FORVM, No. 481-484
April
1994

Carlos Salinas Glück und Ende

Zur Dialektik Mexikos zwischen Modernisierung und Traditionalität

Am ersten Jänner 1994, als das zwischen den U.S.A., Kanada und Mexiko ausgehandelte Freihandelsabkommen in Kraft trat und den endgültigen Sieg des Modernisierungsprogrammes des mexikanischen Staatspräsidenten Carlos Salinas de Gortari sicherzustellen schien, schreckte die Nachricht, daß die Guerilla der sogenannten »Zapatistischen nationalen Befreiungsarmee« vier wichtige Orte in Mexikos südlichstem Bundesstaat Chiapas besetzt hatten, die Regierung und Bevölkerung Mexikos aus der Neujahrsruhe. Jahrzehnte politischer Stabilität waren damit plötzlich zu Ende gegangen. Die mexikanische Regierung war mit einer unerwarteten Krise konfrontiert, wie es sie seit Ende der zwanziger Jahre nicht mehr gegeben hatte. Auf dem Weg, den Anschluß an die Länder der Ersten Welt zu finden, machten die Ereignisse von Chiapas deutlich, daß der Süden Mexikos viel mehr mit Zentralamerika und seinen Problemen verbunden war, als mit dem entwickelten Norden, der an die Vereinigten Staaten grenzt. In wenigen Tagen hatte sich das Gesicht Mexikos verändert und die Reaktion des Präsidenten und der Regierung, die sofort das Heer zum Angriff auf die Rebellen einsetzten, war ein Bruch mit der mexikanischen politischen Tradition. Innerhalb von Stunden war von der Stabilität Mexikos nur mehr ein Scherbenhaufen übrig, dessen Beseitigung aller Voraussicht nach Jahre in Anspruch nehmen wird. Niemand ist in der heutigen Situation in der Lage, die Ereignisse der ersten Jännerwochen in ihren Konsequenzen für das politische System Mexikos einzuschätzen, aber in den entscheidenden Kreisen der Politik herrscht Übereinstimmung, daß Mexiko kaum mehr dasselbe Land sein wird, das es noch vor dem 1. Jänner war.

Wie eine revolutionäre Situation hergestellt wird

Was die Studentenbewegung von 1968 und die darauffolgenden Versuche zur Formierung einer Guerilla in den 70er Jahren nicht erreicht haben, das bewirkte der Aufstand der indianischen Bevölkerung von Chiapas mit einem Schlage, nämlich die Erschütterung des politischen Systems Mexikos. Während sich die Regierung ob ihrer ökonomischen Erfolge in trügerischer Sicherheit wiegte — hatte sie doch versucht, durch ein nationales Solidaritätsprogramm die ländlichen Gebiete des Staates mit Elektrizität, Schulen und ärztlicher Versorgung zu erreichen —, formierte sich im Hochland von Chiapas der bewaffnete Widerstand, der von tausenden Kämpfern und Sympathisanten getragen wurde.

Der Aufstand der Indianer und der Bauern des Hochlandes von Chiapas gerade am 1. Jänner stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Weg Mexikos in die Moderne, der in den letzten zehn Jahren mit einem industriellen Modernisierungsschub verbunden war, und den sozialen Kosten dieses Prozesses, der von den Mittel-, Unter- und indianischen Schichten der mexikanischen Bevölkerung zu zahlen war. Denn das Programm der Regierung, die Industrie zu rationalisieren und international konkurrenzfähig zu machen, war mit einem Privatisierungsprozeß wichtiger staatlicher Unternehmen verbunden, der Tausenden einen sicher geglaubten Arbeitsplatz raubte. Ein Stabilitätspakt fror die Löhne auf einem bestimmten Niveau ein, freilich nur der Bevölkerungsschichten, die fixe Gehälter empfingen, während die freien Berufe, Manager und Politiker davon ausgenommen waren. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung von de la Madrid und Salinas verschärften so die Einkommensdisparitäten, die ohnehin in Mexiko immer schon für Europa unvorstellbare Ausmaße hatten. Das Schweigen der Mittel- und Unterschichten bezüglich der Verschlechterung der Lebensbedingungen wurde von der Regierung als Zustimmung zum Modernisierungsprogramm, aber auch zur Integration Mexikos in die nordamerikanische Freihandelszone gewertet, beides Prozesse, die die seit Jahren bestehenden sozialen Tendenzen nur fortsetzen würden. Klar war, daß die Liberalisierung der Agrarprodukte für die mexikanische Landwirtschaft insgesamt verheerende Folgen haben würde, auch wenn es Übergangsbestimmungen gab, die in den nächsten zehn Jahren den Maisbauern Zentralamerikas noch einen gewissen Schutz gewähren würden.

Vorteile würde dieses Abkommen den hochtechnifizierten, auf Gemüse und Obstbau spezialisierten Agrarbetrieben Nordmexikos bringen, die natürliche Standortvorteile nutzten; für die Minilatifundien Zentralmexikos jedoch, die auf dem traditionellen Maisbau basierten, bedeutete dieser Vertrag das Ende ihrer Subsistenzmöglichkeiten. Wo das Freihandelsabkommen einen Arbeitsplatz in der Landwirtschaft schuf, würden gleichzeitig dreißig andere vernichtet werden, mit allen Konsequenzen der Landflucht, die diese Prozesse mit sich bringen. All dies war der mexikanischen Regierung, vor allem ihrem Handelsminister Jaime Serra-Puche klar, als sie das Abkommen unterschrieben, aber es war der Preis, den man für die ökonomische Integration Nordamerikas zu zahlen bereit war.

Für die neoliberale Regierungsorthodoxie zählte menschliches Elend wenig, während gesunkene Inflationsraten vom Glück eines gelungenen ökonomischen Programmes erzählten. Es war aber gerade der menschliche Faktor, der sich nicht unter ökonomische Fakten subsumieren ließ, der in Chiapas mit verzweifelter Gewalt ein Programm zum Einsturz brachte, das sich als menschenverachtend erwiesen hatte. Den sozialdarwinistischen Vorstellungen hochrangiger Regierungsberater wurde durch den Aufstand in Chiapas ein schwerer Schlag versetzt, da gerade die, die zu Almosenempfängern in nationalen Solidaritätsprogrammen degradiert wurden, ihre Würde als menschliche Wesen verteidigten und dies auch in allen ihren Kommuniques zum Ausdruck brachten; in Kommuniques, die die mexikanische Nation erschütterten.

»Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen«

Diese lapidaren Sätze Karl Marxens, der nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus von den neoliberalen Theoretikern noch mehr als toter Hund abgetan wird als vorher, bestätigen ihre Gültigkeit, solange die Tristesse der sozialen Verhältnisse die Verteidigung der menschlichen Würde mit Waffengewalt zu einem Anliegen macht.

Warum war es aber gerade Chiapas, die südlichste Provinz Mexikos, in der sich der Unmut gegen das Regime und seine Wirtschaftspolitik zuerst entlud? Gab es denn nicht auch noch andere Provinzen der mexikanischen Republik, in denen die selben sozialen Verhältnisse herrschten und die sich dennoch nicht dem Aufstand anschlossen? Diese Fragen sind legitim und notwendig, und nur eine eingehende Analyse der Verhältnisse kann Antworten auf sie finden. In dem heterogenen Spektrum Mexikos stellt Chiapas einen jener Bundesstaaten dar, in denen die sozialen Differenzen am ausgeprägtesten sind. Dabei darf nicht vergessen werden, daß es eigentlich drei Zonen in Mexiko gibt, die sich durch Produktionsformen und ethnische Zusammensetzung unterscheiden: Der Norden, geprägt von der spanischen Kolonisation, der kaum Rassenvermischungen kennt und seine landwirtschaftliche Produktion auf die U.S.A. ausrichtet; das Zentrum mit der Hauptstadt Mexico City, das sich durch einen durchgreifenden Mestizisierungsprozeß auszeichnet und mit dem nördlichen Monterrey das industrielle Herz Mexikos darstellt; und zuletzt den Süden, in dessen Bundesstaaten der höchste Prozentsatz an reinrassigen Indianern zu finden ist. Allein 885.000 der 6,4 Millionen zählenden indianischen Bevölkerung leben in Chiapas, in absoluten Zahlen nur übertroffen von Oaxaca, wo man 1,2 Millionen reine Indianer zählt. (»El Financiero«, 15. Jänner 1994) Anders aber als in anderen Bundesstaaten Mexikos war es in Chiapas nie zu einer durchgreifenden Bodenreform gekommen. Die Caudillos des Nordens, die die Revolution gewonnen hatten, akzeptierten das Friedensangebot, das ihnen die Haciendados und Finceros Chia-pas’ machten, und tasteten als Gegenleistung dafür, daß diese die politische Revolution anerkannten, die ökonomischen Besitzstrukturen im Süden nicht an. Die Kaffeeplantagen, zum größten Teil in deutschen Händen, und die Viehzuchthaciendas sind Latifundien, wie sie im restlichen Mexiko längst zu existieren aufgehört haben. Auch die sozialen Verhältnisse sind von einem Anachronismus geprägt, den die Revolution in anderen Gebieten überwunden hat. Es gibt in Chiapas an ihre Grundherren verschuldete Bauern und Taglöhner, die der persönlichen Gewalt ihrer Kaziken ausgeliefert sind, welche über die Gerichtsbarkeit und bewaffnete Banden verfügen, Instrumente, mit denen jeder Widerstand brutal unterdrückt wird.

Die Moderne in ihrer naturzerstörenden Variante plus Kaffeeelend plus Neoliberalismus ist gleich revolutionäre Situation

Kaziken nennt man im mexikanischen Spanisch die herrschende Schicht, die durch Generationen die Macht in ihren Gebieten ausübt und die in ihren Territorien geborenen Indianer wie Leibeigene behandeln. So hat z.B. das feudale Recht auf die erste Nacht mit den Töchtern ihrer Bauern die Jahrhunderte überlebt und ist noch auf einigen Fincas anzutreffen. Diese Verhältnisse lassen den Eindruck entstehen, als ob in Chiapas die Zeit stehengeblieben wäre, als hätte Gabriel Garcia Marques die Gegenwart eines der Dörfer von Chiapas zur Vorlage für seinen berühmten Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« genommen. Obwohl diese versteinerten Verhältnisse Grund genug für eine Rebellion gewesen wären, hätten sie doch alleine niemals zu den sozialen Eruptionen geführt, wie sie die ersten Jännertage gesehen haben. Tatsächlich war es erst die brisante Mischung aus Traditionalität und Modernität, die sich durch eine Modernisierung, die auf Kosten der Masse der Bevölkerung ging, gebildet hatte, welche in der sozialen Entladung explodierte. Denn zu den Jahrhunderte alten Ausbeutungsverhältnissen gesellten sich in den letzten dreißig Jahren neue Methoden der Vertreibung und Unterdrückung, die aufs engste mit Modernisierungsprozessen verbunden waren. In diesen dreißig Jahren wurden die wichtigsten Stauseen für Elektrizitätswerke gebaut, die die Parzellen der Indianer überschwemmten, ihnen ihre Existenzgrundlage raubten, während die Elektrizität in die industrialisierten Gebiete Mexikos exportiert wurde. Hatten in den siebziger jahren noch indianische Gemeinschaften Grund und boden im waldreichen Tiefland, der sogenannten Selva Lacandona erhalten, so erreichten bald schon große holzverarbeitende Industrien und Großkaufleute dieses Gebiet, um die dort vorhandenen Edelhölzer auszubeuten. Die Moderne in ihrer naturzerstörenden Variante hatte die Selva erreicht und ließ eine Wüste hinter sich, in der sich kaum mehr Landwirtschaft betreiben ließ, die ja ob der tropischen Böden schon immer prekär gewesen war.

Zum Bodenmangel breiter indianischer Schichten kam dann noch ab 1991 die internationale Krise des Kaffees. Diese Krise traf nicht nur die mittleren und größeren Kaffeeproduzenten, die fast durchwegs dem weißen Bevölkerungsanteil angehören und oftmals deutschstämmig sind, sondern auch die kleinen indianischen Produzenten, die aus der Kaffeeproduktion ihre einzigen monetären Einnahmen erzielten. Der Preis des Kaffees halbierte sich innerhalb kürzester Zeit, ja er sank am Höhepunkt der Krise sogar auf ein Drittel des Betrages, der noch einige Jahre vorher erzielt werden konnte. Sechzigtausend indianische Kleinbauern wurden durch diese Krise schwer getroffen und diejenigen, die sich als Landarbeiter auf den Fincas der größeren Betriebe verdingten, fanden kaum Arbeit oder mußten sich mit niedrigeren Löhnen zufrieden geben. Die triste Situation der ärmsten Bevölkerungsschichten hatte sich in eine hoffnungslose verwandelt. (Warmann, »La Jornada«, 16. Jänner)

Aber auch im Schoße indianischer Dorfgemeinschaften des Hochlandes von Chiapas kamen in den 70er Jahren Prozesse sozialer Differenzierung in Gang, die viele jüngere Mitglieder aus ihrem Dorfverband ausstießen. Dort waren es indianische Kaziken, die ein enges Verhältnis zur mexikanischen Zentralregierung und zur Staatspartei hatten, die die Dissidenten ihrer Dörfer, hauptsächlich jüngere Leute, deren politischer Protest sich in ihrer Zuwendung zu verschiedenen Spielarten des Protestantismus ausdrückte, aus ihren Dörfern vertrieben. Um dafür nur ein Beispiel zu geben: Seit 1974 wurden aus San Juan Chamula 30.000 Menschen vertrieben, die sich in die Selva oder die Elendsgürtel der zweitgrößten Stadt von Chiapas, San Cristóbal de las Casas, zurückzogen. Diese Vertreibungspolitik verfolgten auch andere indianische Kaziken des Hochlandes von Chiapas, die die Kontrolle über ihre Dörfer nicht verlieren wollten. Konstante Migrationen jüngerer Indianer waren die Folge, die durch die Umstände bedingt nicht nur Spanisch, sondern oftmals auch mehrere Indianersprachen sprechen. Von jeder Hoffnung, jemals eigenes Land zur Bebauung zu erhalten, abgeschnitten, blieb ihnen nur die Lohnarbeit in den Kaffeeplantagen oder Zuckerfabriken übrig. Aber die Krise verstellte ihnen auch noch diese letzte Möglichkeiten des Lebensunterhalts.

Die »Zapatistische Nationale Befreiungsarmee« setzt sich zum großen Teil aus diesen Jugendlichen zusammen, die in die Margi-nalität getrieben wurden. Sie haben mit dem traditionellen Bild von den Indianern der geschlossenen Dorfgemeinschaften wenig gemein, sondern sind ein Produkt der Modernisierungsprozesse, vielsprachig und mit Lohnarbeit wohl vertraut. Freilich teilen sie ihren Lebensraum mit den alten Fincas und Haciendas und ihren fast leibeigenen Bauern, mit den bewaffneten Banden der Grundherren und den repressiven Strukturen der Lokalregierung, die fast immer auf der Seite der Besitzenden und Kaziken steht.

Blutige Konflikte und Zusammenstöße zwischen diesen Indianern und den Pistoleros der Grundherren standen auf der Tagesordnung und prägten das Bild von Chiapas schon seit Jahren. Damit fügen sich diese Auseinandersetzungen in einer Reihe von Konflikten und Aufständen, die diese Provinz Mexikos schon seit der Kolonialzeit bestimmen. 1712 und 1713 gab es Aufstände der Tzeltalesindios Indianer gegen die spanische Kolonialherrschaft, 1869-70 erhoben sich die Tzotziles gegen die mexikanischen Lokalbehörden und noch 1976 gab es ein Massaker an ein paar hundert Indios, die mit der Bundesarmee in Konflikt geraten waren. Gewalt und Tod gehörten so in Chiapas schon seit jeher zum Alltag, weil es keine Traditionen gab, Auseinandersetzungen anders als mit den Waffen auszutragen.

Als der Aufstand von Chiapas Mexiko erschütterte, versuchte die Regierung zunächst, ausländischen, linksgerichteten Berufsrevolutionären die Schuld an den Ereignissen zu geben. Auch die katholische Kirche kam in den Ruf, den Aufstand unterstützt zu haben. Obwohl diese Versionen später widerrufen wurden, bleibt als einziges Körnchen Wahrheit übrig, daß die katholische Kirche in Chiapas den Aufbau indianischer Basisgemeinschaften gefördert und die Indianer in der Verteidigung ihrer Rechte unterstützt hat. Der Bischof von Chiapas, Don Samuel Ruiz, der gegen Ende der 60er Jahre in diese Provinz berufen wurde, bekehrte sich unter dem Eindruck der Verhältnisse und nicht zuletzt durch die Bischofskonferenz von Medellin zur Befreiungstheologie. Das heißt, daß er seit dieser Zeit überzeugt war, daß die Kirche der einzige Ort sei, in der die Indianer sich organisieren und zum Bewußtsein ihrer eigenen Lage kommen könnten. Indem die Theologie der Befreiung die Indianer in ihrem Kampf um Land unterstützte und ihre Menschenrechte verteidigte, geriet sie in immer stärkeren Gegensatz zu den Lokalbehörden und herrschenden Schichten Chiapas, die ihr subversive Tätigkeit vorwarfen. Kurz vor dem Ausbruch der Kämpfe sollte der als »Verteidiger der Indianer« bekannte Bischof Samuel Ruiz abgelöst und in eine andere Diözese versetzt werden. Gerüchte besagten, daß sich Präsident Salinas bereits mit dem päpstlichen Nuntius Prigione geeinigt hätte, den aufrührerischen Bischof zu neutralisieren, dessen soziales Engagement den Interessen des mexikanischen Staates wie auch des Vatikans zuwiderlief. Der mexikanische Präsident hatte noch Glück, daß aufgrund heftiger Proteste in mexikanischen Kirchen und Intellektuellenkreisen die Entscheidung vertagt wurde, denn heute ist Samuel Ruiz in diesem Konflikt einer der wenigen Vermittler, der auch von den Neo-Zapatisten anerkannt wird.

Wenn die katholische Kirche mit dem bewaffneten Aufstand auch selbst wenig zu tun hat, so schuf sie doch mit ihrer Arbeit die Basis dafür, daß die indianischen Gemeinden einen Bewußtseinswandel durchliefen, der sie die herrschende Situation nicht mehr als gegeben hinnehmen ließ. Politische Linksgruppierungen setzten das Werk der Aufklärung und des Widerstandes dort fort, wo die Kirche bestimmte Grenzen nicht überschreiten wollte.

Waren die Mexikaner vom Ausbruch der Kämpfe am Neujahrstag völlig überrumpelt, so überraschte die Stärke der Guerilla, die sich Befreiungsarmee nannte, noch mehr. Es waren an die zweitausend Mann, die die Städte San Cristóbal de las Casas, Ococingo, Altamirano und Margaritas eingenommen und der Zentralregierung den Krieg erklärt hatten. Sie verstanden sich nicht als Guerilla, sondern wollten als kriegsführende Armee anerkannt werden. Ihre Forderungen waren Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Bodenreform und eine Verbesserung des Gesundheitssystems. Bei der Besetzung der Ortschaften waren sie sehr gemäßigt orgegangen, sie stürmten nur die verhaßten Rathäuser und warfen Möbel, Schreibmaschinen und Akten aus den Fenstern, entführten den verhaßten ehemaligen Gouverneur General Absalon Ca-stellanos und plünderten Lebensmittelsupermärkte und Apotheken, weil sie deren Produkte für den täglichen Unterhalt und für die Verbesserung der sanitären Situation brauchten. Menschliche Opfer waren bei diesem Aufstand relativ wenig zu beklagen. Sie töteten in Ococingo lediglich vier Polizisten, als sie das örtliche Gefängnis stürmten und alle Häftlinge aus ihren Zellen befreiten. Zivilisten wurden von den Aufständischen nicht angegriffen und den Angestellten der Warenhäuser wurde der Raub der lebensnotwendigen Güter mit der Dringlichkeit der Umstände erklärt.

Ein Februar ’34 am Orinoco

Die Regierung Mexikos, allen voran aber Staatspräsident Carlos Salinas, traf der Aufstand wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sein Innenminister Petrocinio Gonzales-Garrido wußte zwar, daß sich in Chiapas, dessen Gouverneur er vor seiner Berufung zum Minister gewesen war, eine Guerillabewegung formierte, aber das Ausmaß dieser Bewegung wurde von seinen Agenten so völlig unterschätzt, daß er es unterlassen hatte, dem Präsidenten davon zu berichten. In Unkenntnis der realen Situation traf Salinas, gedrängt vom Innenminster und von ranghohen Militärs, eine folgenschwere Entscheidung: Er befahl den unverzüglichen militärischen Einsatz gegen die Rebellen, die als bewaffnete Banden, die vom Ausland gelenkt würden, denunziert wurden.

Am 2. Jänner traten die Soldaten der Bundesarmee zum Sturm auf Ococingo an, mindestens 38 Guerilleros starben im Kugelhagel, ehe die Rebellenarme sich in die Berge zurückzog. Der brutale Einsatz der Streitkräfte zeigte, daß die Rebellion die Regierung am Nerv getroffen hatte. Bilder im Fernsehen von getöteten Guerilleros, denen offensichtlich erst nach ihrer Festnahme der Todesschuß versetzt worden war, erschreckten und verunsicherten die mexikanische Öffentlichkeit. Im allgemeinen Klima einer demokratischen Öffnung war die Regierung auch nicht mehr in der Lage, die Zeitungen zu kontrollieren und Zensurmaßnahmen durchzusetzen. Die linksliberale Zeitung »La Jornada«, aber auch die Finanzzeitschrift »El Financiero« waren die Organe, in denen die Intellektuellen Mexikos die Lage in Chiapas analysierten und dies mit einer Freiheit taten, wie sie in solchen Situationen in kaum einem anderen Land der Welt möglich wäre. Man sprach offen von den anachronistischen Zuständen in Chiapas, von der Repression des Heeres und von der Notwendigkeit eines Waffenstillstandes, sowie von der Dringlichkeit sozialer Reformen. Die Sympathie der öffentlichen Meinung Mexikos neigte sich der Sache der Rebellen zu, wobei man Verständnis für die Gründe des Aufstands zeigte, wenn man auch die Waffengewalt selbst nicht billigte. Zu stark waren weite Teile der Mittelschichten von den neoliberalen Reformen in Form von Eigentumsverlusten betroffen, als daß man den Rebellen nicht gewisse Sympathien entgegen gebracht hätte. Sie waren es ja, die mit ihren militärischen Aktivitäten bewiesen hatten, daß es Zeit war, die neoliberalen Experimente zu beenden.

Mit einem feinen Gespür für die politische Stimmung im Lande, die eine sofortige Beendigung der Kampfhandlungen verlangte, ließ Präsident Salinas in der zweiten Jännerwoche einseitig die Angriffe des Heeres einstellen und verkündete am 16. Jänner eine allgemeine Amnestie für die am Aufstand Beteiligten. Mit der Entlassung seines Innenministers Patrocinio Gonzales-Garrido machte er den Wechsel von der harten zur weichen Linie deutlich, was durch die Ernennung von Manuel Camacho-Solis, der im Kampf um die Präsidentenanwartschaft nur knapp unterlegen war, noch unterstrichen wurde. Camacho, der als ehemaliger Bürgermeister von Mexiko eine populistische Linie verfolgt hatte und über gute Beziehungen zum linksoppositionellen PRD (Partido revolucionario democrático) verfügte, sollte in dieser schwierigen Situation für die Regierung die Kastanien aus dem Feuer holen. Aber selbst seine Kontakte zur Opposition nützten dem schlauen Fuchs diesmal wenig, der einzige, der in diesem Konflikt als wahrer Vermittler anerkannt wurde, war der zuvor so geschmähte Bischof von Chiapas, Samuel Ruiz.

Die Modernisierungspolitik der neoliberalen Führung hatte alle traditionellen Führungsschichten kaltgestellt, die auf der regionalen Ebene in den verschiedenen Bundesstaaten Vermittlerdienste hätten leisten können. Denn die Politik des mexikanischen Präsidenten richtete sich gegen den Einfluß alteingesessener Gewerkschaftsführer, Lokalpolitiker und überhaupt gegen die alte Garde des Systems, die es nicht gewagt hatte, eine radikale Reform der ökonomischen Strukturen durchzuführen, weil sie ihr als mit zu großen sozialen Kosten verbunden erschienen war. Auf eine kleine Gruppe von Technokraten gestützt, die alle durch ihre Kenntnisse in Ökonomie brillierten, hat das Regime Salinas die Sphäre der Politik vernachlässigt, die für das Gleichgewicht des Staates notwendig war. Während in der Regierungszeit von Salinas das ökonomische Kabinett nicht ausgewechselt wurde, gab es drei Innen-, drei Außen-, drei Erziehungs- und zwei Sozialminister. Da im mexikanischen System, das ganz auf die Person des Präsidenten zugeschnitten ist, das letzte Jahr der Regierungszeit immer das schwierigste ist, weil der alte Präsident dabei ist, seine Macht abzugeben, der neue aber noch nicht regieren kann, bewirkten die Ereignisse in Chiapas eine echte Krise des mexikanischen Regierungssystems.

Der Führer der Rebellen, der unter dem Namen Subkommandante Marcos den Zeitungen Interviews gab, betonte, daß ohne die Abhaltung offener demokratischer Wahlen das ganze System explodieren würde. Transparente und unverfälschte Wahlen waren ja schon seit Jahren die Forderungen der Oppositionsparteien, die das Ende der Einparteienherrschaft des PRI herbeiführen wollten. Auch die Forderungen der Rebellen nach sozialen Reformen, erneute Aufnahme von bodenverteilungen und Beteiligung der Indianer am Gesundheitswesen Mexikos finden heute in breiten Kreisen Mexikos Gehör. Der propagandistische Effekt, den der Subkommandante Marcos durch seine Verlautbarungen erzielt hat, ist nicht zu unterschätzen. »Sie haben uns keine andere Wählt gelassen,« und »besser mit dem Gewehr ehrenhaft zu sterben, als durch Ruhr, Typhus oder Diphterie«. Solche Aussagen treffen die Stimmung der Mexikaner, die immer schon ein sehr spezielles Verhältnis zum Tod hatten. »Wir werden niemals über die Zahl unserer Toten schweigen, aber auf diese Weise zu sterben ist eine Ehre für uns, die wir keine andere Wahl haben.« Diese Sprache und Denkweise knüpft an die Mexikanische Revolution an und an Emilio Zapata, den Helden des bäuerlichen Aufstandes in Morelos, der für die Bauernbewegung in Mexiko sein Leben gab. Dadurch, daß die Führer der Rebellion in Chiapas äußerst gemäßigt auftreten und auch nicht die soziale Revolution für ganz Mexiko verkünden, können sie breiter Sympathien der Öffentlichkeit sicher sein. Daß es nicht um die militärische Frage, sondern um Politik geht, darauf wies auch Marcos in seinen letzten Stellungnahmen hin:

Das Entscheidende in einem Krieg ist nicht die militärische Auseinandersetzung, sondern die Politik, die in dieser Auseinandersetzung ins Spiel gebracht wird.

Und die Politik der mexikanischen Regierung wird, genötigt durch die Ereignisse in Chiapas, eine Wende von 180 Grad durchmachen müssen, soll die Stabilität Mexikos nicht der Vergangenheit angehören.

Will der Präsidentschaftskandidat des PRI (der Staatspartei: Partido revolucionario institutional) Luis Donaldo Colosio die Wahlen in legitimer Weise gewinnen, so ist ein Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik der jetzigen Regierung unumgänglich. Die Frage sozialer Reformen wird im Mittelpunkt seiner Kampagne stehen müssen, was immer auch der ökonomische Preis dafür sein mag.

Aber auch die Aufständischen in Chiapas haben die Lehre aus den Niederlagen der lateinamerikanischen Guerillabewegungen gezogen. Obwohl die Gründe des Aufstandes in jenem Mexico profundo (in seinen jahrhundertealten Tiefenstrukturen) zu suchen sind, dem der berühmte mexikanische Anthropologe Guil-lermo Bonfil ein Buch gewidmet hat, sind die Kommuniques der Rebellen von einem Witz und einer Leichtigkeit gekennzeichnet, die einen Bruch mit der dogmatischen, moralisierenden Sprache früherer Bewegungen darstellen. Insofern kann durchaus behauptet werden, daß das Denken der Aufständischen von einer Modernität geprägt ist, die in spielerischer Weise mit den Massenmedien umgehen kann und sich ihrer bedient. Nicht zu unrecht hat Carlos Fuentes erst kürzlich gesagt, daß die Rebellen mehr mit Carlos Monsivais, dem großen mexikanischen Satiriker, zu tun hätten, als mit Carlos Marx.

Offensichtlich ist, daß der limitierte Gebrauch von Waffengewalt, verbunden mit einer adäquaten Propaganda, das System mehr erschüttert hat, als der bloß murrende Unmut der Mittelschichten. Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik hat Carlos Salinas nicht davor bewahrt, als jener Präsident in die Geschichte des nachrevolutionären Mexiko einzugehen, der erstmals die Armee zum Angriff auf Indianerdörfer einsetzte und das System in eine schwere Krise führte.

Noch ist nicht ganz ausgeschlossen, daß die derzeitigen Friedensverhandlungen scheitern und wieder der militärischen Aktion der Vorzug gegeben wird. Für die Stabilität Mexikos hätte jede Lösung, die nicht auf dem Verhandlungsweg erzielt würde, verheerende Folgen. Der Demokratisierungsprozeß würde um Jahre zurückgeworfen und Mexiko verlöre seine politische Glaubwürdigkeit im Konzert der Nationen. Viel wahrscheinlicher erscheint freilich die mexikanische Lösung, daß das nächste Sextenium eines der sozialen Reformen sein wird, indem man versucht, den Scherbenhaufen noch einmal zu kitten.

Die erste postkommunistische Erhebung hat aber auch der Welt gezeigt, daß der Neoliberalismus in seiner radikalen Variante zu sozialen Unruhen führt, die die politische Stabilität gefährden. Was heute in Chiapas geschieht, könnte sich morgen, in anderer Weise, in Rußland wiederholen, dann aber mit unabsehbaren Folgen für Europa.

Literatur:

  • A. Warman, Chiapas hoy, »La Jornada«, 16.1.1994;
  • N. Chomsky, El alziamiento zapatiste, »La Jornada«, 19., 20.1.1994;
  • A. Garcia de Leon, Relampagos de enero, »La Jornada Semanal, Num. 242, 30.1.1994;
  • »El Financiero«, Informe especial, 15.1.1994;
  • »Reforma«, Beiheft Nr. 2, 5.2.1994: La Crónica;
  • und viele weitere Artikel in »La Jornada« und »El Financiero«
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