einmal, nichts weiter als ein Name, ist nicht mehr als ein Zeichen, mit dem ’komplexe strategische Situationen’ belegt werden sollen. Ein wichtiger Unterschied der Konstruktion von Foucault zu den gängigen ist hier allerdings festzuhalten; und in diesem Unterschied liegt so etwas wie ein Glanz verborgen, der in all dem Elend seiner Konzeption von Macht steckt; denn im Gegensatz zum Wissenschaftsbetrieb heutzutage macht er mit seinem Nominalismus ernst. Er problematisiert ein Verhältnis, das der Wissenschaft schon lange kein Problem mehr ist: Äpfel und Birnen zusammengenommen heißen Obst – der Allgemeinbegriff Obst enthält, unter anderen, Äpfel und Birnen als seine konkreten Bestimmungen in sich. In dieser Abstraktion vom Besonderen zum Allgemeinen nun aber ein Problem zu sehen, das mit Macht, mit Herrschaft, mit Ausbeutung auch nur im entferntesten zu tun hat, dies gilt der Wissenschaft, seit sie die theologische Scholastik überwunden hat, nachgerade als lächerlich.

Foucault dagegen erkennt, daß zumindest dort, wo es nicht um den Allgemeinbegriff Obst, sondern um den der Macht geht, im Verhältnis der je besonderen Kräfte zu ihrer Verallgemeinerung in einer einheitlichen Macht ein Problem steckt, das mit dem Verweis auf die bloße Formalität von Abstraktion nicht in den Griff zu bekommen ist.

Macht als Allgemeinbegriff – als ’nominale Konstruktion’ – ist also bei Foucault erst einmal zu verstehen als ’Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren’. Mittels der, wie er sie nennt, archäologischen Forschungen in abgelegenen Archiven, würde jedem Ereignis die gleiche Bedeutung gegeben werden (hier hat im übrigen die poststrukturale Beliebigkeit ihren Ausgangspunkt, eine Basis allerdings, die logisch natürlich längst in der Warenform angelegt ist, das aber nur am Rande). Diese Archäologie soll nun den Prozeß rekonstruieren, in dem es den einzelnen Mächten schließlich gelingt, sich miteinander zu einer Einheit zu verbinden. Das Ergebnis wäre dann die Mikrophysik der Macht, die deutlich werden lassen soll, daß das, was als Errungenschaften der abendländischen Zivilisation gilt: Individualität, Sozialität, Wahrheit, Wissenschaft, Technologie usw. nichts weiter ist als das Resultat der Verkettung einzelner Mächte zu einer einheitlichen, den modernen Gesellschaftskörper beherrschenden und ihn durchziehenden ’Strategie der Macht’.

Bevor anhand der konkreten Analysen nachvollzogen werden kann, wie Foucault dieses Konzept einlöst, wäre auch schon auf das Elend hinzuweisen, dem er sich ausgeliefert hat, als er den Machtbegriff in dieser Form seinen ’nomadischen Untersuchungen’ zugrundelegte. Dieses Elend ist, wie der Glanz, Resultat derselben Konsequenz, mit der er seinen Nominalismus durchzuhalten bemüht ist: Wo Allgemeinbegriffe wie Gesellschaft, Staat, Wahrheit, Natur etc. ausschließlich als Resultate von Machtverhältnissen begriffen sind, ist es nur konsequent, sich gegen jede Theorie zu wenden, die die herrschende Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit auf den Begriff bringen will. Der Hegelianismus etwa gilt Foucault als das Grundübel abendländischen Denkens – denn im hegelianischen Diskurs (und damit auch dem marxistischen) hat die Macht sich laut Foucault besonders effektiv zu einer einheitlichen Strategie verketten können. Und die Konsequenz seines Nominalismus (und seiner in der Tradition der sprachanalytischen Philosophie stehenden Weigerung, zwischen Namen/Begriff und Gegenstand zu differenzieren [1]) zwingt ihn, von seinen Analysen zu behaupten, daß ihnen kein einheitlicher, aufs Ganze zielender Charakter zuzusprechen sei. Wo jeder Allgemeinbegriff das Resultat der Vereinheitlichung je besonderer Mächte zum Zwecke der Steigerung und Effektivierung von Macht ist, dort muß derjenige, der gegen diese allgemeine Macht kämpft, auf jede Theorie, auf den ’allgemeinen Diskurs’ überhaupt, verzichten. Folgerichtig gehört das Bedürfnis nach Theorie für Foucault noch zu dem System, ’von dem man genug hat’.

Foucault ist sich des Dilemmas, dem er sich mit seinem Machtbegriff aussetzt, durchaus bewußt – und mit einem Erfindungsreichtum, der seinesgleichen sucht (und nur noch von seinen Plagiatoren übertroffen werden dürfte), versucht er eine umfassende Mikrophysik der Macht vorzulegen, die sich beständig dagegen sträubt, als eine einheitliche, ganzheitliche Theorie zu erscheinen, als eine Theorie, der ein inhaltlicher Allgemeinbegriff, der ein reales Subjekt, etwa die Macht, zugrundeläge.

Macht und Körper

Das Dilemma Foucaults ist die Bestimmung des Verhältnisses von besonderen, lokalen Mächten zu ihrer Einheit als allgemeiner Macht. Als Einheit ist Macht von ihm doppelt bestimmt: einmal bloß nominal, als Forschungshypothese, und einmal real, als geschichtlich gewordene Einheitlichkeit der Macht in der bürgerlichen Gesellschaft. Nun ist sich Foucault darüber klar, daß man Mächte nicht voneinander unterscheiden kann, wenn es außerhalb dieser Mächte nichts gibt, womit das Spezifische einer Macht bestimmt werden kann. Jede Analyse muß auf mindestens einer Differenz, auf mindestens einer Verdopplung beruhen, sonst bewegt sie sich in Tautologien. Es muß etwas geben, was außerhalb der Mächte steht, etwas, das es überhaupt erst erlaubt, die eine Macht von einer anderen zu unterscheiden.

Die Verdopplung, auf die Foucault sich beständig beruft, um Tautologien zu vermeiden, ist, daß er den Mächten Körper gegenüberstellt. Körperlichkeit steht bei ihm für all das, was nicht zur Ordnung der Macht gehört. Körperlichkeit ist dabei zwar immer als das Außen der Macht gedacht: Macht und Körper sind aber nicht als Gegensätze zu verstehen, als Gegensätzlichkeit in der Form, daß ’in den Körpern Freiheit stecke, in der Macht dagegen Zwang’. Vor allem ist diese Verdopplung nicht als bloße Umformulierung der alten philosophischen Verdopplung in Subjekt (etwa: die Macht) und Objekt (hier: die Körper) gedacht. Die Spaltung der Welt in Subjektivität, die üblicherweise für Freiheit, Irrtum, Gefühl, Individualität oder anderes steht, und Objektivität, womit meist Wahrheit, Natur, Gesetzlichkeit, Gesellschaftlichkeit oder auch Zwang verbunden wird: all diese Verdopplungen und Gegensätze begreift Foucault als Ausdruck spezifischer Machtstrategien, als Verfestigungen, als Dispositive, die in einer je spezifischen Weise und an einem ganz spezifischen Ort eine Verbindung mit den ihnen äußerlichen Körpern eingegangen sind. Weder die Macht noch die Körper können unabhängig voneinander untersucht werden. Untersucht werden kann immer nur die Art und Weise, in der Körper und Macht eine spezifische Verbindung eingegangen sind. (So wie bei Marx Gebrauchswert und Tauschwert eine Einheit in ihrer Differenz bilden und so den Wert konstituieren.) [2]

Von dieser für seine Mikrophysik grundlegenden Verdopplung der Welt in Mächte und Körper meint Foucault nicht weniger, als daß er auf diesem Wege das gesamte Denken der abendländischen Zivilisation vom Kopf auf die Füße stellen kann. Diese Grundlegung soll es ihm erlauben, eine ’politische Geschichte der Wahrheit’ zu schreiben, eine Geschichte, die ohne Wahrheitsbegriff auskommt, die auf Metaphysik, Transzendenz und Ontologie verzichten kann, die sich also ohne Rückgriff auf absolute, nicht weiter erklärbare, für evident gehaltene Wahrheiten darstellen kann. Vor allem will sie nicht darauf angewiesen sein, gegenwärtigen und vergangenen Prozessen ein allgemeines Subjekt unterstellen zu müssen. Kein Gott, kein Gesetz, keine Natur, kein Souverän, keine Klasse und erst recht kein Mensch ist Subjekt der Geschichte. Insbesondere aber – dies ist der eigentliche Zweck seiner nominalistischen Konstruktion von Macht – stellt auch die Macht selbst nicht das historische Subjekt dar. Die Geschichte wird nicht regiert – sie regiert sich selbst in einem ungeregelten, an sich chaotischen Prozeß ohne Anfang und Ziel, einem Prozeß, der sich allerdings für eine bestimmte Zeit wie der heutigen zu einer einheitlichen Strategie verketten kann, ohne daß dieser Strategie aber ein Stratege als Subjekt unterstellt werden müßte. Souveränität etwa – die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Willkür eines allmächtigen Herrschers – war eine solche vorübergehende Verkettung von Macht im Mittelalter und im Absolutismus. Die bürgerliche Gesellschaft dagegen sei vom Fehlen dieser Souveränität gekennzeichnet – und dies zeige, daß Macht sich vereinheitlichen kann, ohne daß dieser Macht ein Subjekt unterstellt werden muß.

Der Körper – und hierunter ist nicht etwa nur der menschliche Leib zu verstehen, auch die Gesellschaft bildet unter Umständen einen Körper – spielt in Foucaults Konzeption dabei dieselbe Rolle für die Macht, wie das ’Ding an sich’ bei Kant für die Vernunft. Er muß als existierend vorausgesetzt werden; Aussagen über ihn können aber nur durch die Machtbeziehungen hindurch formuliert werden. Damit ist auch schon der wesentliche Unterschied von Körper und ’Ding an sich’ benannt: Kant zieht aus der Unerkennbarkeit des ’Dinges an sich’ den Schluß, daß ihn dieses überhaupt nicht weiter zu interessieren habe. Er wendet sich der Vernunft zu und überantwortet die Rätselhaftigkeit dieses ’Dinges an sich’ den Theologen und anderen Okkultisten. Bei Foucault dagegen muß das Rätsel der Körperlichkeit – abstrakt als existierend vorausgesetzt werden zu müssen, konkret aber nur durch Machtbeziehungen hindurch erkannt und entdeckt werden zu können – zum wesentlichen Gegenstand seiner Analysen avancieren. Jeder von ihm entwickelten Kategorie wie etwa Zeichen, Dispositiv, Natur, Vergegenständlichung, Diskurs, ja alle seine Begriffe, etwa die vom Sex, von der Seele, von Gesellschaft, Staat, Lust, Gefühl sind nur zu verstehen, wenn in ihnen die Verdopplung von Macht und Körper mitgedacht wird. Die Kategorien von Foucault bezeichnen also nie Gegenstände, wie man etwa, scheinbar problemlos, einen Tisch alltagssprachlich als einen Gegenstand begreift. Vielmehr liegt jeder Kategorie eine Relation zugrunde, eine Beziehung zwischen Macht und Körper. Seine Begriffe bezeichnen, wie Foucault sich ausdrücken würde, einen Knoten in einem Netz, in dem beständig neue Knoten geknüpft und alte gelöst werden.

Die Verdopplung in Mächte und Körper zeitigt für Foucaults Analysen eine entscheidende Konsequenz: Wo es allein um ein historisches, subjektloses Verhältnis der Mächte zu den ’ihrer Objektivität entkleideten Körpern’ geht, gibt es kein subjektives oder objektives Kriterium mehr, das irgend etwas als negativ, als schlecht, als böse, als häßlich oder sonstwie werten kann. Jede Negation kann, wie das Subjekt/Objekt-Verhältnis selbst, wiederum nur als Ausdruck eines spezifischen Machtverhältnisses betrachtet werden – etwa als der Widerstand der einen lokalen Macht gegen eine andere. Für die Analyse der Macht heißt das, daß alle Kategorien des Negativen (vor allem der Begriff der Kritik – wie immer auch verstanden) am Problem der Macht vorbeigehen müssen. Wer wie Foucault konsequenter Nominalist sein will und diesem Nominalismus die Verdopplung von Macht und Körper zugrundelegt, der muß Positivist sein – muß einen Positivismus vertreten, der den empirischen Positivismus der Naturwissenschaften, und mit ihm die Identitätslogik und Objektivitätswirkung des Geldes, rigoros auf alle Phänomene und Ereignisse überträgt.

Die Norm und die Disziplinen

Dieser rigorose Positivismus macht die Faszination Foucaults für seine Jünger aus: Gilt er doch der bürgerlichen Schicht, die im Kapitalismus die Rolle zu erfüllen hat, die kapitalistische Wirklichkeit mit den Idealen zu vermitteln, die das Kapital aus sich freisetzt – also den Intellektuellen – als einer, der streng empiristisch, also mit dem unmittelbaren Verweis auf die Fakten, argumentiert. Gerade die linke Fraktion des Berufsstandes der Vermittler ist ja bekanntlich strikt antiintellektualistisch, theoriefeindlich ausgerichtet: mit Foucault (und heute besonders Derrida) glaubt sie, jemanden gefunden zu haben, der ’die Differenzen’ aus dem Korsett der allumfassenden Theorie befreit habe. [3] Die für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entscheidenden Mächte sind Foucault zufolge die Disziplinarmächte. Ihre Wirkungsweise erscheint als anonyme Strategie, die deshalb so erfolgreich sein konnte, weil die Disziplinarmächte mit einfachsten Instrumenten unerschöpfliche Gestaltungsmöglichkeiten entfalten können. Ihre Instrumente sind der Panoptismus und die Normierung. Mittels dieser Instrumente wird jeder Körper immer enger an die neuen Mächte gebunden, wobei den anderen Mächten immer mehr der Boden entzogen wird.

Die Verfahren der Disziplinarmächte arbeiten im wesentlichen nicht mit dem Recht, sondern mit der Technik, nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern mit der Kontrolle und vollziehen sich auf einer Ebene und in Formen, die sowohl über die Ökonomie als auch über den Staat und seine Apparate hinausgehen.

Die von den Disziplinen bewirkte konkrete Dressur aller nutzbaren Kräfte vollzieht sich somit hinter der großen Abstraktion des Tausches – und nicht in dieser. Und dem Gesellschaftsvertrag, als der idealen Grundlegung des Rechts und der politischen Macht, gibt das Zwangsverfahren der Disziplinierung von unten her seinen Inhalt. Die Aufklärung, welche die Freiheit entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.

Das juristische System staatlich garantierter Gleichheit und Freiheit der Individuen ist nicht das Resultat ökonomischer Prozesse, sondern das Ergebnis einer historischen Transformation der Machttechniken: ist Ergebnis der Disziplinarmächte, die die Machttechniken, die dem feudalen Souveränitätsprinzip entsprangen, ablösten. Das Kennzeichen dieser Disziplinarmächte ist, daß es ihnen weniger um Ausbeutung als vielmehr um Synthese, weniger um Entwindung des Produkts als um Zwangsbindung an den Produktionsapparat geht. Ziel dieser Disziplinarmächte ist die Vermehrung der ihr eigenen Kräfte und die der Gesellschaft – und zwar so, daß die Gesellschaft nicht enteignet und deren Kräfte nicht gefesselt werden.

Der Panoptismus ist die Lösung des Problems, die Macht steigern zu können auch und gerade dort, wo sie sich selbst unsichtbar macht. Der feudale Souverän konnte seine Macht nur ausüben, indem er die Körper unmittelbar in seine Gewalt nahm. Er mußte den von ihm beherrschten Körpern die Zeichen seiner Überlegenheit aufbrennen und diese Überlegenheit immer wieder neu beweisen. Als unsichtbare Macht kann der Panoptismus auf die jähen, gewalttätigen und lückenhaften Verfahren feudal-souveräner Machttechniken verzichten und dringt dennoch bis in die elementarsten und feinsten Bestandteile der Gesellschaft ein.

Im Kerkernetz der Institutionen

Architektonisch, also gegenständlich wurde der Panoptismus im Gefängnis entwickelt und erprobt. Die Körper der Gefangenen wurden auf einen einzigen Ort hin ausgerichtet, von dem aus jeder Gefangene gesehen werden konnte – die Gefangenen selbst aber sahen den Aufseher nicht. Die Gefangenen wußten also nicht, wann, und ob sie überhaupt beobachtet wurden – sie wußten nur, daß sie an jedem Ort und zu jeder Zeit, der Möglichkeit nach, gesehen werden konnten. Dieses Zusammenspiel von Wissen und Nicht-Wissen ist die Grundlage, auf der die Gefangenen ihre Körper nach außen hin disziplinieren, um den Aufsehern so wenig wie möglich Gründe zum Eingreifen zu geben. Diese Disziplinierung ist aber andererseits wiederum die Grundlage dafür, daß der Aufseher sich mittels Beobachtung, Registrierung und Strukturierung ein Wissen von den Körpern der Gefangenen und deren Verhaltensweisen aneignen kann, ein Wissen, das ihm die Aufgabe der Überwachung immer mehr erleichtert.

Der allgemeine, den zeitgenössischen Gesellschaftskörper abstrakt durchziehende Panoptismus ist das Ergebnis dieser vom Strafvollzug ausgehenden, sich dann in anderen Disziplinareinrichtungen wie dem Militär, der Schule, den Spitälern, den Irrenanstalten usw. verallgemeinernden, vielfältigen Beobachtungs- und Registrierungsmechanismen, die nichts anderes verfolgen als zu katalogisieren und zu strukturieren. Er gewinnt schließlich an Wirksamkeit und dringt immer tiefer in das Verhalten der Menschen ein. Auf jedem Machtvorsprung – bildlich gesprochen in jedem Aufseher – sammelt sich ein Wissen an und deckt an allen Oberflächen, an denen sich Macht entfaltet, neue Erkenntnisgegenstände auf. Ausgehend von vereinzelten, diskreten Verfahren verallgemeinern sich historisch die Techniken der Disziplinarmächte und erzeugen den Effekt einer einheitlichen Strategie.

Die Disziplinen, erprobt in den verschiedenen Modellen des Strafvollzuges, welche im 18. Jahrhundert entwickelt wurden, dringen in die innerfamiliären Beziehungen, in die Verwaltungsapparate und sonstigen Institutionen ein und ändern den Charakter dieser Apparate selbst: Diese haben von jetzt an weniger die Aufgabe, den Souverän zu repräsentieren, also zu verkörpern, sondern die, die Disziplinierungstechniken im Gesellschaftskörper zu verallgemeinern. Sind die Körper schließlich allseits diszipliniert, können die Mächte auf ihre körperliche Präsenz verzichten: die Aufseher, und in ihrem Gefolge die Souveränität selbst, können die Bühne verlassen.

Das Kerkernetz von Institutionen (vom Sparverein bis zur Arbeitersiedlung), in denen hauptsächlich die Unterklassen dressiert wurden, oder genauer: die darauf basierende Machttechnik, verdrängt andere, unproduktivere Mächte und wird universell. Nicht alle alten Machttechniken werden dabei verdrängt: die Disziplinarmacht tritt zu anderen, schon bestehenden hinzu, erzwingt aber neue Grenzziehungen. Sie tritt hinzu zur Macht des Wortes und des Textes, zur Macht des Gesetzes, zur Macht der Tradition.

In den Disziplinen kommt schließlich die Macht der Norm zum Durchbruch. Dient der Panoptismus dazu, die Körper beobachten, registrieren und differenzieren zu können, so stellt die Norm die Ersetzung des Aufsehers dar, auf den hin die Körper differenziert werden. Jede Normalisierungsmacht ist doppelt bestimmt: Einerseits zwingt sie zur Homogenität – was seinen umfassendsten Ausdruck im System der formellen Gleichheit findet –, andererseits wirkt sie – in Verbindung mit dem Panoptismus – individualisierend, da von ihr aus Abstände gemessen, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abgestimmt werden können. Und das Hauptziel aller Verfahren der Disziplinierung und Normalisierung ist die Individualisierung, die durch den Abbruch jeder Beziehung, die nicht von der Macht kontrolliert oder hierarchisch geordnet ist, hervorgerufen wird.

Von einer einheitlichen, also von der Macht darf erst gesprochen werden, wenn sie als historisch gewordene Einheitlichkeit den gesamten Gesellschaftskörper durchzieht. Einzelne lokale Mächte, denen gemeinsam ist, daß sie die Körper disziplinieren, wo die anderen Mächte die Körper gewaltsam unterwerfen, haben sich nun zu einer gemeinsamen Finalität, zu einer einheitlich wirkenden, auf eine einheitliche Norm hin bezogenen Strategie verketten können. Und das Kennzeichen dieser Strategie ist, daß es sich in ihr um Machtmechanismen handelt, die nicht durch Abschöpfung oder Ausbeutung wirken, sondern durch Wertschöpfung. An die Stelle des Prinzips Gewalt und Beraubung setzen die Disziplinen Milde, Produktion und Profit.

Es stellt sich die Frage, wie in die Disziplinarmächte die Zielgerichtetheit, die Finalität also, hineinkommt, die es erst erlaubt, überhaupt von Strategie zu sprechen. In Interviews auf dieses Problem angesprochen, antwortete Foucault immer wieder ausweichend: man wisse nicht, wer die Macht eigentlich hat, aber man wisse, wer sie nicht hat: Es gibt keine Person und keine Klasse, von der die Macht ausginge. Beispielhaft führt er dazu aus, daß etwa das Gefängnis einen Effekt produziert, der im vorhinein absolut nicht vorgesehen war und der nichts zu schaffen hat mit der strategischen List irgendeines meta- oder transhistorischen Subjekts, das ihn geahnt oder gewollt hätte. Die bürgerliche Klasse habe die Strategie der Disziplinierung auf jeden Fall nicht erfunden und der Arbeiterklasse aufgezwungen. Die Bourgeoisie habe zwar durch alle Arten von Mechanismen und Institutionen hindurch (etwa den Parlamentarismus, die Informationsverarbeitung, die Verlage, die Handelsmessen, die Universitäten usw.) groß angelegte Strategien erarbeiten können – ohne daß es indessen not täte, ihnen ein Subjekt zu unterstellen. Die massive Übernahme von militärischen Methoden in die industrielle Organisation sei ein Beispiel dafür, wie sich die neuen Mächte realisieren, ohne daß hier eine Klasse wie die Bourgeoisie als Subjekt dieses Prozesses unterstellt werden müßte.

Die Priorität bei Foucault ist klar: Im Verhältnis einzelner Mächte zueinander entwickelt sich eine Strategie, die dann von den Trägern des industriellen Produktionsprozesses nutzbar gemacht wurde. Damit konnte die Bourgeoisie ihre Macht steigern – ohne sie jedoch zu besitzen. Darüber hinaus wird auch die Bourgeoisie selber von diesen Mächten diszipliniert, wenn auch, dies gesteht Foucault zu, in einer anderen Weise als das Proletariat.

Der Wissensdiskurs

Die Form, in der jede Macht – ob als Disziplinarmacht oder als eine andere – es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verfahrensweisen vorzudringen, ist der Diskurs. Auf den Diskurs als ihren Träger sind alle Mächte angewiesen. Die Diskurse sind die strategischen Elemente, mithilfe derer die Mächte als Mächte erst erkennbar werden.

In den Diskursen der verschiedenen Disziplinarmächte wird, wie oben schon gesehen, Wissen erhoben, erzeugt und formiert. Aus einer Kombination von Panoptismus und Normalisierung wird das Prüfungsverfahren entwickelt, das die Verallgemeinerung und vor allem die Objektivierung des in den Disziplinen erzeugten Wissens erst ermöglicht.

Erst durch das Überziehen des Gesellschaftskörpers mit den verschiedensten Prüfungsverfahren wird ein abrufbereites, allgemeines und daher objektiviertes Wissen konstituiert. Mit den Prüfungen entstehen die Humanwissenschaften und mit ihnen tritt man in das Zeitalter der unbegrenzten Überprüfung und der zwingenden Objektivierung ein. Das oben schon angesprochene Kerkernetz bildet das Arsenal des Komplexes aus Macht und Wissen, der die Humanwissenschaften geschichtlich ermöglicht hat. Der erkennbare Mensch (seine Seele, seine Individualität, sein Bewußtsein, sein Gewissen, sein Verhalten usw.) ist Effekt der von den Disziplinen ermöglichten analytischen Erfassung der Körper.

Diesen neuen Wissenschaften vom Menschen ist gemeinsam, daß der Mensch nicht mehr als Gattungswesen betrachtet wird, sondern als Individuum. Die Aufzeichnungs- und Registrierungsverfahren, die Überprüfungsmechanismen, die Formierung der Disziplinaranlagen, die Herausbildung eines neuen Typs von Macht über die Körper, haben die Körper erst als Individuen in das Feld des Wissens eintreten lassen. In jenen ruhmlosen Archiven, in denen das moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet worden ist, hat sich die Geburt der Wissenschaften von den Menschen zugetragen. Zu Recht weist Foucault darauf hin, daß die empirischen Verfahren, auf die sich diese Wissenschaften wie auch die Naturwissenschaften stützen, in den Gerichtsverfahren der Inquisition erarbeitet und entwickelt worden sind.

Das Besondere dieser Erarbeitung von Wissen ist nun, daß die Wissenschaften vom Menschen beständig nach etwas Geheimem fragen, daß sie immer etwas entdecken wollen, was hinter den besonderen, empirischen Erscheinungen steckt. Foucault geht nun davon aus, daß es das, wonach diese Wissenschaften fragen, das Geheime, das Wahre, das Wesen hinter den Erscheinungen gar nicht gibt. Vielmehr seien es die Fragen der Wissenschaft selbst, die das produzieren, was sie dann auch finden.

Individualität etwa ist demnach das Ergebnis der Fragen der Wissenschaft nach Individualität, ist also nichts, was den Körpern von Natur aus eigen ist. Ähnlich verhält es sich mit der Seele: sie entsteht als inneres Gegenstück zu der den Körpern von außen aufgezwungenen Disziplin: Hier wird sie produziert, um dann von den Psychologen für die Macht genutzt werden zu können.

Als Modellfall für dieses zirkuläre Wechselspiel der Produktion und späteren Entschleierung von Geheimnissen gilt Foucault die Freudsche Verdrängungshypothese, gegen die er seine Anti-Repressionshypothese entwickelt: Indem die Psychoanalyse beständig nach dem Unbewußten fragt, indem sie ständig über das Unbewußte redet, erzeugt sie es erst. Sie entdeckt im Unbewußten nicht das wahre Sein des Subjektes, ebensowenig wie die Humanwissenschaften Individualität als die Wahrheit der Körper entdeckt haben. Der hinter jedem Wissenwollen steckende Wille zur Wahrheit, der in der Psychoanalyse einen seiner historischen Höhepunkte feiert, ist ein Resultat der abendländischen Kultur – und damit der Macht.

Wahrheit und Macht

Diese Ordnung der Wahrheit ist für die Struktur und das Funktionieren der heutigen Gesellschaft fundamental. Die Macht produziert Wahrheitswirkungen und diese ihrerseits reproduzieren die Macht. Indem das Wissenwollen der Menschheit auf Wahrheit zielt, befreit es sich nicht aus den Technologien der Macht. Die Objektivität der Erkenntnis ist nicht der Ort der völligen Freiheit von Macht – sie ist ihr Zentrum.

Die gegenwärtige Ordnung der Wahrheit hat ihre Geschichte: Entstanden ist die Einteilung der Diskurse in wahre und falsche mit der Vertreibung der Sophisten bei den alten Griechen. Diese Teilung in wahr und falsch war neu, denn der wahre Diskurs ist von nun an nicht mehr der kostbare und begehrenswerte Diskurs, der an die Ausübung der Macht gebunden ist. Seit den Griechen wird im Abendland das Objektive gesucht, wird das gesucht, was jenseits des Begehrens und Wollens vermutet wird.

In der Marterung der Körper als Strafpraxis vorbürgerlicher Gesellschaften ist die Verbindung von Macht und Wahrheit, ähnlich wie im philosophischen Diskurs bei den altgriechischen Sophisten, noch unmittelbar: Durch die Marterung vollzieht sich die Machtausübung über die Körper und das durch die Marterung hervorgerufene Geständnis ist der Wahrheitsbeweis.

Mit der Entkörperlichung der Macht gewinnt – auch wenn die Marterung als Folter in der Strafpraxis nicht gänzlich verschwindet – das Geständnis bei der Suche nach Wahrheit immer mehr an Bedeutung, und zwar sowohl in der modernen Strafpraxis, in der sich der Angeklagte mit dem Geständnis für die Wahrheit der Untersuchung verbürgt, als auch in der Psychoanalyse, in der sich das Geständnis der Wahrheit in das Herz all der Verfahren eingeschrieben hat, durch die die Macht die Individualisierung betreibt.

Besonders in seinem letzten Projekt, unter der Überschrift: Sexualität und Wahrheit, ging es Foucault darum, eine politische Geschichte der Wahrheit zu schreiben. Mit ihr wollte er die traditionellen Linien der Philosophie umkehren. Dieser traditionellen Philosophie schreibt Foucault folgende Erkenntnisse zu: Das Geständnis befreit, die Macht zwingt zum Schweigen, die Wahrheit gehört nicht zur Ordnung der Macht, sondern steht in einem ursprünglichen Verhältnis zur Freiheit. Die politische Geschichte der Wahrheit dagegen hätte zu zeigen, daß die Wahrheit weder von Natur aus frei noch der Irrtum unfrei ist. Daß dies so ist, werde beim Geständnis wiederum am deutlichsten. In der Forderung nach einem Geständnis des Wahren, ob bei der Aufklärung von Straftaten, bei der Ermittlung von Pathologien in der Medizin oder bei der Preisgabe des Unbewußten in der Psychoanalyse ist der Zusammenhang der Macht mit der Wahrheit noch deutlich erkennbar.

Wahrheit wird von Foucault in ein ’Dispositiv der Macht’ verwandelt. Was in der traditionellen Philosophie am Anfang steht: die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit, steht bei Foucault am Ende: denn das, was wir heute unter Wahrheit verstehen, soll das umfassendste Resultat der geschichtlichen Techniken der Macht sein. Sexualität etwa ist kein Naturvermögen, ist keine von der Wissenschaft entdeckte ewig-gültige Wahrheit des Mensch-Seins, sie entsteht vielmehr als ein geheimes Wissen im strategischen und politischen Zusammenspiel von Körper, Lust, Sex und Macht. Das gemeinsame aller von Mächten erzeugten Wahrheitswirkungen ist nun, daß in diesen Wahrheiten Mächte am Werk sind, die wirken können, ohne daß ein Aufseher, ein Mächtiger, ein Souverän körperlich erscheint. Denn, und das ist das allgemeine Ergebnis der Analysen Foucaults: je unsichtbarer, und, hinzuzufügen wäre, je einheitlicher eine Macht auftritt, um so effektiver ist sie.

Form und Inhalt

Wahrheit, und hier liegt der entscheidende Fehler der Mikrophysik Foucaults, ist aber nicht unabhängig von der Form zu denken, die eine jede Wahrheit annehmen muß, will sie allgemein als solche anerkannt werden. Eine Technologie der Macht etwa, für die zwei und zwei fünf ist, wird jeden Einfluß, und damit jede Fähigkeit, Körper ihrem Willen gefügig zu machen, sofort verlieren. Von dieser Formbestimmtheit einer jeden Wahrheit kann man aber nicht abstrahieren, wenn man die Wahrheitswirkungen irgendeiner ’Macht’ analysieren will. Wahrheit ist, zuerst einmal, nichts anderes als die allgemeine Anerkennung der Geltung reiner Formen. Wenn Foucault Macht in der Wahrheit entdeckt, dann entdeckt er einen bestimmten Inhalt in einer reinen Form. Der Archäologe, der Positivist und Empiriker, dem nur das etwas gilt, was auch erscheint, dieser Anti-Metaphysiker Foucault sieht in der Wahrheit ein Gespenst, das Gespenst der Macht. In einer reinen Form einen Inhalt zu suchen, ist so okkult wie die Absicht, ein Geldstück mit den raffiniertesten Verfahren chemisch zu analysieren, um darin am Ende das gesellschaftliche Verhältnis zu finden – das das Geld aber seinem Wesen nach ist. Die Entstehung und die Geltung reiner Formbestimmungen – etwa die der Mathematik – ist als ein gesellschaftsbedingter Prozeß nur dann zu verstehen, wenn man diese Formen als das ansieht, was sie sind: Formen, in denen Machtbeziehungen – also Gesellschaftlichkeit im weitesten Sinn – nicht nur suspendiert scheinen, sondern auch suspendiert sind. Erst über die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Reproduktion, erst also, wenn man einen Begriff von Totalität hat, ist die Bedeutung zu erkennen, die die beständige Überbrückung des Gegensatzes von Form und Inhalt für den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft hat. Machtverhältnisse sind immer Resultate – da hat Foucault völlig recht. Und auch Wahrheitswirkungen mögen Resultate sein. Die Frage ist nur: Resultat von was?

Trotz all seiner Beteuerungen, daß Macht nur lokal existiere, kommt Foucault im Resultat nicht darum herum, ganz allgemein zu behaupten, daß Macht von Macht erzeugt wird. In einer jeden Form, und sei es nur in der sprachlich-nominalen Identität von Macht und Mächten fallen Anfang und Ende, Ausgangspunkt und Resultat, Teil und Ganzes, Besonderes und Allgemeines zusammen. Von dieser Vertracktheit seines Gegenstandes muß Foucault beständig abstrahieren und wird diesem Gegenstand somit nicht gerecht. Zu sagen, Macht erzeugt Wahrheit bzw. Wahrheit und Macht, ist dasselbe, wie zu sagen, Geld erzeugt Geld. Durch die Gleichsetzung von Wahrheit und Macht muß Foucault die Macht zum automatischen Subjekt der Geschichte machen: zur Wahrheit, die Wahrheit produziert. Die moderne bürgerliche Gesellschaft mag als ein derart tautologisches Gebilde erscheinen – mit Foucaults Machtbegriff ist sie als eine solche Erscheinung aber nicht erklärt, geschweige auf den Begriff gebracht. Eine solche Erklärung wäre nur möglich, wenn gezeigt werden kann, wie aus der allgemeinen Anerkennung reiner Formbestimmungen sich in der bürgerlichen Gesellschaft Gewaltverhältnisse reproduzieren. Dies erfordert, neben einem Begriff von Totalität, auch einen Begriff von negativer Vergesellschaftung und von Verkehrung. Auf dieser Grundlage erweist sich der Machtbegriff Foucaults als Fetischisierung des Kapitals.

Denn wenn diese Mächte körperlos, willenlos, also subjektlos sind, woher sonst käme dann ihr Bestreben – das ihnen allen ja gemeinsam ist – sich zu steigern, effektiver und unsichtbarer zu werden? Es mag ja noch angehen, daß ihre Verkettung zu einer einheitlichen Strategie dem Zufall geschuldet ist – oder einem chaotischen Wechselspiel von Zufällen und Notwendigkeiten. Das Bestreben jeder einzelnen Macht aber, nicht ineffektiv, sondern effektiv, nicht mehr, sondern weniger Widerstandspunkte zu produzieren, dieses Bestreben muß Foucault als Einheit, als allgemeine Wahrheit jeder einzelnen Macht voraussetzen. Damit aber bricht seine Behauptung, das Allgemeine immer nur als Resultat der Verkettung je besonderer Ereignisse analysieren zu wollen, in sich zusammen. Das, was allen Mächten gemeinsam ist: das Bestreben, ihre Kräfte zu vermehren, also ein sehr menschliches, anthropologisches Bedürfnis eigentlich, bestimmt die Wirkungsrichtung der Macht: wie bei jeder traditionellen Philosophie ist das Allgemeine hier Subjekt, das Besondere nur Ausdruck dieser Subjektivität. Und in diesem Punkt: der Zielgerichtetheit der Mächte, wären die Analysen Foucaults etwas, was sie am wenigsten sein wollen: Anthropologie.

Der Ideologe

An all das, was Foucault an konkreten Untersuchungen vorgelegt hat, wäre zuerst einmal die Frage zu stellen, mit welchem Recht Foucault sich gegen totalisierende Universalien und gegen systematische Theorien so vehement gewehrt hat. Zugegeben sei, daß Foucault ohne Naturgesetzlichkeit, ohne Geschichtsteleologie auskommt, daß er der Geschichte eine allumfassende Kausalität nicht unterstellt. Fortschrittsmythen haben bei ihm keinen Platz. Wenn man außer acht läßt, daß auch die Aussage, alles Sein ist Werden, ontologisch ist, so kommt Foucault sogar ohne ahistorische Prämissen aus. Aber sein Konzept der Macht dürfte, was Einheitlichkeit, Universalität und innere Konsistenz anbelangt, sowohl methodologisch als auch in der inhaltlichen Ausgestaltung, als auch in der sich daran anschließenden politischen Programmatik den Weltgeist hegelianischer Prägung in jeder Interpretation weit in den Schatten stellen.

Zu streiten wäre nicht darüber, daß das, was Foucault an Ereignissen und Strategien in den Archiven aufgestöbert hat, verglichen mit einem Marxismus, dem der Machtanspruch im allgemeinen Wahrheits- und Objektivitätsbegriff gar kein Problem ist, sehr viel brauchbarer ist. Auch dem Utopismus vermögen sie – in der Nachfolge Nietzsches – sehr anschaulich vorzuführen, daß hinter ihm dieselbe Macht steht, die auch das Kapital so mächtig macht. Wer, egal in welcher Spielart, programmatisch von der bürgerlichen Gesellschaft verlangt, sie solle die Subsumtion besonderer Interessen und Bedürfnisse unter eine allgemeine Macht, ob diese nun Leben, Natur, Glück, Liebe, Arbeit, Wahrheit oder sonstwie genannt wird, weiter treiben als sie es bisher schon treibt, der betreibt tatsächlich genau das Geschäft des Kapitals. Das Richtige bei Foucault ist nur zu retten, wenn man die positivistische Konstruktion der Macht durchbricht. Geschieht dies nicht, dann landet man unweigerlich dort, wo noch deutlicher als Foucault Derrida gelandet ist: bei Heidegger, das heißt bei einer Vereinheitlichung aller Differenz in einem mystischen Sein [4], d.h. politisch: beim Führer.

Mystik der Wertform

Kritische Theorie kann hingegen den Machtpositivismus dechiffrieren. Was Foucault die singulären, lokalen Mächte nennt, das läßt sich mit Marx sehr viel genauer – und von allen Mystizismen entkleidet – als die Verausgabung konkreter Arbeit im Produktionsprozeß beschreiben. Diese konkrete Arbeit wird bekanntlich unter kapitalistischen Produktionsbedingungen in ihr Gegenteil verkehrt: sie wird zu abstrakter Form, sie verwandelt sich in Wert. Dieser im Produktionsprozeß erzeugte Wert wird auf dem Markt realisiert – erscheint dort als gerechter Preis und, okkult, als Geld, als sinnlich-übersinnliche Form. Was Foucault mit der Universalisierung der Disziplinar- und Normalisierungsmächte beschreibt, wäre hingegen nichts anderes als die Verallgemeinerung der Form des Werts: die Wertform ist es, die das Denken und Verhalten der Individuen kolonialisiert, und zwar hinter und in den Disziplinierungen. Ihres metaphysischen Charakters als subjektlose Mächte entledigt, kann dann all das, was Foucault mit den Kategorien von Disziplinierung, Panoptismus, Normalisierung und Prüfung faßt, weitgehend sogar akzeptiert werden; allerdings mit der einen wichtigen Einschränkung, die am Anfangsbeispiel von den Äpfeln und den Birnen verdeutlicht werden kann: Die Disziplinen, von denen Foucault spricht, verlangen von den Körpern nicht nur, daß diese den Allgemeinbegriff Obst als das Gemeinsame in Apfel und Birne akzeptieren. Wenn bei Foucault von der Ausrichtung der Körper auf eine einheitliche, allgemeingültige Norm die Rede ist, dann bekommt er nur diesen Aspekt der Normierung im Abstrakten in den Blick. So richtig dieser Aspekt der Disziplinierung auch gesehen wird: was die Disziplinierung aber schließlich erreicht, ist, daß die Individuen den Widersinn akzeptieren, daß zwei Äpfel genausoviel wert sind wie fünf Birnen. Und noch wichtiger, aber um so schlimmer: daß acht Stunden private Abtretung von Lebendigkeit an einen Kapitalisten dasselbe wert ist wie das, was in vier Stunden gesellschaftlicher Tätigkeit produziert werden kann. Erst die Verallgemeinerung dieser Real-Abstraktion – auf dem Gebrauchtwagenmarkt ebenso wie auf dem Arbeitsmarkt – bringt das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen auf den Begriff. Weil Foucault, wie jede Wissenschaft, nur Nominal-Abstraktionen kennt – wie die vom Obst, oder die von der Macht –, muß ihm der für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entscheidende Schritt entgehen: Daß nämlich vom Kapitalismus erst gesprochen werden kann, wenn die Realabstraktion des Tausches auch die Produktion erfaßt hat. Erst wo die Arbeitskraft selbst zur Ware geworden ist, sie selbst wertförmig ist und auch so denkt, erst von diesem Zeitpunkt an können sich die Disziplinierungen gesellschaftlich verallgemeinern, erst jetzt kann das Kapital zu einer sich aus sich selbst heraus reproduzierenden Macht werden. In der Verkehrung lebendiger Arbeit zu abstrakter Form im Produktionsprozeß liegt die Grundlage, liegt das Subjekt, das Wesen all der Mächte verborgen, von denen Foucault als angeblich subjektlosen spricht.

In dem Maße, in dem Individuen die Geltung der Wertform akzeptieren und als allgemeingültige Denkform für alle Bereiche ihres Lebens verinnerlichen, in dem gleichen Maße setzen sich in der Folge die von Foucault beschriebenen disziplinierenden Mächte durch. Die vereinheitlichende Macht des Kapitals, dessen Universalisierung, Anonymisierung, sowie das Wirken des Kapitals als automatisches Subjekt – in dem Macht Macht wie Geld Geld erzeugt – ist somit das Resultat eines historischen Prozesses, der dem Kapital selbst durchaus äußerlich ist. Das Kapital als Macht, Ausbeutung also, ist geschichtliches Resultat eines sozialen Verhältnisses, das vom Äquivalententausch beherrscht wird, einem Tausch, in dem selbst weder ein Gramm Naturstoff noch irgendein Moment von Ausbeutung, Herrschaft oder Macht enthalten ist, der eben reine Form, der Erscheinung ist, in der ihr Wesen: auf Ausbeutung zu beruhen, nicht erscheint und dennoch nur in eins mit ihm existieren kann. Wer in der Nachfolge Foucaults bestreitet, daß dieses Wesen existiere, weil es nicht erscheine, ist dagegen gezwungen, jedes Ereignis unmittelbar als Ausdruck von Macht zu begreifen. Daß nämlich die Macht nicht das Wesen der Sache sei, sondern im Ereignis unmittelbar erscheine, ist eine Schutzbehauptung, deren Unwahrheit und Widersinn offen zutage liegt: Das Geld etwa hat eventuell ’Macht’ – ist aber an sich vollkommen machtlos, ist Ausdruck reiner Form und nichts anderes. Der Positivist wird unweigerlich zum Ideologen, zum Vermittler, der der Kritik, die nur in der Differenz von Erscheinung und Wesen existieren kann, den Kampf angesagt hat.

’Übermensch’ und Ent-Individualisierung

Wenn man davon ausgeht, daß der kapitalistische Produktionsprozeß die Lebendigkeit der Individuen in das leblose Funktionieren einer abstrakten Form von Vergesellschaftung verkehrt, wenn erkannt wird, daß dieses Subjekt der Produktion zugleich deren Objekt ist, dann erweisen sich die positivistischen Konsequenzen, die Foucault aus seinem Machtkonzept ziehen muß, eindeutig als verkehrt.

Überall da, wo Foucault Mächte und Körper zu einer bruchlosen Einheit zusammenzieht – und dies ist bei ihm in jeder Kategorie der Fall – muß eigentlich immer schon von einer realen Verkehrung der Subjekt-Objekt-Verdopplung ausgegangen werden. Der alte philosophische Subjekt-Objekt-Dualismus behält damit seine Gültigkeit und mit ihr alle Kategorien des Negativen, die Foucault abzulehnen gezwungen ist. Die Verdopplung in Mächte und Körper (oder, medientheoretisch: die Verdopplung in totalisierende Theorie als dem Negativen und vagabundierender Information als dem Positiven) erweist sich als x-beliebige Hypothese, vergleichbar der vom grünen Käse als dem Urbaustein der Materie, die für die Beschreibung der Realität des Kapitals vollkommen unbrauchbar ist – und deshalb der kritischen Theorie keinerlei Veranlassung geben kann, nicht weiterhin das Kapital als Unwesen, als den Ausdruck negativer Vergesellschaftung zu denunzieren. Die Begriffe Repression, Ausbeutung und vor allem der Begriff der Kritik behalten nicht nur ihre Berechtigung, sondern sie sind unverzichtbare Kategorien der herrschenden Realität. Auf der Basis dieser Kategorien wird denn auch der in seiner Schlichtheit zu einer Reihe von Abstrusitäten führende Charakter einer politischen Programmatik deutlich, die sich aus dem Positivismus-, bzw. Nominalismuskonzept notwendig ergeben.

Wer, wie Foucault, Macht als beständigen Kampf einzelner Mächte gegeneinander definiert, hat es sehr einfach, wenn es darum geht, zu bestimmen, was Widerstand ist. Wo Macht ist, dort ist dann eben auch Widerstand. Und weil jeder Knoten im umfassenden Netz der einheitlichen Macht für den Zusammenhalt des ganzen Netzes gleich bedeutsam ist, reicht es dann aus, einen einzigen Knoten aufzulösen, um das Ganze in die Luft zu sprengen – auf diese einfache, und für jede Erfahrung falsche Formel gerinnt die politische Programmatik bei Foucault. Er kann aus seinem Machtkonzept keine weiteren Kriterien zur Differenzierung der Politik entwickeln: Nimmt man diese Formel, so hat auch der Nazi, der sich aus den disziplinierenden Zwängen der Schule, des Berufes etc. gelöst hat, durchaus Widerstand geleistet.

Mehr noch: Am politisch fatalen Punkt seines Denkens scheut Foucault davor zurück, die klare Sprache seines Vordenkers Nietzsche zu finden. In einer Hymne auf diesen spricht Foucault etwa davon, daß die Regeln der Logik der Machtbeziehungen in sich blind, gewalttätig und ohne Zwecksetzung sind. Sie könnten diesem oder jenem unterworfen werden. Das große Spiel der Geschichte gehöre dem, der in den komplexen Mechanismus eindringt und ihn so umfunktioniert, daß die Herrscher von ihren eigenen Regeln beherrscht werden. Foucault verschweigt, daß Nietzsche eindeutig sagt, wer es ist, der sich dieser blind wirkenden Regeln bemächtigt: der Übermensch – und das ist, politisch gesprochen, der Souverän, der – aus Foucaults Konzept der Macht heraus nicht erkennbar – hinter und in den Anonymisierungen und Verallgemeinerungen der Macht sein Unwesen effektiviert und geduldig darauf wartet, wie der Phönix aus der Asche die bürgerliche Gesellschaft auf ihren Begriff bringen zu können. Es kann sein, daß Foucault über diese Problematik Bescheid wußte: aber seine Konzeption ließ es nicht zu, sich über den Souverän der bürgerlichen Gesellschaft anders als hinter der hohlen Hand zu äußern.

Der Positivismus von Foucault kann von Krise, Notstand, Ausnahmestaat, Souveränität oder Führer nicht reden, wenn diesen Begriffen keine real-existierende Person, kein Ereignis, kein Körper, kein aktueller Diskurs zugeordnet werden kann. Dem Positivisten, der keinerlei Gesetzlichkeit mehr kennen mag, ist etwa die Aussage, daß der Kapitalismus seine Krisen nur über die Zerstörung von Kapital – was gleichzeitig das elende Verrecken vieler Menschen zur Folge hat – wird lösen können, nur dann keine metaphysische, wenn dem in ihr beschriebenen Ereignis ein empirisch-aktueller Vorgang zugeordnet werden kann. Wenn Foucault von Faschismus spricht, muß er diesen Begriff synonym mit dem des ganzheitlichen, totalisierenden Diskurses gebrauchen, muß er das Problem des Faschismus zumindest solange lediglich als ein Problem des Denkens und Fühlens begreifen, wie der wirkliche Faschismus sich real nicht durchgesetzt hat. Den Positivisten à la Foucault ist es unmöglich, Faschismus, Souveränität oder Krise als Realität zu verstehen, die die bürgerliche Gesellschaft auch dann noch kennzeichnet, wenn ihr aktuell-empirisch nichts entspricht. Ohne die Unterschiede verwischen zu wollen: daß demokratische Republik und Faschismus, Volkssouveränität und Führertum zwei Seiten ein- und derselben politischen Vergesellschaftung durch das Kapital sind – dies zu erkennen muß jedem Anti-Dialektiker unmöglich bleiben.

Derjenige etwa, der sich berufen fühlt, den Gulag medienwirksam anzuprangen, weil er angeblich keinen totalisierenden Diskurs führt – führt ihn schließlich aber doch; gerade derjenige, der jeden, der sich auf Hegel oder Marx beruft, als schuldig am Gulag verurteilt (und auch das unsägliche ’Schwarzbuch’ ist von Autoren verfaßt, die in die Traditionslinie Foucaults gehören), ist ein antitotalitärer Apostel der blindwütigen Totalität des sich verwertenden Werts.

Ent-Individualisierung als Programm

Denn nicht nur im Verständnis des Souveräns rächt sich die positivistische Konzeption Foucaults. Ganz gegen seine Absicht, keine universalistische Theorie vorzulegen, hat sein Universalismus zu allen Teilbereichen der Gesellschaft etwas zu sagen: zu Staat/Ökonomie/Politik/Ethik/Ästhetik/ Wissenschaft/Philosophie und vielem anderen mehr. Foucaults Universalismus ist aber ein schlechter, weil er den empirischen Ereignissen nur eine einzige Ebene der Abstraktion zugrunde legen kann: eben die der positiven, produzierenden, wertschöpfenden Macht. Deswegen müssen seine Untersuchungen, trotz der Fülle des in ihnen verarbeiteten Materials, viel zu sehr pauschalieren, bekommen sie die wirklichen Differenzierungen der bürgerlichen Wirklichkeit, die auf sehr verschiedenen, in sich vielfach abgestuften Abstraktionsebenen funktioniert, nicht in den Griff. Deshalb wird schließlich von Foucault die Katastrophe, auf die die bürgerliche Gesellschaft nicht erst zusteuert, sondern die sie schon längst ist, zum politischen Programm erhoben. Der, der Gesellschaftlichkeit und Individualität als die Gegner seines politischen Kampfes ausmacht, der muß den Tod eigentlich als Erlösung betrachten: mal angenommen, die von Foucault geforderte Ent-Individualisierung gelingt. Wer soll dann noch irgend etwas als Differentes, Besonderes, Konkretes oder Singuläres gegen dessen Ausbeutung durch eine verallgemeinernde Macht zur Geltung bringen? Die Verwirklichung des an sich richtigen Ziels, das Besondere von seiner Beherrschung durch das Allgemeine zu befreien, verbaut sich Foucault mit dieser seiner Forderung nach Ent-Individualisierung. (Etwas ganz anderes wäre die Denunziation des Subjektbegriffes; für diese Unterscheidung der kritischen Theorie zwischen Individuum und Subjektkonstitution ist der Foucaultianismus aber genau so blind wie alle wissenschaftlichen Theorien des Subjekts.)

Das politische Programm Foucaults, mag es auch noch so nichtssagend sein, ist für sich genommen allerdings noch kein Einwand gegen die diesem Programm zugrundeliegende Theorie. Eine Theorie ist nicht verkehrt, wenn sie der Praxis keine Auswege aus der Misere weisen kann. Jeder Positivismus, Moralismus, Utopismus und Idealismus steht vor dem Dilemma, Auswege konstruieren zu müssen, die sich auf eine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr stützen können. An jede Theorie wäre aber, bevor man sich über Praxis unterhalten kann, die Frage zu stellen, ob sie die reale Mystifikation des Kapitals als eines sich selbst setzenden Subjekts kenntlich machen kann. Weil Foucault sich mit dem Machtbegriff den Weg hierzu verbaut, ist sein Konzept gescheitert und all seine ihm nachfolgenden Adepten sind damit von vornherein auf dem ’Holzweg’. Seine politische Programmatik stellt somit eine Irreführung dar, die, zumindest stellenweise bei ihm selbst schon, bei seinen Schülern allerdings zur Gänze, auch noch gefährlich ist.

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