Streifzüge, Heft 49
Juni
2010

Der Staat und ich

L’état et moi

Der Staat und ich – geht’s vielleicht eine Nummer kleiner? Ich meine, beides ist thematisch etwa so breit wie Russland oder ein Nachmittag im Zahnarztzimmer. Aber weil ich die Streifzüge so innig leiden mag, werfe ich flugs die stotternde Assoziationsmaschine an. Erstes kopfinternes Browse-Ergebnis: meine Beziehung zu Vater Staat. Hier ein paar vulgärpsychologische Weisheiten.

Väter nerven spätestens ab der Pubertät, das ist in ihrem ontologischen Bauplan so vorgesehen. Die Kinder trotzen analog. Müssen sie gehorchen, maulen sie wegen der autoritären Gewalt. Geschieht ihnen Böses, jaulen sie wegen der verletzten Sorgfaltspflicht. Der Vater hat es nicht leicht mit seinen Kindern und sie nicht mit ihm.

Gut, ein Vater ist notwendig, das verbindet den staatlichen mit dem leibhaftigen. Ohne strengen Staat ist der Mensch dem Menschen Wolf und ohne väterliche Intervention hätte ich meine kleine Schwester damals am Marterpfahl den Ameisen ausgeliefert. Das täte mir heute leid, denn sie hat sich mittlerweile zu einer recht netten Person zusammengewachsen. Dennoch habe ich mich weitestgehend den Anweisungen meines Vaters entzogen. Ich wünschte, das gelänge auf staatlicher Ebene genauso leicht.

Meine Mitgliedschaft im Staat basiert auf zufälligen Kriterien. Und sie geniert mich. Angesichts des törichten Treibens beim Staatsopernball möchte mein Antlitz alljährlich glühen wie ein bulgarischer Reaktor, wenn es mir nicht schon lange zu blöd wäre. Ein Land, dessen Identifikationsangebot zu guten Teilen aus weißen trippelnden Rössern, kalkhaltigen Gesteinsanhäufungen, picksüßer Kräuterbrause und galligen Marzipankugeln aus dem multinationalen Kraft-Konzern besteht.

Immerhin: besser als Bürgerin von Folterstaaten mit affig ausstaffierten Diktatoren zu sein. Es wäre mir echt peinlich, Nordkoreanerin zu sein. Und Gaddafis Frisur, hören Sie mir doch auf.

Aber: Echte Liebe kann auch im Negativvergleich nicht aufkommen. Ich mag meinen echten Vater doch nicht auch nur deswegen, weil die Nachbarskinder einen solchen hatten, der täglich im Feinripp vom Balkon rülpste. Ich kann die autoritäre Führungsschwäche meines Staates einfach nicht leiden. Wohl nicht von ungefähr klingt sein Name in meinem Dialekt wie der Befehl, den Mund zu halten. „Sei stad!“

So. In der Zwischenzeit sehe ich bei der thematischen Wanderung schon fast Wladiwostok und der Zahnarzt wischt mir schon die letzten Tränen von der Backe. Es folgt nur noch mein Fazit für die künftige Praxis: Ich nehme mir vor, weiterhin so wenig zu verdienen, dass ich Vater Staat nicht mit meiner Einkommenssteuer fördere. Muss mir halt dann der Papa bei Gelegenheit einen Zwanziger zustecken.

Dominika Meindl

Pomatologische Politologie

Ich gesteh’ es: Emanzipatorische Praxis ohne Pädagogik reizt mich, Seminare zur Wertkritik sind nicht meins. Ich bitte um Nachsicht.

Ich habe also ein kleines Experiment in den Alltag meiner Kollegen gepflanzt – und hoffe ganz vermessen, dass diese das bürgerliche Bewusstsein an seine Existenzangst bringende Intervention Spuren in den eingeschliffenen Bahnen konformen Denkens hinterlässt. Ganz ohne Ehrfurcht gebietendes Pathos eines Großtheoretikers, weil ich Wurm da sowieso zwischen der Skylla nicht darstellbarer Paradiesphantasien samt zugehöriger Epiphanie und der Charybdis, alles Bestehende in destruktiver Manie verderben zu sehen, zerrissen würde, ohne je der Kraft des nostos so folgen zu können wie mein geliebter Odysseus.

Ein schlichter Korb mit Obst war meine Idee. Alle sollten sich mit gleichen Beiträgen beteiligen, aber nach individuellem Bedarf zugreifen. So wollte ich die Fetischisierung des Objekts durchbrechen. Der Körper signalisiert Bedarf und ich kann ihn ohne Umweg befriedigen. Kein Tauschakt mehr. Bedürfnisbefriedigung, bar der Realabstraktion. Miteinander reden, statt über das Tauschgeschäft verhandeln. Gemeinschaft wird nicht durch eine Summe von Tauschakten hergestellt, sondern ist der Kommunikation über die gemeinsame Organisation der Bedürfnisbefriedigung vorausgesetzt.

Denkste. Der Widerstand war groß. Die meisten haben Angst, von anderen übervorteilt zu werden. Es hagelt mit Bedauern geäußerte Absagen. Man befürchtet, auf genau jenes Stück Obst verzichten zu müssen, das man eigentlich gerne hätte. Der Glaube an den homo oeconomicus stellt den Wahn des knappen Gutes her. Die Angst gebiert den Ruf nach dem Leviathan, und ausgerechnet ich sollte den spielen, eine objektive Instanz, die mit Souveränität und Kompetenz die scheinbar unendlichen Begierden zügelt. Mit Tabellen, Kalkulation und richterlicher Entscheidung. Ich habe die Flucht ergriffen. Immerhin fand ich doch sechs Menschen, die sich den Herausforderungen dieses waghalsigen Experiments stellen. Wir essen unsere Äpfel und reden freundlich miteinander. Alles Staatsfeinde im Herzen aber noch nicht im Denken. Wie kann man sich selbst nur so falsch erkennen?

Martin Scheuringer

Ich und der Staat

Meine früheste Erinnerung an den Staat geht so: Ein Volksschulknirps befindet sich auf der Fahrt mit Bruder, Mama, Papa ins hitzeflirrend sommerliche Burgenland – Badetrip an den Neusiedlersee. Vorbei ziehen sommergelbe Weizenfelder, die unvermeidlichen Pyramidenpappeln säumen die Straße. Der Knirps stellt aus in der Tat heiterem Himmel eine Frage in den drückendheißen Autoinnenraum: „Wem gehören eigentlich die Sachen in der Schule?“ Mama und Papa mögen sich gewundert haben, was den Kleinen hitzerot-sommerlich gerade auf den Staat zu sprechen kommen lässt. Mama jedenfalls versucht eine Antwort. Nach einigem Zögern, halb zu Papa gewandt, halb fragend, meint sie: „Naja, das ist ja öffentliches Eigentum, das gehört dem Staat, also uns allen.“ Ich bin erstaunt: „Die Kästen in der Schule, die gehören allen?“ Papa sieht das anders: „Unsinn“, meint er, oder so ähnlich – warum erklärt er nicht.

Jahre später, bei einer Veranstaltung der Grünen Bildungswerkstatt in Linz. Der Knirps ist inzwischen frühe Dreißig. Er kritisiert den Staat. Nach der Veranstaltung, auf deren Podium sich der Autor befunden hatte, entspinnt sich ein Streitgespräch mit einer Frau aus dem Auditorium. „Der Staat, das sind doch wir“, meint sie vehement.

Sind wir der Staat? Ist der Staat wir? Meine Antwort lautet nein. Wären wir und er eins, dann müssten wir ihn nicht beständig bitten, beklagen, kritisieren. Staat, das ist ganz offensichtlich etwas, was nicht ident ist mit der Gesellschaft. Ein Etwas, das sich sperrt, eigene Ziele verfolgt, auf das Einfluss ausgeübt werden will, etwas, das vor allem uns beeinflusst. Ebenso wenig jedoch ist der Staat etwas, das aus sich selbst heraus existiert. Es ist deshalb zur stehenden Formel geworden, den Staat mit Nicos Poulantzas als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ zu fassen. Und wenngleich das noch nicht alles ist: das ist er.

Heute gibt es kein Gehen, Reden oder Tun mehr ohne Staat. Damit freilich ist der Staat auch abhängiger geworden von den Verhältnissen, in denen er verwurzelt ist und die ihn erzeugen.

Also: Gehört die Schule uns

Andreas Exner
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