Streifzüge, Heft 51
März
2011

Calamari Union

FRANK

(Die Kritik) ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will. Denn der Geist jener Zustände ist widerlegt. An und für sich sind sie keine denkwürdigen Objekte, sondern ebenso verächtliche als verachtete Existenzen. Die Kritik für sich bedarf nicht der Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm im reinen. Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel. Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation.

Karl Marx

1.

1985 hat Aki Kaurismäki, einer der letzten wirklich Großen des Kinos, einen Film realisiert, der in jeder Hinsicht bemerkenswert ist, tiefsinnig, witzig, formal souverän — Calamari Union. Vierzehn bis achtzehn (je nach Beobachter weichen die Angaben ab) junge Männer, die alle bis auf einen FRANK genannt werden, beschließen, den Arbeitervorort Kallio im Norden Helsinkis zu verlassen, um im Süden der Stadt an der Küste, im Villenviertel Eira, ein besseres Leben zu suchen. Auf dem Wege dorthin verlieren sich allerdings alle bis auf gerade mal zwei — sei es, dass sie eines (gewaltsamen) Todes sterben, sei es, dass sie in einem Brotberuf eine Anstellung finden, sei es schließlich, dass sie vor dem Traualtar landen. Und zu allem Überdruss müssen die zwei, die dann tatsächlich an ihr Ziel gelangen, konsterniert realisieren, dass dies auch nicht das gesuchte Eldorado ist. Ungebrochen jedoch ziehen sie mit einem Ruderboot dann ins nächste Gelobte Land weiter: nach Estland.

2.

Von vierzehn bis achtzehn gerade mal zwei: Dies dürfte in der Tat ungefähr dem Prozentsatz derer entsprechen, die sich durch alle Widrigkeiten nicht von dem Gedanken abbringen lassen, dass das letzte Wort der Geschichte noch nicht gesprochen sein darf, auch wenn sie daran vielleicht nur deswegen festhalten wollen, weil die Gegenwart unter aller Kritik ist.

3.

Unter aller Kritik — und das heißt: Selbst wenn es keine Perspektiven der Veränderung gäbe, selbst dann könnte es nur um die Denunziation der Gegenwart gehen, könnte es nur darum zu tun sein, diese Gegenwart, wie es Heiner Müller so schön formuliert hat, „unmöglich zu machen“, weil sie an sich schon „unmöglich“ ist: nämlich lächerlich, irrational, kläglich und epimetheisch.

4.

Angesichts der objektiven Voraussetzungen, die die Geschichte sich hat angelegen sein lassen zu schaffen, angesichts all der technologischen Kapazitäten, ist ein Festhalten an der Gegenwart in der Tat nur noch peinlich: Hier blinder Konsum und dort absolute Misere, das Beherrschtsein durch sachliche Mächte (die „Märkte“), das das Gerede von „Freiheit“ zum Hohn werden lässt, das Wachstumsdiktat, das dazu führt, dass man Raubbau an den globalen Ressourcen betreibt („ökologischer footprint“), Herstellung von Schnickschnack, geplante Obsoleszenz, Biosprit, CO2‚ globale Produktion, wo doch die Waren auch dort, wo man sie im Endeffekt braucht — und nicht nur in Malaysia oder in China —‚ fabriziert werden könnten, sinnlose Tätigkeiten von der Börse bis hin zur Reklame, absolut degradierende Freizeitvergnügen (vom Fernsehen mit seinen Reality-Shows über Computerspiele bis hin zu den anderen circenses), die geistige Verkommenheit (und nicht nur im „Prekariat“), political correctness und andere Kindereien, Schönheits- und Jugend-Wahn, Überlegenheitsdünkel, Opferhysterie, Esoterik, kurz: die gesamte Produktions- und Konsumtionsweise des Kapitalsystems ist es wert, wegen Verblödung, die schier an Fahrlässigkeit grenzt, über den Haufen geworfen zu werden. Dies alles gilt es demnach dem Spott preiszugeben, und zwar gerade auch dann, wenn die Perspektiven eines Übergangs aus dem epimetheischen in ein prometheisches Zeitalter nicht (mehr) gegeben sein sollten, eben weil das Marxsche Subjekt der Geschichte, weil die Totengräber ausgestorben sind.

5.

Die Männer, die in Calamari Union alle FRANK genannt werden, heißen so vielleicht nur, weil sie X-beliebig austauschbar sind. Tatsächlich kommt es auch hier, wo es um die Kritik der Gegenwart geht, nur auf diese Kritik, nicht auch auf die Personen an, die sie üben. Warum sollten deshalb nicht alle diejenigen, die mit der Gegenwart abgeschlossen haben, sich als Realisierungen eines Akteurs, der, sagen wir, FRANK genannt werden könnte, begreifen und unter diesem Namen das Gegebene, das schon tot, aber noch nicht begraben ist, denunzieren? Der Name könnte freilich auch ein anderer sein.

Intro / Opening | 1985 by Aki Kaurismäki
Bild: komarkive
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