Internationale Situationniste, Numéro 1
 
1976

Der Kampf um die Kontrolle der neuen Konditionierungstechniken

„Von nun an kann man menschliches Verhalten unfehlbar in vorbestimmten Richtungen auslösen“, so Serge Tchakhotine in seinem Buch „Die Vergewaltigung der Massen durch die politische Propaganda“ über die Beeinflussungsmittel, die von den Revolutionären und den Faschisten zwischen den beiden Weltkriegen auf Kollektivitäten angewandt wurden. Seither hat sich die Wissenschaft ständig weiterentwickelt. Die Experimentalforschung des Verhaltensmechanismus hat man gefördert, neue Anwendungsmöglichkeiten der vorhandenen Apparate sind gefunden worden und sogar neue Apparate erfunden worden. Seit längerer Zeit wird „unsichtbare“ Werbung ausprobiert — durch Einblendung von autonomen Bildern bis zu 1/24 Sekunde in den Filmablauf, die zwar für die Netzhaut wahrnehmbar sind, aber jenseits der bewussten Wahrnehmungsschwelle bleiben — ebenfalls experimentiert man mit „unhörbarer“ Werbung durch Infraschall. 1957 hat der Forschungsdienst des kanadischen Verteidigungsministeriums eine Experimentalforschung über die Langeweile durchführen lassen, bei der Subjekte in einer so eingerichteten Umwelt isoliert wurden, dass überhaupt nichts darin geschehen konnte (in einer Zelle mit nackten Wänden, ständig beleuchtet, nur mit einem bequemen Sofa, ganz ohne Geruch, Lärm und Temperaturschwankungen). Die Forscher haben ausgedehnte Verhaltensstörungen festgestellt, da das Hirn mangels sensorischer Stimulation unfähig war, in einem Zustand der Erregtheit zu bleiben, der seiner sonstigen normalen Tätigkeit entsprach. Daraus konnten sie folgern, dass eine langweilige Atmosphäre einen unheilvollen Einfluss auf das menschliche Verhalten ausübt und die voraussehbaren Unfälle erklären, die bei monotonen Arbeiten auftreten, die sich mit der Ausbreitung der Automation noch vermehren werden.

Weit darüber hinaus führt uns aber die Aussage eines gewissen Lajos Ruff, die Anfang 1958 in der französischen Presse und als Buch veröffentlicht wurde. Sein Bericht, der die Gehirnwäsche schildert die er 1956 bei seinem Verhör durch die ungarische politische Polizei durchgemacht haben soll, enthält keine vorwegnehmenden Einzelheiten, obwohl er in mancher Hinsicht verdächtig ist. So erzählt Ruff, wie er 6 Wochen lang in einem Raum eingeschlossen wurde, in dem der einheitliche Gebrauch von Mitteln, die alle reichlich bekannt sind, darauf hinzielte — was schliesslich auch gelingen sollte — ihn jeden Glauben an seine Wahrnehmungsfähigkeit der äusseren Welt und an seine eigene Persönlichkeit verlieren zu lassen. Diese Mittel waren folgende: die völlig andersartige Einrichtung dieses geschlossenen Raumes (durchsichtige Möbel, krummes Bett …), die Beleuchtung, bei der jede Nacht ein von aussen hineindringender Lichtstrahl eingeschaltet wurde, vor dessen psychischen Wirkungen er absichtlich gewarnt worden war, dessen er sich aber nicht wehren konnte; die von einem Arzt bei täglichen Unterhaltungen benutzten psychoanalytischen Verfahren; verschiedene Drogen; dank diesen erfolgreiche einfache Mystifikationen (obwohl er allen Grund hatte zu glauben, dass er seit Wochen nicht aus seinem Zimmer durfte, hat er ab und zu beim Aufwachen nasse Kleider und schlammige Schuhe an); Vorführungen absurder bzw. erotischer Filme, mit anderen Szenen vermengt, die manchmal in dem Zimmer stattfinden; schliesslich Besucher, die sich an ihn wenden, als ob er ein Held des Abenteuers (einer Episode der ungarischen Widerstandsbewegung) wäre, das eine andere Filmfolge ihm zeigt (in diesen Filmen und in den wirklichen Begegnungen finden sich Einzelheiten wieder, so dass Ruff schliesslich stolz darauf wird, an dieser Handlung teilzunehmen).

Hier müssen wir den repressiven Gebrauch einer bis zu einer sehr komplexen Stufe entwickelten Umgebungskonstruktion erkennen. All die Entdeckungen der unparteiischen wissenschaftlichen Forschung sind bisher von den freischaffenden Künstlern vernachlässigt und von den verschiedenen Polizeien sofort benutzt worden. Nachdem die unsichtbare Werbung die Geister in den USA etwas beunruhigt hatte, wurde zur Beruhigung aller erklärt, dass die beiden erstverbreiteten Slogans niemanden gefährden würden. Sie sollen nämlich lauten : „Fahren Sie nicht so schnell!“ und „GEHEN SIE IN DIE KIRCHE!“.

Die gesamte humanistische, künstlerische und rechtliche Auffassung der unantastbaren und unabänderlichen Persönlichkeit wird verurteilt. Ohne Missfallen wohnen wir ihrem Abtritt bei. Man muss aber einsehen, dass wir jetzt einem Rennen zwischen den freischaffenden Künstlern und der Polizei beiwohnen und an ihm teilnehmen werden, um den Gebrauch der Konditionierungstechniken auszuprobieren und zu entwickeln. Bei diesem Rennen hat die Polizei schon einen erheblichen Vorsprung. Von seinem Ausgang hängt jedoch die Entstehung einer leidenschaftlich fesselnden Umwelt ab oder aber die — wissenschaftlich kontrollierte und lückenlose — Verstärkung der Umgebung der alten Welt der Unterdrückung und des Greuels. Wir sprechen von freischaffenden Künstlern, aber die künstlerische Freiheit wird erst dann mög­lich sein, wenn wir die durch das XX. Jahrhundert angehäuften Mittel an uns gerissen haben, die für uns die wirklichen Mittel der künstlerischen Schöpfung sind; und die diejenigen, die sie entbehren, dazu verdammen, keine Künstler dieser Zeit zu sein. Ist die Kontrolle über diese Mittel nicht total revolutionär, dann können wir zum gesitteten Ideal einer Gesellschaft von Bienen verleitet werden. Entweder kann die Herrschaft über die Natur revolutionär sein oder zur absoluten Waffe der Kräfte der Vergangenheit werden. Die Situationisten werden sich in den Dienst der Notwendigkeit von Vergesslichkeit stellen. Die einzige Kraft, von der sie etwas erwarten können, ist dieses Proletariat, das, da theoretisch ohne Vergangenheit, gezwungen ist, alles ständig aufs neue zu erfinden und von dem Marx sagte, es „sei revolutionär oder nichts“. Wird es in unserer Zeit sein oder nicht? Wichtige Frage für unseren Vorsatz: das Proletariat soll eben die Kunst realisieren.

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