Grundrisse, Nummer 44
Dezember
2012
Zur Kritik der Religionskritik, oder:

Der Glaube an den Kommunismus

Es gehört zum guten Ton in der (radikalen) Linken, atheistisch zu sein. Zum einen fußt dieser Atheismus auf einer Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen, zum anderen ist er durch die Kritik an religiösen Institutionen, in unseren Breiten meist christliche Kirchen, motiviert. Ob Kreuzzüge, die herrschaftliche Rolle der katholischen Kirche über hunderte von Jahren, Hexenverbrennungen, die Rechtfertigung von Kolonialismus und Sklaverei, aber auch die Verstrickung in die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus, die Aufrechterhaltung einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung durch die Propagierung einer antiaufklärerischen, patriarchalen Moral, die Ablehnung von Empfängnisverhütung und des Rechts von Frauen auf Abtreibung: Es gibt wahrlich genug Gründe, gegen die Institution Kirche zu opponieren – und sie sind mannigfaltig und gut belegt.

Auch der oben genannte erste Aspekt linker Religionskritik hat eine lange Tradition. Im Unterschied zu göttlicher Vorhersehung und der Verheißung eines Lebens nach dem Tod war und ist es zentraler Einsatz einer materialistischen Kritik, die Diesseitigkeit menschlicher Verhältnisse in Stellung zu bringen und so die Verschleierung profaner Interessen zu denunzieren. Dagegen wurde die Selbstbefreiung der Unterdrückten von ebenjenen weltlichen Herrschaftsformen propagiert. „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun; uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“ lautet eine berühmte Zeile der „Internationale“. Und kein geringerer als Marx erklärte in seiner berühmten Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“: „... Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ (MEW 1, 378) Freilich meinte er im Satz davor auch „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt ...“ (ebd., Herv. i. O.). Darüber wäre wohl auch 2012 noch zu diskutieren. Marx ging, im Gefolge Feuerbachs, davon aus, dass mit der Aufklärung breiter Bevölkerungsschichten über die ideologische Funktion sowie die wissenschaftliche Unhaltbarkeit religiöser Vorstellungen die „Kritik der Religion im wesentlichen beendigt“ wäre. Die Wiederkehr der Religiosität seit Ende des 20. Jahrhunderts straft dies Lügen. Hier sollen jedoch nicht die Gründe dafür analysiert werden, vielmehr möchte ich einerseits die Unzulänglichkeiten materialistischer Religionskritik skizzenhaft in den Blick nehmen und andererseits das eine oder andere Schlaglicht auf die Geschichte jener emanzipatorischer Bewegungen werfen, die sich aus religiösen Motiven speisen. Damit sollen provisorische Eckpunkte abgesteckt werden, innerhalb dessen sowohl über die notwendige Erneuerung der Religionskritik gesprochen als auch die Rolle des Glaubens im Rahmen einer Theorie und Praxis der Befreiung neu überdacht werden kann.

Wesentlicher Einsatz einer erneuerten Religionskritik muss eine exakte und klar abgegrenzte Verwendung von Begriffen sein. In linken Zusammenhängen hingegen werden „Religion“, „Gott“, „Kirche“ und „Glauben“ oft und gern synonym verwendet. Im Glauben der eigenen Überlegenheit über ideologische Formen, die sich an einem „höheren Wesen“ oder einem „Leben nach dem Tod“ orientieren, wird in klassisch aufklärerischer Manier meist eine naturwissenschaftlich-rationalistische Position bezogen, die die oben genannten Kategorien schlicht und einfach ins dunkle Reich des Irrationalen verbannt – und sich selbst dagegen auf der Seite der Vernunft wieder findet. Sowohl in der Geschichte der Naturwissenschaften als auch in jener der ArbeiterInnenbewegung ist dieser Begründungszusammenhang hegemonial; gerade in letzterer jedoch hat dies zu einer Blindheit gegenüber dem in den eigenen Institutionen fortlebenden religiösen Geist – an dieser Stelle sei beispielsweise an die Ikonografie der frühen ArbeiterInnenbewegung oder aber an die Prozessionen zum ersten Mai erinnert, von der quasi-kirchlichen Hierarchie so mancher Parteiorganisationen ganz zu schweigen. Ein weiterer Effekt war oft auch die Abqualifizierung offen religiöser Formen von emanzipatorischem Widerstand; von antifaschistischen ArbeiterInnenpfarrern bis hin zur Befreiungstheologie. Diesen Formen wurde eine progressive Rolle in sozialen Kämpfen wenngleich nicht abgesprochen, so doch lediglich trotz ihres religiösen Glaubens zugestanden.

Gegen diese Tendenz ist auf die materielle Kraft des Glaubens zu beharren, auf die politische Stärke, die gerade wegen einer gelebten Religiosität wirksam werden konnte und kann. Durch eine solche Verschiebung des Blicks wäre es meines Erachtens möglich, sowohl die unsichtbaren Barrieren zwischen religiösen und nicht religiösen fortschrittlichen Kräften abzubauen und neue Bündnisse im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu schließen als auch die real existierenden Glaubensbestandteile nicht religiöser Bewegungen und Institutionen anzuerkennen: sei es, um sie besser kritisieren und überwinden zu können oder aber um einen reflektierten Umgang mit ihnen zu ermöglichen – oder gar die Anerkennung von positiven Wirkungen auf kollektive Widerstandsformen gegen die Zumutungen des gegenwärtigen Kapitalismus.

Glaube, Gott, Kirche & Religion, oder: Es ist alles sehr kompliziert

Zunächst möchte ich zur Frage der unzureichenden Trennungen zwischen mit Religion in Zusammenhang gebrachten Begriffen zurückkehren. Unter der Hand habe ich mich ja im vorangegangenen Absatz schon auf die Kategorie des „Glaubens“ eingelassen – nicht zuletzt, da ich überzeugt bin, dass diese im Gegensatz zu den anderen oben genannten, nämlich „Gott“, „Kirche“ und „Religion“ tatsächlich ein unhintergehbarer Bestandteil jeder menschlichen Vergesellschaftung ist. Während Gott, Kirche und Religion unterschiedliche Elemente eines – in unseren Breiten hegemonialen – christlichen Begründungszusammenhanges darstellen (manche Religionen anderer Weltgegenden kennen die Vorstellung eines Gottes nicht, schon gar nicht in einer personifizierten Form), ist die Form des Glaubens eine Art des Welterschließens, die nicht einfach positivistisch jener des Wissens entgegengestellt werden kann. Auf die epistemologische Dimension dieser Unterscheidung kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden, ich möchte nur auf einige der zentralen Folgen einer vermeintlich gesicherten und klar durchführbaren Trennung zwischen ihnen verweisen – nicht zuletzt, da diese Trennung sowohl brutale Ausschlüsse gesellschaftlicher Natur als auch ein stark verkürztes Wissenschaftsverständnis nach sich zieht; beide Probleme lassen sich übrigens auch im Rahmen von Fehlentwicklungen linker Bewegungen festmachen.

Anhand der drei zentralen Begriffe Gott, Glaube und Religion werde ich versuchen, ein wenig Ordnung in die oft verwirrte Debatte zu bringen. Zugegebenermaßen fußt diese Intervention auch auf einer strategischen Überlegung, nämlich meiner Unzufriedenheit mit vielen Formen linker Religionskritik. Diese wiederum, und das versuche ich im Folgenden zu zeigen, fußt selbst wiederum auf einer unklaren Verwendung ebenjener Kategorien. Mein politischer Einsatz ist dabei der Versuch, eine verkürzte Religionskritik kritisch zu durchleuchten, um einerseits eine sinnvolle Debatte überhaupt erst möglich zu machen und andererseits die real existierenden Formen des Glaubens in den unterschiedlichen Zusammenhängen der Linken sichtbar zu machen – sei es, um diese effektiv politisch kritisieren zu können oder auch um die eine oder andere dieser Glaubensformen reflektiert anzunehmen und im Rahmen einer radikalen praktischen Gesellschaftskritik wirksam werden zu lassen. Dabei möchte ich mich dezidiert nur mit den oben genannten FORMEN in einer verallgemeinerten Stufe der Abstraktion beschäftigen, nicht aber mit konkreten Glaubensinhalten, religiösen Institutionen oder Gottesvorstellungen. Eine gewisse Orientierung der Religionskritik an den Formen der christlichen Religion wird dabei jedoch sowohl aufgrund des historisch-kulturellen Gepäcks des Verfassers als auch der mannigfaltigen Fortwirkungen ebenjener in der europäischen Gegenwart (und nicht nur dort) unvermeidbar sein.

„Wer nichts weiß, muss glauben“, wie es im atheistischen Volksmund so schön – und falsch – heißt. Die implizierte Verbindung zwischen Gott, Glauben und Religion ist hierbei, dass sich alle drei der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit ihres Wesens bzw. ihrer Effekte entziehen. Diese werden im Rahmen einer halbierten Theorie der Ideologie dann der letzteren zugewiesen – und somit bestenfalls in das Fach „falsches Bewusstsein“ eingeordnet oder aber gleich pathologisiert. Um dieses Geflecht zu entwirren und die durchaus unterschiedlichen Bedeutungsinhalte der genannten Begriffe einer kritischen Bearbeitung zuzuführen, sollen sie zunächst jeder für sich provisorisch definiert werden, um dann ihre Verbindungslinien wie ihre Differenzen nachzeichnen zu können.

Gott ist das – nicht selten personifiziert gedachte – allmächtige Prinzip des Daseins schlechthin. Seine Entscheidungen sind von Menschen und anderen Lebewesen wie auch von Bestandteilen der nicht belebten Natur nicht beeinflussbar. Gott ist weiters der Garant für eine mithin in Aussicht gestellte Überschreitung des biologischen Lebens nach dem Tod; dies ist oft auch mit erlösenden Aspekten verbunden.

Glaube ist ein wissenschaftlich nicht begründbares Verhalten von menschlichen Individuen und Gemeinschaften. In seiner religiösen Form ist er auf Gott bezogen und in der Hauptsache auf diesen ausgerichtet. Seine Wirksamkeit kann zwar definitiv keine Berge versetzen, jedoch – im menschlichen Maßstab – sogar noch „größere“ Taten vollbringen, wie z.B. blutige Eroberungskriege führen oder aber einer herrschaftlich verfassten Gesellschaft durch die Kraft kollektiven Glaubens Widerstand leisten. Ausgangspunkt des Glaubens ist das Sich-Nicht-Abfinden mit der Intransparenz vieler gesellschaftlicher Verhältnisse sowie mit der Faktizität des Todes.

Religion ist die menschlich-gesellschaftliche Institution des Glaubens an Gott. In der Religionsgemeinschaft finden sich Menschen gleichen oder zumindest ähnlichen Glaubens zusammen. Diese Zusammenkünfte sind meist stark emotional aufgeladen und können – im Guten wie im Schlechten – bis hin zu den oben zitierten Großtaten führen. Die Religion gibt außerdem dem religiösen Glauben Stabilität über die durch sie garantierte Verbindlichkeit und Einheitlichkeit der Auslegung der heiligen Schrift(en).

Selbstverständlich erheben diese provisorischen Definitionsversuche keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sollen lediglich einem verbesserten Verständnis hinsichtlich der gegenseitigen Abgrenzung dienen. Im Weiteren wird auch ausschließlich auf den Begriff des Glaubens und seiner möglichen (politischen) Bedeutungen abgestellt. Meine Ausgangshypothese war ja, dass der Glaube nicht nur kein Hindernis, sondern nachgerade ein zentraler und unhintergehbarer Aspekt der Wirksamkeit sozialer Bewegungen ist. Bewusst spreche ich dabei nicht alleine vom religiösen Glauben, sondern vom Glauben im Allgemeinen. Wesentlich scheint mir dabei jedoch die Dimension der Kollektivität: Ein Glaube, der ganz in der postmodernen Form der Individualisierung sämtlicher Lebensbereiche lediglich als eine Lifestyle-Facette auftritt, kann und wird keine Rolle im Rahmen sozialer Bewegungen spielen. Einzig und allein der mit anderen Menschen geteilte Glaube kann tatsächlich Berge versetzen – zumindest jene An- und Aufhäufungen von Geld, Wissen und Macht, die für die extremen Ungleichheiten des postfordistischen Kapitalismus so typisch sind.

Revolutionärer Glaube

Gerade auch der ArbeiterInnenbewegung ist die Orientierung an Glaubensformen (und -inhalten) nicht fremd. Auf der einen – wohl nicht zu affirmierenden – Seite finden sich die im schlechten Sinne religiösen Bekenntnisrituale der stalinistischen Parteiapparate (samt Inquisition), auf der anderen Seite die reflektierte Übernahme von Glaubensmotiven in eine Theorie der Befreiung. Zwei jener Strömungen sollen an dieser Stelle genannt werden, nämlich die Befreiungstheologie und zum anderen die Rolle, die der jüdischen Messianismus in den minoritären linken Strömungen der ArbeiterInnenbewegung des 20. Jahrhunderts gespielt hat. Da ihre ausführliche Darstellung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, möchte ich nur schlagwortartig auf wichtige Aspekte eingehen. Im Anschluss an diesen Artikel finden sich Hinweise auf ausgewählte weiterführende Literatur zu diesen Themenfeldern.

Den Protagonisten der Verbindungslinie von jüdischem Messianismus und revolutionärer Linker hat Michael Löwy in seiner wichtigen Studie „Erlösung und Utopie“ ein Denkmal gesetzt. Viele philosophische Denker des jüdischen Messianismus standen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zufällig der radikalen Linken nahe. Aus der religiösen Tradition des Judentums heraus argumentierten und analysierten Denker wie Walter Benjamin oder auch der bereits genannte Ernst Bloch Parallelen zwischen der Erwartung der Ankunft des Messias und dem revolutionären Bruch mit den herrschenden Verhältnissen. Dabei gingen sie von einer prinzipiellen Unverfügbarkeit des einen wie des anderen Moments aus. Die Revolution kann nicht einfach „gemacht“ werden, sondern es gilt sich bereitzuhalten für das Ereignis, welches jederzeit stattfinden könne. Die Zeit dieses Ereignisses unterscheidet sich qualitativ von der „homogenen und leeren Zeit“ des Kapitalismus. Hier zeigt sich eine Bestimmung von Zeitlichkeit, die sich frontal jener linearen und abstrakten (Arbeits)Zeit des Kapitalismus entgegenstemmt und die – als Zeit der Fülle, ja des Überschusses – das Versprechen einer befreiten Gesellschaft repräsentiert. Das Aufzeigen dieser Verbindung von Revolution und Erlösung bedeutet jedoch nicht, sich attentistisch aus dem gesellschaftlichen Handgemenge zurückzuziehen und eine rein abwartende Position zu beziehen. Vielmehr gilt es, bereits im Hier und Jetzt dem Kapitalverhältnis eine Form sozialer Kollektivität entgegenzusetzen, auch wenn diese noch nicht hegemonial wirksam werden kann. Der geduldige Aufbau einer solchen Kollektivität ist jedoch konstitutiv angetrieben von der radikalen Ablehnung der aktuell herrschenden Zustände. John Holloway, der – obgleich Atheist – dem messianischen wie auch dem befreiungstheologischen Denken nahe steht, beschrieb diese scheinbare Paradoxie in seinem gleich lautenden Essay sehr plastisch als die „zwei Zeiten der Revolution“.

Die Befreiungstheologie entwickelte sich in den 1960er Jahren vor allem in Lateinamerika aus dem Widerstand basiskirchlicher Zusammenhänge, aber auch von Bischöfen, gegen die herrschenden Zustände, allen voran die äußerst ungerechte Landverteilung wie auch die brutale Ausbeutung der großen Bevölkerungsmehrheit. Aber auch die Rolle der Kirche selbst bei der Aufrechterhaltung dieser ungerechten Zustände stand im Kreuzfeuer der Kritik. Als im Anschluss an das sozialreformerisch geprägte zweite Vatikanische Konzil (1962-5) selbst der Papst der „Option für die Armen“ positiv gegenüberstand, wurde die Befreiungstheologie zur hegemonialen Kraft in Lateinamerika. Prägend für ihre Entwicklung war sowohl der Widerstand gegen die Militärdiktaturen als auch die enge Verbindung von Pfarrern und Bischöfen zu den Basisgemeinden. Aus diesen von gegenseitiger Achtung und weitgehender Hierarchiefreiheit geprägten Gemeinschaften entsprangen zahlreiche Experimente zur Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche, von denen an dieser Stelle lediglich die Pädagogik der Befreiung oder die Methode des Forumtheaters um Augusto Boal zu nennen wären. Befreiungstheologische Motive prägten aber selbst Guerillabewegungen wie die kolumbianische ELN oder die brasilianische Landlosenbewegung MST. Obgleich mit der Neoliberalisierung Lateinamerikas seit den 1980er Jahren auch die gegen die Befreiungstheologie gerichteten Pfingstkirchen Oberwasser bekamen, spielen Basiskirchen und von der Theologie der Befreiung inspirierte Organisationen und Netzwerke nach wie vor eine wichtige Rolle in den antikapitalistischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika. Die Befreiungstheologie hat jedoch ebenso in Nordamerika und in Europa starke Wirksamkeit entfalten können. In den USA vor allem in der gegen rassistische Diskriminierung gerichteten Bürgerrechtsbewegung, in Europa waren und sind sowohl in Antikriegsbewegungen als auch in antirassistischen Auseinandersetzungen ChristInnen oft an vorderster Front zu finden. An die zahlreichen und wichtigen Beiträge seitens feministischer Theologinnen soll an dieser Stelle ebenso explizit erinnert werden, wie an die inspirierenden theoretischen Aspekte und praktischen Aktionsformen des christlichen Anarchismus, zu dem nicht nur in dieser Ausgabe der grundrisse glücklicherweise noch mehr zu lesen steht, sondern dem auch eine aktuelle Buchveröffentlichung gewidmet ist. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass jenseits des jüdisch-christlichen Horizonts keine emanzipatorischen Formen religiös-politischen Handelns zu finden wären; aktuelle Beispiele aus dem Hinduismus und dem Islam finden sich im empfehlenswerten Band „Urban Prayers“.

Diese Tatsachen gilt es zu würdigen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, anstatt eine oberlehrerhafte Haltung gegenüber gläubigen politischen AktivistInnen an den Tag zu legen. Abgesehen davon, dass Selbstreflexionsvermögen ohnehin zu den Tugenden von politisch aktiven Menschen gehören sollte, könnte ein reflektierter Umgang mit dem Begriff des Glaubens so nicht nur zu einer Reflexion religiöser Bestände in den eigenen Traditionen beitragen, sondern auch Spielräume auf für neue Bündnisformen und Neuzusammensetzungen in sozialen Auseinandersetzungen eröffnen. Dazu ist anzumerken, dass im Gegensatz zu Deutschland oder der Schweiz, wo zumindest im Rahmen antirassistischer Bewegungen eine Zusammenarbeit zwischen radikalen Linken und religiösen bzw. kirchlichen Organisationen bereits seit geraumer Zeit praktiziert wird, diese in Österreich noch weitgehend unbekannt ist. Zu groß scheint einerseits die kulturelle Differenz der unterschiedlichen „Szenen“, aber auch die Furcht vor dem Verrat eigener Grundsätze im Rahmen einer Zusammenarbeit. Will sich die radikale Linke jedoch aus ihrer marginalisierten Rolle befreien, so täte sie gut daran, ihre Scheu vor anderen gesellschaftlichen Strömungen abzubauen, zumal wenn diese an ähnlichen Themenstellungen und in ähnlicher politischer Absicht aktiv sind. Vor allem in arbeiterInnenbewegten Zusammenhängen wird gerne nach wie vor auf Bündnisse mit Gewerkschaften und anderen sozialdemokratischen (Vorfeld)Organisationen gebaut und jene mit kirchlichen und/oder religiösen Gruppierungen oft kategorisch abgelehnt. Dem liegt der – zumindest mittlerweile – anachronistischer Fetisch eines Klassenverständnisses zugrunde, das sich noch immer primär an den traditionellen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung orientiert, anstatt sich angesichts der Unbeweglichkeit, die diese seit Jahrzehnten unter Beweis stellen, neuen Projekten zuzuwenden.

Wendet sich eine durchaus an Klassenpolitik interessierte Linke jedoch der Veränderung der Zusammensetzung sozialer Subjekte zu, der Rolle des Rassismus in der aktuellen Phase des Kapitalismus oder neuen Forderungen und Bewegungen der „gesellschaftlichen Linken“ wie dem Bedingungslosen Grundeinkommen oder der Solidarischen Ökonomie, so ist es wohl kein Zufall, dass progressive religiöse Zusammenhänge an denselben Baustellen arbeiten. Von einer christlich motivierten unbedingten Gleichheit aller Menschen als Einsatz einer Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen über eine biblisch motivierte radikale Kapitalismuskritik bis hin zu einer am Buch „Exodus“ orientierten radikalen Theologie der Migration reicht die Palette einer Politik, von der Linke oft mehr lernen können als aus dem x-ten Wiederkäuen leninistischer Traditionsbestände. Dass dies nicht bedeutet, Kritikpunkte an kirchlichen Institutionen bzw. Standpunkten hintanzustellen, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Nicht zuletzt könnte eine Auseinandersetzung mit religiösen politischen Menschen und Gruppen wie auch mit den avancierten Ansätzen z.B. der zeitgenössischen christlichen Soziallehre ein Religionsverständnis befördern (durchaus in kritischer Absicht), welches zumindest nicht hinter die Errungenschaften heutiger kritischer Theologie zurückfällt. Eine Religionskritik, die dies berücksichtigt und weder auf die Feuerbachschen Ausführungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückfällt noch es sich mit den kreuzbürgerlich-positivistischen „Theorien“ á la Dawkins´ „Der Gotteswahn“ oder Dennetts „Den Bann brechen“ gemütlich macht, das wären wohl nicht die geringsten Effekte einer solchen Auseinandersetzung.

Kapitalismus als Religion

Darüber hinaus könnte eine nicht „aufklärungsverkürzte“ Auseinandersetzung mit den politischen Interessensgegensätzen innerhalb religiöser Institutionen auch eine Perspektive für ein Verständnis aktueller kapitalistischer Gesellschaften als genuin religiöser eröffnen. Entgegen der von aufklärungspopulistischen TheoretikerInnen unterschiedlichster Couleur geteilten Auffassung eines laizistischen bzw. säkularen Kapitalismus in Europa ließen sich in Anknüpfung an Walter Benjamins These von der religiösen Natur des Kapitalismus selbst entscheidende Erkenntnisgewinne – zumal in antikapitalistischer Absicht – erzielen. Geld- und Kapitalform rücken so als mitnichten profane, sondern vielmehr genuin „heilige“ in den Blick. Und es sind vielmehr formale, nicht jedoch genuin inhaltliche Unterschiede, die sich zwischen den Fetischformen „Gott“ und „Geld“ im Kapitalismus ausmachen lassen. Eine derartige Lektüre – wie sie z.B. Christoph Deutschmann in seinem wichtigen Buch „Die Verheißung absoluten Reichtums: Zur religiösen Natur des Kapitalismus“ vornimmt – stellt eine brauchbare Grundlage für die Dekonstruktion abendländischer Fortschrittsmythen zur Verfügung. Was angesichts der erstaunlichen wie bekämpfenswürdigen Affirmation bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse durch nicht wenige Ex-Linke – meist angesichts einer völlig mit den hegemonialen Formen herrschender Erzählungen übereinstimmenden Erzählung über die „Gefahren“ einer „Islamisierung“ – ohnehin auf der Tagesordnung jeder ernstzunehmenden Linken stehen sollte.

Die Religion, nach Marx „der Seufzer der bedrängten Kreatur“ ist also eine gesellschaftliche Institution, die unmenschliche gesellschaftliche Verhältnisse aushalten lässt, nicht zuletzt mittels der Vertröstung der bedrängten Kreaturen auf ein Leben jenseits von Mangel und Unterdrückung. Dieses Versprechen, verbunden mit der den Gläubigen eingetrichterten Pflicht zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen vor dem Tode, war und ist der – berechtigte – Grund linker Religionskritik. Ihre Berechtigung schöpft sie nicht zuletzt aus den mannigfaltigen Beteiligungen – wenn nicht gar Verursachungen – der Religionen an millionenfachem menschlichen Leid. Diese Form der Religionskritik – zum Beispiel gegen eine verlogene Sexualmoral oder hinsichtlich des Rechts von Frauen auf Abtreibung – ist in vollem Umfang aufrechtzuerhalten bzw. beständig zu erneuern.

Aber die Kritik von überkommenen Glaubensvorstellungen darf auch vor der ambivalenten Geschichte der Linken selbst nicht halt machen. Entgegen den schlechten Traditionen des hegemonialen Marxismus der ArbeiterInnenbewegung ist festzuhalten, dass die Geschichte radikal offen ist. Sie kennt weder ein Ziel „an sich“, noch existiert eine objektive Mission eines revolutionären Subjekts – jenseits vom Glauben an eine mögliche andere, bessere Welt. Die teleologischen Formen marxistischer Theorie mögen zu bestimmten Zeiten ihren Sinn und ihre Berechtigung gehabt haben, niemand hindert uns jedoch heute, die Unzulänglichkeiten und Fehlentwicklungen klar zu benennen, die aus dem Glauben an die Zielgerichtetheit historischer Entwicklung hervorgegangen sind. Dagegen wäre ein Glaube an die Möglichkeit einer anderen Welt zu setzen, der letztlich nicht aus vermeintlich wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet ist, sondern seine Kraft und sein Feuer aus einer letztlich ethisch-politischen Haltung, die nicht weiter begründet werden kann, bezieht. Ernst Bloch sprach vom „Prinzip Hoffnung“, welches ein zentrales Moment eines Materialismus darstellt, der über die analytische Schärfe des „Kältestroms“ des Marxismus hinausgreift – und in der gegenseitigen Achtung der Würde des Menschen wurzelt, in jenem „Wärmestrom“, der über die Kollektivität im Rahmen gesellschaftlicher Kooperation und Kommunikation noch hinausgeht und der uns heute noch ermöglicht, an den kommenden Kommunismus zu glauben. Notwendig ist jedoch das Zusammenkommen von Kälte- und Wärmestrom wie auch jenes des geduldigen Aufbaus einer anderen, neuen Welt im Rahmen der schlechten alten mit der Ereignishaftigkeit des revolutionären Bruchs. Daran zu glauben heißt danach zu leben, zu kämpfen und – last not least – zu lieben. Dieser materialistischen Form der (göttlichen?) Liebe sind auch Michael Hardt und Toni Negri in ihren neueren Schriften auf der Spur. Aber das ist eine andere Geschichte.

Fazit: Wider dem Transparenzwahn

Der Unterschied zwischen religiös und nicht religiös motivierten politischen Kämpfen und Subjekten ist viel kleiner als weithin angenommen. Religiöse Menschen bzw. Organisationen können nicht trotz, sondern mitunter durchaus gerade wegen ihres Glaubens erstaunliche Erfolge in politischen Auseinandersetzungen erzielen. Gemeinsam geteilter Glaube ist darüber hinaus nicht auf den Glauben an einen Gott oder an ein Leben nach dem Tod zu reduzieren. Vielmehr stellt gemeinsam geteilter Glaube eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von kollektiven Kämpfen dar. Der Glaube als formales Prinzip von menschlicher Welterfahrung jenseits wissenschaftlicher Erkenntnis ist gleichzeitig deren unhintergehbare Vorbedingung; eine Denkbewegung, die sich in positivistischer Manier von dieser Vorbedingung selbst abschneidet, verzichtet auf die Annahme einer elementaren menschliche Grundbedingung und läuft Gefahr, sich unbewusst einem Fetisch der Transparenz zu unterwerfen. In der marxistischen Variante ist dieser nur allzu bekannt: Wenn erst die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt ist (oft noch dazu in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel sich erschöpfend), dann werden die gesellschaftlichen Verhältnisse völlig durchsichtig und somit durch Akte bzw. Institutionen gesellschaftlicher Planung vollständig beherrschbar. Diese technizistische und positivistische Phantasie zieht sich durch die gesamte Frühphase der ArbeiterInnenbewegung und ist auch heute noch da und dort anzutreffen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Nichtplanbarkeit vieler Aspekte des gesellschaftlichen Lebens wäre dahingehend eine gute Voraussetzung. Eine solche Debatte könnte auch zu einer deutlichen Entspannung zwischen gläubigen und nicht gläubigen Linken führen und einen Dialog über etwaige Gemeinsamkeiten und gemeinsam zu führende Auseinandersetzungen produktiv befeuern. Dabei wäre wohl eine Orientierung an den Bewegungsformen lateinamerikanischer Linker durchaus angebracht, nicht zuletzt da sich dort seit Jahrzehnten religiöse und nicht religiöse Menschen im Rahmen sozialer Kämpfe und Organisationen gemeinsam bewegen. Es gibt jedenfalls noch viel zu tun – und keinen Grund, nicht damit anzufangen. Im Übrigen glaube ich an den Kommunismus.

Ausgewählte Literatur

  • Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt: Ein Kommentar zum Römerbrief, Suhrkamp 2006
  • Dirk Baecker: Kapitalismus als Religion, Kulturverlag Kadmos 2002
  • Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Suhrkamp 1965
  • Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Suhrkamp 1985
  • Ders.: Atheismus im Christentum, Suhrkamp 1968
  • Leonardo Boff: Kirche: Charisma und Macht. 25 Jahre Befreiungstheologie, Gütersloher Verlagshaus 2009
  • Leonardo und Clodovis Boff: Wie treibt man Theologie der Befreiung, Patmos Verlag 1986
  • Christoph Deutschmann: Die Verheißung absoluten Reichtums: Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Campus 2001
  • Enrique Dussel: Ethik der Gemeinschaft. Die Befreiung in der Geschichte, Patmos Verlag 1995
  • Josef Hinkelammert: Der Fluch, der auf dem Gesetz lastet. Paulus von Tarsus und das kritische Denken, Edition Exodus 2011
  • John Holloway: Die zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas, turia + kant 2006
  • Sebastian Kalicha: Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung, Graswurzelrevolution i.E.
  • Sandra Lassak: Wir brauchen Land zum leben. Widerstand von Frauen in Brasilien und feministische Befreiungstheologie, Matthias-Grünewald-Verlag 2011
  • Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken, Kramer 1997
  • meroZones (Hg.): Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt, Assoziation A 2011
  • Barbara Rauchwarter: Genug für alle: Biblische Ökonomie, Wieser 2012
  • Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie. Mit einem Anhang, Matthes & Seitz 1991
  • Michael Walzer: Exodus und Revolution, Fischer 1995
  • María López Vigil / José Ignacio López Vigil: Ein anderer Gott ist möglich. 100 Interviews mit Jesus Christus, Inst. f. Theologie u. Politik, Münster 2010, download unter: http://www.itpol.de/wp-content/uploads/2010/08/ein-anderer-gott-ist-moeglich.pdf
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