Streifzüge, Heft 53
Oktober
2011

Dein Schulbuch lügt

Wie die Schule systematisch eine Traumwelt schafft – Kapitel „Arbeit“

Kaum hast du als Schüler die Schule verlassen, ganz gleich mit welcher Qualifikation, musst du einen Beruf erlernen oder dir zumindest eine Arbeit zulegen. Wozu eigentlich?

Was Arbeit eigentlich ist …

Dass Arbeit kein Vergnügen ist, weiß jeder. Ganz für sich genommen und unabhängig davon, wie auf sie in unserer Arbeitswelt Bezug genommen wird, ist Arbeit nichts weiter, als seinen Körper und Geist ganz auf die Erledigung einer gestellten Aufgabe zu richten. Oder anders gesagt: Irgendwas muss erledigt werden, und dann macht man es halt. Dabei gibt es Aufgaben, die viel körperliche Anstrengung und/oder viel geistige Konzentration erfordern, es gibt welche, die sich schnell erledigen lassen, welche, die regelmäßig aufs Neue anfallen, es gibt monotone und anregende Arbeiten.

Dabei haben alle Varianten gemeinsam, dass ihr Ziel die Erledigung der Aufgabe ist. Dann ist die Arbeit getan und man hat sie nicht mehr. Wer keine Arbeit hat, kann sich freuen, denn er hat Zeit zur freien Verfügung.

In einer Marktwirtschaft sieht das leider anders aus. Wer hier keine Arbeit hat, freut sich nicht, denn er hat auch kein Einkommen, und somit Not, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wer jedoch arbeitet, tut dies in erster Linie, um Geld zu verdienen und nur in zweiter Linie, um Aufgaben zu erledigen. Arbeiten ist somit sein einziges Mittel, um an Geld zu kommen, da dieses wiederum sein einziges Mittel ist, um an Güter zur Bedürfnisbefriedigung zu kommen.

Auf diese Weise erhält Arbeit in unserer Gesellschaft einen anderen Charakter: Statt die Erledigung einer Sache zu meinen, steht sie dafür, dass sich Menschen für Geld (Lohn) in den Dienst anderer Menschen (Arbeitgeber) begeben.

… und wozu sie gut ist

Es ist zunächst nichts dagegen einzuwenden, dass jedes Mitglied einer Gesellschaft so gut es eben kann, seinen Beitrag zu ihr leistet. Und das Sozialkundebuch der Sekundarstufe I erklärt auf S. 134 auch, warum Arbeit gut ist: „Die Hauptaufgabe von Arbeit und Wirtschaft liegt in der Erfüllung der materiellen Bedürfnisse des Menschen.“ [aus: Mensch und Politik S I, Band 1, 2005 Bildungshaus Schulbuchverlage (Schroedel)]

Wir erfahren wenige Seiten später, dass wir in einer „modernen Industriegesellschaft“ leben, die sich durch „Arbeitsteilung“ auszeichnet. Eine farbenfrohe Grafik zeigt, dass in unserer Wirtschaft ein reges Geben und Nehmen herrscht. Jede der vier beteiligten Parteien (das sind: Banken, der Staat, die Haushalte und die Unternehmen) gibt den anderen Parteien etwas und erhält von diesen dafür etwas anderes zurück. Was nach der „Hauptaufgabe“ dann die „Nebenaufgabe“ sei, wird allerdings verschwiegen.

Das Schulbuch malt hier ein idyllisches Wunschbild, wenn es behauptet, es sei die Aufgabe von Arbeit und Wirtschaft in unserem kapitalistischen System, die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen.

Jedes Wirtschaftsleben in einer Gesellschaft sollte diesem Zwecke dienen, das ist richtig – doch wie sieht es mit der Realität in unserer freien Marktwirtschaft aus? Stellen Arbeitgeber etwa Leute ein, um deren materielle Bedürfnisse zu befriedigen?

Vergeben sie nicht vielmehr nur dann einen Arbeitsplatz, wenn die Arbeit ihnen Gewinne in Geldform verschafft? (Und sobald diese Gewinne ausbleiben, ist es auch sofort wieder vorbei mit den schönen Arbeitsplätzen.) Nicht einmal der Staat erhält die marktwirtschaftliche Ordnung deswegen aufrecht, damit die Leute kriegen, was sie zum Leben brauchen. Allenfalls achtet er darauf, dass die Menschen das Nötigste erhalten, um auf dem Arbeitsmarkt brauchbar zu sein. Sein Grund, diese Wirtschaftsform zu betreiben liegt ebenfalls in der Geldvermehrung – da geldwerter Reichtum seine Macht- und Handlungsgrundlage ist.

In der Tat ist es so, dass viele Menschen in unserem Wirtschaftskreislauf Geld erhalten und damit materielle Bedürfnisse befriedigen können. Doch das ist noch lange kein Grund, diese Realität gleich als Zweck zu missinterpretieren (soviel Aufrichtigkeit beim Argumentieren sollte schon sein).

Deshalb muss der Schulbuchsatz korrekt lauten: Die Hauptaufgabe von Arbeit und Wirtschaft liegt in der Vermehrung von geldwertem Kapital, wobei sozusagen als Nebenaufgabe die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen bewältigt wird.

Genauso, wie es Realität ist, dass viele Menschen mithilfe dieses Systems an ihre Lebensmittel gelangen, ist es auch Realität, dass die Funktionsweise dieses selben Systems gleichzeitig sehr viele Menschen davon ausschließt, an ihre Lebensmittel zu gelangen. (Hier erhält man übrigens eine erste Ahnung davon, warum Armut hierzulande kein „bedauerlicher Unfall“ ist, sondern notwendig von Marktwirtschaft und Kapitalismus verursacht wird; wie das im Einzelnen geht, wäre gesondert auszuführen.)

Warum die Schule lügt …

Wenn im Schulbuch die Wunschbild-Definition von Arbeit und Wirtschaft steht anstelle der korrekten, so liegt der Grund darin, dass die Schüler ja später selbst mal ihren Platz im Wirtschaftskreislauf einnehmen sollen: sei es als Arbeitgeber, Arbeitnehmer oder Arbeitsloser. Dafür ist es aber wichtig, dass sie das Leben mit – oder ohne – Arbeitsplatz im Prinzip in dieser Wirtschaftsform gut finden.

Wenn – und solange – sie daran glauben, dass diese Arbeits- und Wirtschaftsweise zur Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen dient, werden sie sich auch weiterhin freiwillig und protestlos in den fremdbestimmten Dienst zur Gewinnvermehrung ihrer Arbeitgeber einspannen lassen.

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