Wurzelwerk, Wurzelwerk 24
Oktober
1983

Aufwiegelung zur Gesundheit

Krankheit als Antwort des Körpers auf gesellschaftliche Fragen

Indem er die Revolte des Körpers unterdrückt, verheimlicht der Arzt seinen Opfern die Deformationen des sozio-kulturellen Systems.

Dieser Satz, der in einem hervorragendem Buch eines französischen Arztes zu lesen ist, [1] stellt die Medizin und die Funktion des Arztes in jenes Licht, in das sie gerückt gehören, in dem sie jedoch gar nicht gern gesehen werden.

Der Aussage, daß Krankheit eine Revolte des Körpers ist, liegt die Einsicht zugrunde, daß ein Mißverhältnis zwischen persönlichen Wünschen und Vorstellungen (auch wenn diese immer wieder verdrängt werden) und der gesellschaftlichen Realität existiert. Ein Mißverhältnis zwischen den Forderungen, die unser physischer und psychischer Organismus an uns stellt, und der Wirklichkeit jener gesellschaftlichen Zwänge, deren Objekt er ist.

Denn stellt man die Krankheit in den Lebenszusammenhang des/der Kranken, so muß man zu dem Schluß gelangen: „Die Krankheit ist eine Sprache des Körpers, sie ist eine Ausdrucksmöglichkeit, was die gesprochene Sprache nicht ausdrücken wagt.“ Ein Aufstöhnen von Körper und Geist macht durch die Erkrankung plötzlich klar, daß die Situation unerträglich geworden ist.

Auf diese Weise sollte das Phänomen Krankheit auch endlich einmal gesehen werden.

Dieses Stöhnen, der Ausdruck einer gesellschaftlich bedingten Qual ist aber angesichts einer auf Behandlung statt auf Heilung ausgerichteten Medizin meist völlig wirkungslos, denn die Kluft zwischen Bedürfnis und Realität bleibt bestehen, die Widersprüchlichkeit wird nicht aufgelöst: wir machen unser Leben selbst und sind gleichzeitig seine Opfer.

Die Krankheit stellt auf mehr oder weniger gewaltsame Weise unsere Lebensbedingungen in Frage. Alkoholismus, Tabletten und Drogen, Selbstmord, nervöse Depression, Magengeschwüre, Herz- und Kreislauferkrankungen, Verfettung usw. sind doch nichts anderes als eine Reaktion auf ein unterträgliches Leben, für das eine unerträgliche Gesellschaft die Schuld trägt.

Asphalt und Beton, Umweltverschmutzung und Zerstörung der Natur, untragbare Produktionsbedingungen (Arbeitshetze, Arbeitslosigkeit, Enftremdung auf der ganzen Linie ...) inhumane Wohnbedingungen, Bürostreß und Studienverschärfungen ..., all das sind Erscheinungen einer krank machenden Welt, Resultat eines falsch konzipierten Gesellschaftssystems.

Daß die derzeitige Medizin nur „behandelt“ aber nicht „heilt“, soll heißen: die praktizierte Form der Therapie beschränkt sich auf bloßes Kurieren von Ausfallserscheinungen, mit ohnedies sehr bescheidenem Erfolg.

Die medizinische Institution macht wieder gesund (wenn möglich), stellt wieder her, „rehabilitiert“ und gliedert ein — ohne die Probleme bei der Wurzel zu packen.

Eine „Heilung“ müßte eine Beseitigung der Entstehungsorte von Krankheiten zum Ziel haben, eine Veränderung an der Basis: im Alltag, im Produktionsprozeß ebenso wie in der Familiensituation.

Dazu bedürfte es jedoch kollektiver Lösungen, keiner Einzeltherapie. Der Mensch, ob krank oder gesund, ist keine isolierte Einzelerscheinung, sondern ein gesellschaftliches Wesen, den sozialen Bedingungen unterworfen. Individuelle Lösungen (jedem seine persönliche Krankheit) sind aufgrund des sozialen Charakters der Krankheit (so auch Probleme des Sexual- und Gefühllebens, der Kommunikationsarmut, des allgemeinen Unbehagens) absurde Illusionen. Soziale Probleme erfordern kollektive Maßnahmen.

Doch die Aufgabe der herrschenden Medizin ist eben eine andere: indem sie immer wieder repariert ohne wirklich zu heilen, ist die Medizin eines der Elemente, die das System als Ganzes aufrecht erhält. „Die Medizin wird definitionsgemäß immer für die Erhaltung der bestehenden Ordnung wirken: gesundsein heißt zugleich gesunderhalten.“

Das Gesundheitswesen ist demnach ein Instrument, das unter dem Vorwand einer unbestreitbaren und unerläßlichen Hilfeleistung dazu dient, das Gleichgewicht wieder herzustellen und damit eine existierende Ordnung, die „gesunden“ Verhältnissen entgegenwirkt. Denn natürlich liegt es im Interesse einer politischen Macht, die an der wirtschaftlichen und kulturellen Stabilität profitiert, die „Macht des Arztes“ zu garantieren und den subversiven Charakter der Krankheit zu unterdrücken. Außerdem ist jener Macht daran gelegen, den sozialen und polititschen Aspekt weiterhin zu vernachlässigen und die Krankheit getrennt und unabhängig vom Gesellschaftlichen, das ja durch die Krankheit in Frage gestellt wird, zu betrachten.

Mit der Verlagerung des Problems in ein geschlossenes System ärztlicher und psychischer Behandlung abseits der Öffentlichkeit, hinter der Mauer von Wissenschaft und Technik, wird verhindert, daß Krankheit zu einer politischen Waffe wird.

Die behandelnde Institution, das Krankenhaus, das Sprechzimmer des Arztes, „sind die Orte der Kapitulation, wo die Revolten des Körpers unterdrückt werden.“ Krankheit ist ein Aufschrei, Krankheit ist Gewalt. Die Medizin bringt die Krankheit zum Schweigen und ist damit selbst Gewalt oder macht sich zum Vollzugsorgan der gesellschaftlichen Gewalt. „Die Gewaltsamkeit liegt offen zu Tage, wenn der Arzt systematisch Antibiotika verschreibt oder leichtfertig Mandeln und Blindddarm, Magen und Uterus entfernt. Die Medizin ist eine Form von Gewalt. Aber meistens wollen das weder der Arzt, noch der Kranke wahrhaben.“

Im Gegensatz zu einer kurativen Medizin muß eine offensive (präsentive) Medizin die „Sprache des Körpers“ zu verstehen versuchen und sich mit der Krankheit verbünden, sie selbst als einen Akt der Therapie betrachten, mit dem gleichen Ziel: die Lebensumstände in Frage zu stellen.

Natürlich: Das Erkennen der sozialen Dimension des Krankheits-Gesundheitsproblems soll die organische Komponente, die auf naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse zurückgreift, nicht durch eine gesellschaftsanalytische ersetzen. Ein somatisches Konzept soll nicht durch ein soziologisches ersetzt werden. Es geht nur darum, beide Bereiche nicht zu trennen.

Eine Beurteilung kann nur aus einer ganzheitlichen Sicht erfolgen. Den Menschen jenseits seiner gesellschaftlichen Situation betrachten, heißt (genauso wie andere pathogene Faktoren zu vernachlässigen), den Menschen auf zerstückelte Weise sehen. Damit verfehlt man aber die Realität: ein Stück Mensch, das gibt es nicht.

„Das Problem der Gesundheit ist das einer umfassenden Therapie: unsere Lebensweise in Frage zu stellen.“ Die Medizin umfaßt nur einen Teil dieses Problems: Es gilt die offensichtlich krankmachenden Faktoren unserer Umwelt zu beseitigen, was letzlich eine grundlegende Veränderung unseres Lebens und der dieses bestimmenden Mechanismen auf gesellschaftlicher Ebene bedeutet.

[1Jean Carpentier: Aufwiegelung zur Gesundheit — Rotbuch, 217 S., alle Zitate aus diesem Buch aus: Rot-press med-extra 8/80, c/o Herwig Findenig, 1150 Wien, Weiglg. 2/21, Tel.: 83-77-155 Anm. d.Red.: Womit wir uns voll und ganz identifizieren.

[2Jean Carpentier: Aufwiegelung zur Gesundheit — Rotbuch, 217 S., alle Zitate aus diesem Buch aus: Rot-press med-extra 8/80, c/o Herwig Findenig, 1150 Wien, Weiglg. 2/21, Tel.: 83-77-155 Anm. d.Red.: Womit wir uns voll und ganz identifizieren.

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