FORVM, No. 222
Juni
1972

Ästhetik ohne Gebrauch

Zur Politik der Kunst, Erster Teil
  • Theodor W. Adorno
    Ästhetische Theorie
    Gesammelte Schriften 7
    Suhrkamp Frankfurt 1970
  • Theodor W. Adorno
    Philosophie der neuen Musik
    Ullstein Frankfurt/Berlin/Wien 1972

Die Gesammelten Schriften Theodor W. Adornos erscheinen zu einem Zeitpunkt, da sich die deutsche Intelligenz einmütig von dem Philosophen abwendet, dessen Sprach- und Denkformen ihr während der sechziger Jahre in Fleisch und Blut übergegangen sind. Sie wirft ihm Ästhetizismus vor, ein Surrogat für gesellschaftliches Engagement. Und doch verursachte gerade die Verleugnung von Praxis, die einseitige Beschäftigung mit dem „Überbau“ den großen Einfluß der Frankfurter Schule, wie er noch in den feindseligen Angriffen ihrer Gegner zum Ausdruck kommt. Eine Tradition des marxistischen Denkens konnte vielleicht nur erhalten werden, wenn man seine philosophischen Elemente hervorhob. In der Nachkriegsära schien der Marxismus durch seine ökonomischen Doktrinen (die von den Konjunkturen der westdeutschen Rekonstruktion angeblich Lügen gestraft wurden) nicht weniger kompromittiert als durch die stalinistischen Exzesse.

In einem Aufsatz aus dem Jahr 1950, unter dem skeptischen Titel „Auferstehung der Kultur in Deutschland?“, hat Adorno eben jene Geisteshaltung der deutschen Intellektuellen kritisiert, die ihm zeitweilig ein Monopol über ihr Bewußtsein sicherte. Er beklagte die Sterilität der Literatur nach 1945, das Fehlen avantgardistischer Strömungen, und erklärt dies aus der restaurativen Politik des westdeutschen Staates. Die expressionistische Phase nach 1918 sei dagegen „im Zeichen der Hoffnung auf den unmittelbar zu verwirklichenden Sozialismus“ [1] entstanden. Im Dritten Reich habe sich das deutsche Bürgertum hoffnungslos blamiert; es verschanze sich nunmehr hinter den kulturellen Leistungen seiner Vergangenheit, um mit der intellektuellen auch jede politische Veränderung zu unterdrücken. „Die Lähmung der geistigen Produktivität wird davon bewirkt, daß man insgesamt kein politisches Subjekt mehr ist ... Man richtet sich auf die große Mächte-Konstellation ein und meint nur in der Resignation auf die abgegrenzte Kultursphäre etwas wie Sonderart retten zu können.“ [2]

So erhellt sich das Paradox einer marxistischen Philosophie, die auf Praxis in jeder Form verzichtet. Indem er den Marxismus entpolitisierte, hat Adorno unter den damaligen Voraussetzungen die deutsche Intelligenz, vor allem die Studenten, wieder im marxistischen Sinne politisiert — aber lediglich innerhalb der „abgegrenzten Kultursphäre“. Von der gesellschaftlichen Produktion (einschließlich der Sexualität) wird die bürgerliche Jugend in Oberschulen und Hochschulen durch einen starren, formalisierten und hierarchisch geordneten Sozialisationsprozeß ferngehalten; ihre einzige Chance, selbst produktiv zu werden, liegt im Kulturellen. (Sport und Kriminalität üben für die proletarische Jugend ähnliche Funktionen aus.) Daraus erklärt sich die eminente Wirkung des Kulturkritikers Adorno. Als seine Schüler aber, der Kultursphäre überdrüssig, die Rituale der akademischen Erziehung brutal verletzten, konnte er nur seufzend kapitulieren.

Überdies wurden die westdeutschen Intellektuellen zur politischen Aktion gedrängt, da sich ihr Staat und seine Meinungsmonopole anschickten, von neuem in der Konstellation der großen Mächte die Rolle eines selbständigen politischen Subjekts zu übernehmen. Ohne die Studentenbewegung wäre eine militärische Beteiligung der Bundesrepublik am Vietnamkrieg nicht ausgeschlossen gewesen. Heute nimmt sich die Adorno-Rezeption der deutschen Intelligenz wie ein Vorspiel zur endgültigen Politisierung aus, in der sich Rechts und Links unwiderruflich scheiden, um den liberalen Feuilletonismus und mit ihm die Frankfurter Schule in der Mitte aufzureiben.

Allerdings, mit seiner historischen Einordnung erschöpft sich keinesfalls die Bedeutung Adornos. Er hat das Dilemma der marxistischen Praxis immerhin konsequent durchdacht. Praxis muß sich eben der Gesellschaft anpassen, die sie verändern will, und damit verliert sie ihren revolutionären Stachel. Aus Furcht vor der Integrierung hat die Frankfurter Schule Politik schlechthin geopfert. In den Arbeiten ihrer Spätzeit — zumal in Adornos „Negativer Dialektik“ — finden sich bedeutsame Konzessionen an die anarchistische Marx- Kritik. [3]

Die gegenwärtige Renaissance des Stalinismus in Westdeutschland ist der Versuch, das Dilemma der Praxis auf dem einen Extrem zu lösen, nachdem das andere Extrem, die anarchistische Einzel- oder Kollektivaktion, gescheitert ist. Die Stalinisten von heute sind jedoch die Sozialdemokraten von morgen. Beide Richtungen, die anarchistische wie die stalinistische, beanspruchen für sich, im Namen eines Proletariats zu handeln, von dem sie unvermeidlicherweise äußerst akademische Anschauungen besitzen. Außerdem fordert die marxistische Revolutionstheorie eine — bisher noch nie historisch bestätige — teleologische Übereinstimmung zwischen der objektiven Stellung des Proletariats in der Gesellschaft und seinem subjektiven Selbstbewußtsein.

Adorno hat dies wohl als Illusion betrachtet. Er war in seiner Jugend ein begeisterter Leser von Lenins „Staat und Revolution“. Er hat die Intellektuellen davor gewarnt, „aus der eigenen Not eine Tugend des Proletariats“ zu machen, „das selber die gleiche Not hat und unser zur Erkenntnis so gut bedarf wie wir des Proletariats bedürfen, damit die Revolution gemacht werden kann“. [4]

Nach 1945 beschränkte sich sein politischer Horizont auf die Abwehr des Faschismus; seine einzige öffentliche Stellungnahme richtet sich gegen die Einführung der Notstandsgesetze. Faschismus ist jedoch als politischer Begriff ganz unbrauchbar geworden — in allen seinen Definitionen unterstellt er als Ideal die parlamentarische Demokratie, die von der faschistischen Despotie ausgehöhlt und zerstört werde. Die Faschismus-Definition ist die Ideologie der Volksfrontstrategie. Jene bürgerlichen Kritiker folgen bloß der Logik, die der radikalen Opposition „Linksfaschismus“ vorwerfen. Die allein legitime, die systematische Definition des Faschismus, die ihn als immanente Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, würde mit ihrem moralischen Nachgeschmack auch den agitatorischen Reizwert einbüßen.

Die Polemik gegen Adorno bemängelt an seiner Ästhetik die angeblich unpolitische Haltung. Das Kunstwerk sei von seinem gesellschaftlichen Konnex abgeschnitten und der Standpunkt des „l’art pour l’art“ wiedereingesetzt worden. Wie fahrlässig, ja gehässig diese Polemik geführt wird, dokumentiert der Vorwurf, Adorno habe, ähnlich wie die Faschisten, einer Ästhetisierung der Politik Vorschub geleistet. Eben gegen die Politästhetik der anarchistischen Linken — bei der eventuell solche Vorwürfe angebracht wären — verwahrt sich die „Ästhetische Theorie“, ein aus dem Nachlaß harausgegebenes Werk: „Der Enthusiasmus für die Schönheit der Straßenschlachten ist eine Reprise futuristischer und dadaistischer Aktionen. Schlechter Ästhetizismus kurzatmiger Politik ist komplementär zum Erschlaffen ästhetischer Kraft.“ [5]

Doch bringt die Ästhetische Theorie weniger Aufklärung, als man von dem letzten Buch Adornos erwarten dürfte. Sie ist im ganzen unlesbar. Man kann aus ihr kaum etwas lernen, was nicht früher schon in den Essays gestanden hätte. Lange, ganz sinnleere Partien häufen metaphysische Stilblüten aufeinander: „Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen“; [6] noch besser: „Jedes authentische Kunstwerk wälzt in sich um.“ [7] Das schreibt ein Autor, der auf Präzision und Eleganz des sprachlichen Ausdrucks größten Wert legte. Adornos Sprache mußte den Leser mitreißen, weil sie in jedem Satz, in jedem Wort gegen Banalität und Klischee protestiert. Doch als der Kritiker der Kultur im Alter ihr Prunkstück wurde, entartete seine Sprache zu einem Automatismus, der sich selbsttätig reproduziert. Die meisten seiner Gegner sind Opfer dieser Greisenmanier geworden; sie verstehen seine Gedanken nicht, so imitieren sie seine Kalauer. Überhaupt gleicht die Adorno-Kritik einem kollektiven Verdrängungsakt.

Der Stil Adornos hat immer als schwierig gegolten. Seine Sätze fügen sich in keine reguläre logische Abfolge: sie widersprechen sich, schränken sich gegenseitig ein und modifizieren einander. Am Hegelianer Adorno bestätigte sich die Erfahrung Hegels, daß in der Dialektik „die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Unterscheidung zugleich auch als nicht unterschieden oder immer in ihrer entgegengesetzten Bedeutung genommen“ werden müssen. [8] Ein Denkstil, der natürlich seinen Gegnern ausgiebige Gelegenheit zu demagogischen Verzerrungen gibt. Aber in der Ästhetischen Theorie zerfällt die dialektische Argumentation in bloß assoziativ verknüpfte Sätze, die keinen Gedanken halbwegs explizieren können. Ein Buch von 500 Seiten, fehlt ihr die Artikulation, der innere Aufbau. Die Ästhetische Theorie ist weniger eine Theorie des Ästhetischen als der Bewußtseinsstrom eines Ästhetikers. Das erklärt sich schwerlich aus dem posthumen Charakter des Buches; auch die Negative Dialektik, von Adorno persönlich fertiggestellt, leidet unter denselben Gebrechen.

Aus Adornos bester Zeit stammt jedoch die wieder aufgelegte „Philosophie der neuen Musik“. Sie ist Gegenstand einer Polemik, die der Musiker Konrad Boehmer in der „Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft“ gegen die Ideologie der musikalischen Avantgarde und ihren Urheber Adorno geführt hat. In dem Aufsatz „Zum Problem der Fortschrittlichkeit des musikalischen Materials“ ist die Musik bloß ein Spezialfall einer allgemeinen ästhetischen Problematik — des Widerspruchs zwischen esoterischer Avantgarde und ihrer öffentlicher Rezeption.

In polemischer Absicht seziert Boehmer aus der Philosophie der neuen Musik drei Punkte heraus. Erstens habe sie, an der sozialen Aufgabe der modernen Kunst verzweifelnd, diese von ihrem gesellschaftlichen Gebrauch völlig getrennt: ein „art pour l’art“-Standpunkt. Zweitens, und daraus folgend, habe sie die ästhetisch-technische Qualität, also das „Material“, zum ausschließlichen Kriterium der Fortschrittlichkeit von Kunst gemacht, beispielhaft in Schönbergs Liquidierung der tonalen Harmonie. „Geschichte ist somit nicht mehr die der Menschen, sondern nur noch die von Klangkonstellationen.“ [9] Drittens ergebe sich die absurde Konsequenz, daß für Adorno die Avantgarde innerhalb einer total regressiven Gesellschaft das einzige progressive Element darstelle, wo sich die Freiheit einer neuen Menschheit ankündige. Die moderne Kunst bilde demnach eine „Flaschenpost“, die am Ufer der utopischen Gesellschaft stranden wird. Ins Deutsche übersetzt: erst nach der Weltrevolution darf der Avantgardist mit einem Publikum rechnen.

Kein Zweifel, solche Thesen wären idealistisch. Nur, sie finden sich nirgends in der Philosophie der neuen Musik. Wenn Boehmer feststellt, daß die fortschrittliche Musik keineswegs fortschrittlicher als die Gesellschaft sein könne, da sie ihren Widersprüchen unterworfen sei so hätte er in Adornos Buch bloß die erste Seite aufschlagen müssen, um zu lesen, daß auch die Schönberg-Schule „Nicht von der allgemeinen Verdinglichung ausgenommen ist“ und „aus sich heraus Charakter des gleichen Wesens hervorbringt, dem sie widerstrebt“. [10] Fadenscheinig ist auch Boehmers Unterstellung, die Philosophie der neuen Musik habe, den Gebrauch von Kunst ignorierend, die Künstler ermuntert, im Vertrauen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag draufloszuarbeiten — im Gegenteil, sie beklagt den Rückgang ernsthaften Komponierens, und erklärt dies aus dem fehlenden Gebrauch. „Was überhaupt noch geschrieben wird, trägt nicht bloß die Spuren unsäglicher Mühe, sondern oft genug auch von Unlust. Die quantitative Schrumpfung hat die offenkundigen gesellschaftlichen Gründe. Es besteht keine Nachfrage mehr.“ [11] Boehmer müßte daraus den Schluß ziehen, die Komponisten sollten das Komponieren lieber bleiben lassen.

Er lehnt den Begriff des autonomen, sich selbst genügenden Kunstwerks kategorisch ab. Mit Recht, wollte er nicht an dessen Stelle die „Gebrauchsfunktion“ setzen, die sich in der unmittelbaren Bedeutung für das vorhandene Publikum, also im augenblicklichen Effekt, erschöpfen soll. Ein krauses Postulat, das von Brecht stammt, gegen Adorno ausgespielt und durch monotones Wiederholen auch nicht klüger wird. Es führt zu einer völlig ungeschichtlichen Auffassung. So leugnet Boehmer den Einfluß neu entdeckter, bisher unterdrückter historischer Kunstwerke auf die Gegenwart. Derartige Wiederentdeckungen wären entweder durch „musikwissenschaftliche Ausgrabungssucht oder rein modische Erwägungen“ [12] bestimmt. Ein primitiver, ein journalistischer Gesichtspunkt. Boehmer denkt in eben jenem „linearen Geschichtsbegriff“, den er Adorno in die Schuhe schiebt.

Tatsächlich haben Wiederentdeckungen und Neueinschätzungen immer wieder eine äußerst produktive Rolle gespielt. „Tradition ist das gegenwärtig Vergessene.“ [13] Wenn Büchner im Naturalismus, Jean Paul und Hölderlin von der George-Schule, Kleist im Expressionismus und die barocke Dichtung von der Wiener Gruppe wieder ans Licht geholt wurden, dann schwerlich aus musealen Beweggründen. „In jeder Epoche muß versucht werden“, sagt Walter Benjamin, „die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“ [14] Statt mit der Tradition zu brechen, schaffen sich die Revolutionen eine neue; ihre Kraft zeigt sich in der Energie, mit der sie auch die Vergangenheit umstürzen. Eine absolute Trennung der Gegenwart von der Vergangenheit wäre undialektisch. Die historische Besinnung ist alles andere als kontemplativ: sie dient der produktiven Inspiration, die von Boehmer geleugnet wird, weil er sich unter ihr anscheinend eine Art Plagiat vorstellt. Brecht knüpfte an das mittelalterliche Mysterienspiel an, das Kommunistische Manifest rekapituliert die (neu interpretierte) europäische Geschichte, und die Gebrauchsfunktionalisten träumen gelegentlich von einer Musik, die dem Proletariat so viel bedeuten soll wie die Klassik einstmals der Bourgeoisie.

Autonomie der Kunst und ihr sozialer Gebrauch schließen einander nur aus, wenn man ihr Verbindungsglied, die Geschichte, eliminiert. „Zweckformen, Kultobjekte können zu Kunst geschichtlich erst werden“, bemerkt Adorno. [15] Alle sozialen Zwecke, die Gebrauchsfunktionen, denen eine griechische Münze oder eine mittelalterliche Plastik diente, sind für uns tot — dennoch bleibt der ästhetische Wert, der seinerseits von dem Gebrauch abhängt, den eine Epoche von der Hinterlassenschaft ihrer Vergangenheit macht. Die Interessen der Gegenwart schaffen das Bild der Vergangenheit. Gewiß war die klassizistische Verehrung der Antike im 18. Jahrhundert Ausdruck jener politischen Utopie, die von den Zeitgenossen der großen Revolution in die Freiheit der römischen Republik projiziert wurde. So wird verständlich, was Adorno meinte, als er in der Philosophie der neuen Musik von Kunst als „Flaschenpost“ sprach. [16]

Er wußte so gut wie Boehmer, daß kein Kunstwerk technisch oder inhaltlich seiner Zeit voraus sein kann. Die Errungenschaften seiner ästhetischen Technik werden überholt, der Inhalt veraltet und die Gebrauchsfunktionen sterben ab. Übrig bleibt der Gehalt, der den Stand der Zeit in seiner Klassizität zusammenfaßt. „Der Gehalt der vergangenen Kunst“, prophezeit Adorno in der Ästhetischen Theorie, „vermöchte die Kunst zu überleben in einer Gesellschaft, die der Barbarei ihrer Kultur ledig geworden wäre.“ [17] Doch überleben die Kunstwerke nicht, weil sie das Publikum noch in fernen Zeiten beeindrucken werden. Sie überleben, sofern sie der ästhetischen Produktion stets neue Anreize geben können. Ihre Fortdauer ist produktiv statt rezeptiv. Kunst besteht als ein Moment der gesellschaftlichen Praxis. Sie hat keine Wirkungs-, vielmehr eine Produktionsgeschichte.

Die Gebrauchsästhetiker leiten allerdings den gesellschaftlichen Charakter der Kunst allein aus ihrer Wirkung auf die Gesellschaft ab. Sie verlegen den Akzent von der Produktion auf die Rezeption, vom Werk auf die Wirkung. Das klingt plausibel — ein Kunstwerk werde gesellschaftlich, wenn sich ein Publikum findet. Boehmer macht es Adorno zum Vorwurf, daß er die Frage „Für wen?“ ignoriere. „Die gesellschaftliche Funktion des musikalischen Materials ist eben nicht ausschließlich von der Seite der musikalischen Produktion her zu sehen“, fordert Boehmer, „sondern muß gleichzeitig von der anderen Seite — von der Rezeption her — aufgeschlüsselt werden.“ [18] Unter diesen Bedingungen wird auch jeder Anspruch auf irgendeine „Autonomie“ der Kunst von vornherein sinnlos.

In Wahrheit ist die Gebrauchsästhetik unfähig, die Trennung zwischen Gesellschaft und Kunst aufzuheben. Sie setzt diese Trennung ja voraus; solange es effektiv gesellschaftlichen Gebrauch gibt, kommt niemand auf die Idee einer Gebrauchsfunktion. Die Gebrauchsästhetiker folgen einem idealistischen Schema. Sie malen sich einen Zustand aus, wie er sein sollte; daran messen sie den Zustand, wie er tatsächlich ist. Kunst sollte unmittelbar auf die Gesellschaft wirken; umso verwerflicher, daß sie es nicht mehr tut. Kunst und Gesellschaft bilden in diesem Schema zwei Pole, die der „Gebrauch“ oberflächlich miteinander verbindet. Ungewollt bestätigen die Gebrauchsästhetiker eben jene Autonomie der Kunst, die sie abschaffen wollen.

Adorno hat dagegen die Trennung zwischen Kunst und Gesellschaft selbst als ein gesellschaftliches Faktum verstanden — nämlich als Resultat der Arbeitsteilung, die eine relative Autonomie des Ästhetischen mit sich bringt. „Darum ist das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft nicht vorwiegend in der Sphäre der Rezeption aufzusuchen“, heißt es in der Ästhetischen Theorie. „Es ist dieser vorgängig: in der Produktion.“ [19] Im einzelnen, im isolierten Werk zeigt sich seine Sozialität, bevor es noch in der Wirkung mit der Gesellschaft Kontakt aufnimmt. Die Wirkung zählt nur, soweit sie produktiv ist.

Die Disqualifizierung der Wirkung wurde von der Adorno-Kritik mit seinem Verzicht auf Praxis verglichen, und seine Ästhetik als „unmarxistisch“ herb getadelt. Marx jedoch demonstriert ausgerechnet am Kunstwerk den Primat der Produktion: „Der Kunstgegenstand — ebenso jedes andere Produkt — schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand. ... Sie produziert daher Gegenstand der Konsumtion, Weise der Konsumtion, Trieb der Konsumtion.“ [20] Ohne Konsumtion gäbe es zwar keine Produktion, doch ist diese „das übergreifende Moment, der Akt, worin der ganze Prozeß sich wieder verläuft“. [21]

In allen Einzelteilen des Systems hält Marx konsequent an der Herrschaft der Produktion über die Konsumtion fest. Er verwirft den Versuch, die kapitalistischen Krisen aus der Unterkonsumtion des Proletariats zu erklären — eine sozialdemokratische Ideologie. Die Unterkonsumtionstheorie (der Keynesianismus ist eine ihrer Spielarten) glaubt, die Distribution reformieren zu können, ohne die Produktionsverhältnisse angreifen zu müssen. Eine Art ästhetische Unterkonsumtionstheorie vertreten die Gebrauchsfunktionalisten, die im übrigen ihren „Materialismus“ aufdringlich lobpreisen. Die moderne Kunst findet kein Publikum? Das Proletariat konsumiert zu wenig! Man muß ihm die Produktion schmackhaft machen.

Hier zeigt sich die Unsicherheit der Gebrauchsästhetik. Der Gebrauch ist eben der Verbrauch — was die Leute halt so fressen. Wer sich am Gebrauch orientiert, der muß die Marktforschungsinstitute befragen. Doch so plump mag Boehmer nicht operieren. Wie ein gutbürgerlicher Kunstpädagoge verlangt er „gehobenes Niveau“. Denn: „Irgendeine Musik als Ware und mittels den dem Markt angepaßten Propagandatricks unter die Massen zu bringen, hat keinerlei fortschrittliche Funktion, wenn die bedeutende andere Seite fehlt, nämlich die Seite der Niveauhebung.“ [22] Die Kunst hat erstens ein Niveau, und zweitens wird sie popularisiert. Die Autonomie des Ästhetischen wird damit weniger aufgehoben als verwässert.

Ganz anders hat sich Adorno des Problems angenommen, als er 1932 die Produktion Hanns Eislers analysierte, in der sich die Schönberg-Schule mit Bestrebungen berühre, „die scheinbar ihr konträr entgegengesetzt sind“. Er präzisiert die Dialektik des Gebrauchs: die proletarische Musik dürfe sich keineswegs nach „dem Stand des Verbraucherbewußtseins, auch des proletarischen, richten“ — vielmehr müsse sie „mit ihrer Gestalt selber aktiv ins Bewußtsein eingreifen“. [23] Boehmer wünscht mehr Niveau, Adorno jedoch Veränderung der Produktion und der Konsumtion.

In der gegenwärtigen Kunst sind Produktion und Konsumtion in einem katastrophalen Maße auseinandergefallen. Die Philosophie der neuen Musik spricht von der „Aufspaltung aller Kunst in Kitsch und Avantgarde“, [24] nicht ohne hinzuzufügen, daß im Laufe der Entwicklung die Extreme einander immer ähnlicher würden. Doch die Versuche der Gebrauchsästhetik, den Gegensatz zu überwinden, führen lediglich zu seiner Verdinglichung. Boehmer kann Schönberg vorwerfen, dieser habe höchstpersönlich zur Isolierung seiner Musik beigetragen, weil er angeblich nur Wohlhabende in seinen Verein für musikalische Privataufführungen eintreten ließ. Wie verhielt es sich wirklich? Boehmer schreibt, daß Schönbergs Statuten von den Mitgliedern genügend Freizeit für die Teilnahme an allen Proben forderten. Für Boehmer ist die Sache klar — der reaktionäre Komponist wollte die Unterprivilegierten draußen halten, um „den gesellschaftlichen Primat der Musik der bürgerlichen Ära zu verteidigen“. [25] Offensichtlich aber ist, daß Schönberg naiverweise glaubte, mit seinen Vereinsstatuten die Trennung von Musikproduktion und Musikkonsum, das Erzübel des kapitalistischen Kulturbetriebs, beseitigen zu können. Er wußte, daß er sein Publikum zu schulen hatte. Er wollte Schüler, keine Konsumenten.

Ein Gesichtspunkt, der anscheinend für einen Gebrauchsfunktionalisten ganz unverständlich ist. Der ästhetische Begriff „Gebrauch“ wollte ursprünglich die satte Aura des autonomen Kunstwerks zerstören: das epische Theater macht aus Zuschauern kritische Akteure. Bei den Epigonen degenerierte die Gebrauchsfunktion zum kulinarischen Konsum, von dem Brecht bekanntlich recht wenig hielt.

Wird fortgesetzt

[1Theodor W. Adorno, Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, edition suhrkamp, Frankfurt 1971, p. 29.

[2Adorno, loc. cit., p. 32.

[3Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, pp. 313/4.

[4Theodor W. Adorno, Über Walter Benjamin, Suhrkamp, Frankfurt 1970, Brief Adornos an Benjamin vom 18. März 1936, p. 132.

[5Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften 7, Suhrkamp, Frankfurt 1970, p. 473.

[6Adorno, loc. cit. p. 200.

[7Adorno, loc. cit. p. 339.

[8Hegel, Pnänomenologie des Geistes, ed. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, p. 141.

[9Konrad Boehmer, Zum Problem der Fortschrittlichkeit des musikalischen Materials, in der Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, Heft 5, p. 11.

[10Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt 1972, Ullstein Buch, p. 5.

[11Adorno, loc. cit., p. 98.

[12Boehmer, loc. cit., p. 6.

[13Adorno, loc. cit., p. 111.

[14Walter Benjamin, Geschichtsphilosoph. Thesen, in: Benjamin, Illuminationen, Frankfurt 1961, p. 270.

[15Adorno, Ästhetische Theorie, p. 272.

[16Adorno, Philosophie der neuen Musik, p. 120.

[17Adorno, Ästhetische Theorie, p. 13.

[18Boehmer, loc. cit., p. 12.

[19Adorno, Ästhetische Theorie, p. 338.

[20Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt — Wien. p. 14.

[21Marx, loc. cit., p. 15.

[22Boehmer, loc. cit., . 22.

[23Theodor Wiesengrund-Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, Zeitschrift für Sozialforschung, Frankfurt 1932, 1. Jahrgang, p. 124.

[24Adorno, Philosophie der neuen Musik, p. 17.

[25[Endnote fehlt im gedruckten Heft]

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