Der nationale Wettbewerbsstaat
Joachim Hirsch geht in diesem Buch den einschneidenden Veränderungen nach, denen der Kapitalismus unterliegt, und fragt nach Auswirkungen auf Demokratie und Staat sowie nach neuen Ansätzen für politisches Handeln.
Die neu entstehende Form des globalen Kapitalismus bezeichnet Hirsch als den „nationalen Wettbewerbsstaat“. Sämtliche Prinzipien und Kategorien der klassischen bürgerlichen Demokratietheorie — Staat, Volk, Gesellschaft, Nation, demokratische Partizipation — stünden heute zur Disposition. Primäres Ziel der modernen Staaten sei nicht mehr die Sicherung dieser Strukturen, sondern die Standortsicherung als Schaffung profitabler Rahmenbedingungen für ein global operierendes Kapital.
Die drastische gesellschaftliche Veränderung bestehe darin, daß die Zivilgesellschaft selbst eine neue Form des Totalitarismus hervorbringt, der nicht mehr in erster Linie auf staatlicher Herrschaft beruht, obwohl sich auch diese weiterhin ausweitet. Der neue Totalitarismus besteht nach Hirsch in einer Verdrängung des „Bewußtseins von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer praktischen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Gesellschaft wird in ihrer vorfindlichen Gestalt zum nicht mehr hinterfragbaren Schicksal“. Dieses Bewußtsein entsteht aus den innersten Strukturen der Gesellschaft und wird nicht von außen aufgezwungen.
Als praktischen Ansatz neuer Politik schlägt Hirsch einen „radikalen Reformismus“ vor. Das heißt, ein politischer Kampf, der auf eine international verflochtene politische Selbstorganisation unabhängig von den herrschenden Institutionen begründet ist und der gleichwohl schrittweise institutionelle Reformen zum Ziel hat.
Die Beobachtung, daß der Wille zur praktischen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse immer mehr einer angeblichen Sachzwangpolitik weicht, ist sicher richtig. Daher scheint mir auch das Anliegen des Buches, neuere Entwicklungen zu analysieren und daraus Möglichkeiten politischen Handelns abzuleiten, wichtig zu sein. Leider dominiert aber in dem Buch die Neigung zu alles erklärenden großen Theorien. Die Einbindung zahlreicher Einzelbeobachtungen in eine Gesamttheorie (Durchsetzung und Krise des Fordismus) geht auf Kosten der Analyse von Entwicklungen und Zusammenhängen. So verwundert es nicht, daß die vorgeschlagene neue Politik wie der alte Grundsatz „Global denken, lokal handeln“ unter Hinzunahme der modernen Vernetzung klingt.
Joachim Hirsch: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus. Edition ID-Archiv, Berlin, Amsterdam 1995, 214 S., ca. öS 200,—
