Streifzüge, Heft 30
März
2004

Das Kampfhundsyndrom

Kurzer Versuch über eine verheerende alltägliche Unauffälligkeit im kritischen Betrieb

Schatten an der Wand

In Wirklichkeit ist es nicht ganz leicht so mitten in der Gesellschaft darüber zu reden und zu schreiben, obwohl es viele tun und auf die Schwierigkeit nicht wirklich achten. Wer sich nämlich theoretisch zu Vorgängen und Zuständen in der Gesellschaft äußert, erst recht wer nicht wie meinereins in diesen Künsten eher dilettiert, sondern daraus wirklich Wissen schaffen will, der pflegt meist von sich abzusehen, er (weil Theorie entgegen der Grammatik vor allem männlich ist) nimmt seinen Platz im Jenseits ein – und analysiert die Gesellschaft gern so, als wär er nicht dabei. Das ist jedoch fiktiv und führt zu Fiktionen, denn das Jenseits des Denkens ist bloß ein logischer Ort. Wer sich an diesem Ort, als wäre er real, sein Leben einzurichten wähnt, geht in seinem Denken fehl, ist para-noid. Denn von seiner Fiktion aus bleibt sein Ich unentdeckt und alles das im Schatten, was ihm zu nahe steht.

Unser Zugang zur Erkenntnis der Gesellschaft ist nicht zu trennen von unserer Sym-pathie, vom Mitbetroffensein vom Gegenstand der Erforschung. Und jedes Ergebnis, alles, was wir im sozialen Leben allgemein erkennen, analysieren, als widersprüchlich und als Quelle von Leid benennen, kritisieren und als zu Änderndes markieren, ist auch auf uns selber zu beziehen. Dass dieser Rückbezug (die Reflexion) oft ausbleibt, trägt wohl dazu bei, dass der persönliche Umgang auch linker Kritiker der Gesellschaft miteinander und mit anderen nur allzu oft in kaum geringerem Maß als das Verhalten aller anderen auch von allem dem bestimmt ist, was sie an der Gesellschaft kritisieren.

Je näher nämlich auch kritische Denker in ihrem Bemühen dem eigenen Ich und seinem Handeln kommen, desto leichter scheinen sie den heißen Widerschein der eigenen wunden Seele, in deren malträtierte Tiefen das Warensubjekt zwecks Wahrung seiner Contenance nicht schaut, mit der Sonne der Erkenntnis zu verwechseln. Im Flackern jener Flammen gerät die Sicht leicht zum Schattenspiel wie in Platons berühmtem Höhlengleichnis. Dort erkennen die Bewohner, mit starren Blicken auf die Höhlenwand, im Feuerschein nur ruhelose Schatten, diejenigen von Dingen, die hinter ihnen vorbeigetragen werden, sowie den eigenen und die ihrer Mitbewohner. Sie haben keine Ahnung von der Räumlichkeit, den Größenordnungen, den Farben und auch von der Zuordnung der Stimmen nicht, die zu ihnen dringen, sowie von allen darin liegenden Beziehungen und Trennungen – und demgemäß sind ihre Vorstellungen von dem, was sie umgibt.

Pathogen und Pathologisch

Die abstrakte Wertverwertung, der Imperativ, dass eingesetztes Kapital sich ohne Rücksicht auf Mensch und Natur vermehren oder aber verloren gehen muss, kann sich als Prinzip der Warengesellschaft nur verallgemeinern, wenn sie die Psyche der Menschen zu gleicher rücksichtsloser – und leerer – Dynamik transformiert. Alles, was im Lauf der Geschichte Warenform annimmt, tendiert dazu, statt Stillung eines Bedürfnisses ein Surrogat von Befriedigung eines diesem Surrogat angepassten Bedarfs zu werden, damit der Kreislauf von Kauf und Verkauf auf größerer Stufenleiter immer rascher weitergeht. Für den Waren- Menschen darf es keine Ruhe geben, er muss permanent ausrasten, wenn er dem adäquat sein soll. Erfüllung und Genuss werden unerreichbar, Erfolg wird zur lächelnden Verzweiflung dessen, der immer noch im Rennen ist. Für ein solches Dasein konstituiert sich das Ich am angepasstesten als Konkurrenzsubjekt mit Kampfhundqualität. Lebensmut heißt da die Bereitschaft andre rauszubeißen. Ich oder du ist die Parole, ein Wir meint keine Freunde, es definiert sich bloß gegen Feinde, was beiden Seiten ganz geläufig ist. Das Opfer ist nur allzuoft ein unterlegener Täter und schließt sich diesem an, um selber wieder auszuteilen. Wer nicht an irgendjemand Rache üben kann, ist aus dem Spiel.

Dass eine solche Welt pathogen sein muss, ist als allgemeines Faktum so schwer nicht zu verstehen, damit aber, dass Pathologie von Leiden handelt, an denen eins selber krankt, lässt sich viel schwerer umgehen, denn „pathologisch“ zu sein, blamiert, schlimmer noch: es ist eine böse Schwäche, ein schlimmer Vorwurf, und was uns da einzig noch zu trösten pflegt, wenn uns Selbsterkenntnis überwältigt haben sollte, ist die Hoffnung, dass es Beschämtere und Schwächere gibt (und seien es nur diejenigen, denen eins beweisen könnte, dass ihnen ihr eigener Zustand noch nicht klar ist). Denn wir erleben uns nicht einfach als angesehen, geliebt, missachtet und gehasst, sondern ganz wesentlich als mehr oder weniger als andere davon betroffen, im Korsett eines beständigen Komparativs, der unsere Eigenart nach anderen bemisst. Diese Gesellschaft ist nämlich so konstruiert, dass dein Unvermögen mich erst erfolgreich macht und dein Unglück nur durch mein größeres Leid noch lebbar ist.

Das mag in dieser Allgemeinheit einleuchten, doch wie eins mit dieser Lebensfeindschaft im eignen Leben umgeht, ist damit noch lange nicht gelöst. Der Analytiker mag Zustand und Zusammenhänge sehen und treffend drüber sprechen – und doch das Muster in sich selbst im Dunkeln lassen. Aus der Sicht des Schreibers und Publizisten ist dieses Nicht-Beleuchten auch leicht verständlich – der Rückbezug ist kein Licht fürs Publikum, er drängt ins eigne Leben, was oft recht schmerzlich ist. Und es ist keineswegs gesagt, dass so ein denkender und schreibender Mensch sich auch hier darum bemüht, eine Leuchte zu sein. Hier ist eins gern einmal privat, wenn der Vortrag gehalten oder der Computer heruntergefahren ist – und er wieder auf sich selber und die anderen losgelassen ist – und die anderen auf ihn.

Schämen und Beschämen

So bleibt der Kritiker trotz all seiner jenseitigen Erkenntnis überwältigt von seiner diesseitigen Unterworfenheit (Subjektivität) unter das, was er nur im Allgemeinen kennt. Wenn er wieder „hinaus ins feindliche Leben“ muss, wird ihm, was er an Erkenntnis hat, unter der Hand zu einer scharfen Waffe, sobald Gelegenheit sich bietet. So viel anderes hat ein Theoretiker ja wirklich nicht zur Hand, um sich für die Kampfarena tauglich zu machen, wenn er sich im modernen „bellum omnium contra omnes“ behaupten will, als Formulierungskunst, Auftreten und – nicht selten ein Kick nach oben in der Bewertung – Bereitschaft zum Verletzen. Erkenntnis, Wissenschaft formuliert sich im banalen Alltag nicht ungern als Sieg im Kampf gegen Ignoranten und Beschränkte, die der verdienten Lächerlichkeit preiszugeben sind. Wenn eins sich damit auf Märkten gut verkauft (ob die nun so heißen oder bloß so funktionieren), ist die Versuchung, sich in Visier und Rüstung die Selbsterkenntnis zu verbauen umso größer. Umgekehrt beschränkt auch die Furcht vor der Häme der „Gegenseite“ Horizont und Fortgang der (Selbst)Erkenntnis. Zugleich wird auch die „eigene Seite“ von der Konkurrenz verheert. Sich lächerlich machen kann eins im intimsten Kreis. Kampfhunde beißen auch im eigenen Rudel.

Auch wer all das bloß im Einzelfall beklatscht oder nur leidet, wegschaut, bagatellisiert, ein wenig doch versteht, Appeasement übt oder auf eine der tausend andern Arten die Augen zumacht (bis eins selber vielleicht auch noch Gelegenheit erhält zum Biss), tut bei dem Treiben mit, und dieses Treiben schädigt mit dem Zerreißen des Zusammenhangs von Ich und Gesellschaft durch das Verweigern der Analyse des Ichs die Erkenntnis der Gesellschaft und die Aussichten sich und sie zu ändern.

Heilung, Rebellion und gutes Leben

Auf der Ebene des Individuums ist wohl die unverstandene, uneingestandene, notwendig unbefriedigte, hoffnungs- und schrankenlose Gier des Warenmenschen nach Zuneigung und Angesehen-Werden der Treibsatz solcher sozialen Destruktivität und der damit verbundenen Kastration von Erkenntnis. Doch gibt es auf dieser Ebene überhaupt Hoffnung auf Besserung? – Ein allgemeiner Ansatzpunkt aus der Malaise herauszukommen ist wohl, dass das Individuum in seiner Warensubjektivität so wenig aufgeht wie die Gesellschaft im Wertverhältnis. Neuland zu gewinnen ist also denkbar und die Energie dazu als potentielle durchaus vorhanden. Als solche ist sie doppelköpfig – es ist dieselbe wie die der Destruktivität, sie liegt im Leid an den Verhältnissen in mir selbst. Kommt sie für Seelenheilung in Bewegung, kann sie zum Licht werden, das die eigene Krankheit sichtbar macht, die unerlaubte, mühsam oder routiniert versteckte Auszehrung und Schwäche. Als landläufige Psychotherapie gilt Seelenheilung als ein immanentes Verfahren der Nachjustierung, der Nachrüstung für das „Survival of the Fittest“. In kritischer Absicht müsste sie die Erklärung des Leidens, das Individuen sich und anderen ganz alltäglich antun, aus der Destruktivität unserer Anpassungsleistung (ob noch einigermaßen funktional oder schon ganz defekt) an Verhältnisse, die menschenfeindlich sind, leisten und Wegmarken der Rebellion gegen die Kränkung setzen, die aus jenen stammt. Die unerkannte Krankheit unserer Psyche behindert auch den Prozess der Erkenntnis, was denn ein gutes Leben für uns sei, verlegt die Suche nach dem Wohlbefinden, leitet uns um auf den „Weg zum Sieg“.

Schon die ersten Schritte eines Heilungsprozesses können wir jedoch nicht in Vereinzelung tun, sondern nur im Rahmen und Schutz von Vertrauen und Gemeinschaft schafft es eins sich auf diese Ebene der theoretischen und praktischen Kritik einzulassen, sie zu beziehen und auszubauen. Wird dies ignoriert, bricht früher oder später die Destruktivität durch gegen alle „instrumentelle Vernunft“ und „Sachlichkeit“, ja sie hämmert aus ihnen noch die Messer. Wann auch immer Menschen kritische Gedanken fassen, wo und wie auch immer eine soziale Befreiungsbewegung sich formiert – wir werden nicht weit kommen, unseren Zusammenhang untereinander nicht gewinnen und nicht wahren können ohne kritischen Blick in und ohne den Prozess der Heilung von uns selbst. Ich denke nicht zuletzt so, weil ich mich ein wenig kenne und in alledem, was ich hier schreibe, auch selbst als Täter-Opfer befangen bin und nach Befreiung suche.

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