Heft 1-2/1999
Juni
1999

Die Bande als Spätform des Staats

Einige Thesen am Beispiel Jörg Haiders

Keine Verstaatlichung des Menschen, sondern eine Vermenschlichung des Staates — Zeitung des Freiheitlichen Bildungswerkes 1995

1. Voraussetzungen

Selbst das Wunder der Nachkriegszeit, die vom Vernichtungskrieg gezeugte Wohlfahrt, währt nicht ewig. Mit dem Schrumpfen der Wachstumsraten, und vom Fall des Eisernen Vorhangs beschleunigt, kehrt die große Krise zurück, die vom großen Krieg entsorgt worden war. Das Subjekt wird sich nach der Entzauberung des Wirtschaftswunders aufs Neue seiner wirklichen oder potentiellen Wertlosigkeit, genauer: seiner Unfähigkeit, Wert (im Sinne des Kapitals) zu bilden, bewußt, und es weiß mehr oder weniger deutlich, daß es, ohne das Kriterium dieser Unfähigkeit — den Wert — in Frage zu stellen, nur als fetischisierter Staatsbürger, d. h. als nationales Subjekt, diese Unfähigkeit gutmachen, einzig in der „Volksgemeinschaft“ den Ausstoß aus der Gemeinschaft der Wertbildenden kompensieren kann. Das Subjekt der heutigen Demokratie sehnt sich insofern nach dem Nationalsozialismus zurück, als damals der Staatsbürger alles war, und der Warencharakter der Arbeitskraft in ihm verschwand. Bewußt oder unbewußt ist die einstige Volksgemeinschaft der Referenzpunkt der Demokratie geworden: Jörg Haider hat nur ausgesprochen, was viele — niemand weiß wieviele — in Österreich und Deutschland insgeheim oder offen meinen: „Im Dritten Reich haben sie ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht ...“

Doch der Referenzpunkt kann nicht mehr erreicht werden; er erscheint vielmehr als archimedischer Punkt der postfaschistischen Demokratie. Die ordentliche Beschäftigungspolitik wird niemand machen können, dazu sind wohl die Individuen als Geldmonaden und Arbeitskraftbehälter bereits zu sehr vereinzelt, die Staaten als Standorte und Märkte zu sehr verflochten. Wer sollte also den Arbeitern die Sorge um den Verkauf ihrer einzigen Ware abnehmen? Welcher Staat wäre in der Lage, die Kaufkraft seiner Bevölkerung zu verstaatlichen, Lohn- und Preisstops durchzusetzen und mit dem Wechsel auf künftige Beutezüge ein Arbeitsbeschaffungsprogramm zu finanzieren? Eine Beute, auf die ein solcher Wechsel ausgestellt werden könnte, gibt es nur mehr in einem Raum zu holen, den der Staat nicht erobern kann: auf den Finanzmärkten.

Was in dieser Situation entsteht, wäre als atomisierter Nationalismus oder demokratischer Rassismus zu begreifen: Der Referenzpunkt wird in jede einzelne Geldmonade eingesenkt. Da der Staat nicht imstande ist, die Individuen der Sorge um den Verkauf ihrer Ware Arbeitskraft zu entheben, sieht sich jedes einzelne vereinzelte vor der Aufgabe, in sich selbst und für sich selbst zu tun, was der faschistische Staat einst für alle gemeinsam tat. Diese Atomisierung der Volksgemeinschaft, die in den einzelnen Atomen — im Bewußtsein der Warensubjekte — die Volksgemeinschaft bewahrt, läßt sich ebenso an der Geburtenförderung wie an der „Sterbehilfe“ ablesen. Von den Nazis als staatliches Programm in Angriff genommen, um die eigene ‚Rasse„“höherzuzüchten„, wird heute vor allem die sozialdarwinistische Selektion demokratisch neu organisiert: jeder sein eigener Staat. Es wird dem einzelnen überlassen — dem einzelnen Behinderten oder der zukünftigen Mutter eines möglicherweise Behinderten oder dem einzelnen“unheilbar„Kranken und dessen Verwandten — zu erkennen, daß es sich bei ihm selbst oder bei seinem Kind oder Verwandten um“unwertes Leben„handelt (und im Sinne des zu realisierenden Werts handelt es sich tatsächlich um unwertes Leben); der Druck, der dem einzelnen diese“Erkenntnis" vermittelt, geht nun nicht mehr wie früher unmittelbar vom Staat aus, die Vernichtung wird nicht autoritär durchgesetzt, sondern sollte nach Möglichkeit von jedem einzelnen Betroffenen bejaht werden: hier ist nicht nur seine Opferbereitschaft für den Staat, sondern ebenso sein Selbstbewußtsein als Arbeitskraftbehälter und Warenvehikel gefragt. Eine Gesellschaft von potentiellen Selbstmördern, von Menschen, die stets zum Suizid bereit sind: Das ist das neue Ideal, das die demokratische Rassenhygiene bereithält.

NOTO KOSOWAR 3.21

So könnte wohl auch von einer Verinnerlichung oder Subjektivierung der Volksgemeinschaft gesprochen werden — allerdings nicht im ursprünglichen psychoanalytischen Sinn. Denn dessen Voraussetzungen — die Introjektion der väterlichen Autorität als Vergesellschaftung des Individuums und die Spannung zwischen Ich und Über-Ich, die Innerlichkeit überhaupt erst möglich werden läßt — können von der Durchsetzung der Warenform, insbesondere in der individuellen Reproduktion der Arbeitskraft, nicht unberührt geblieben sein. Werden doch nun die Staatsbürger gleichsam en detail zu jenem Konsum motiviert, den einst für sie der Staat en gros besorgte, und ist somit auch der „Miniaturstaat“, wie Wilhelm Reich die Familie nannte, aufgefordert, ein schlanker Staat zu werden: bei der alleinerziehenden Mutter mit Teilzeitbeschäftigung etwa, aber auch überall sonst wird ein gewisser Teil der Erziehung — mittels elektronischem und digitalem Warenverkehr — ausgelagert. Statt der klassischen Neurosen entsteht hier die ständige Frustration, zu wenig konsumiert zu haben — und die Angst, zu wenig produktiv zu sein, weil Produktivität die Voraussetzung des Konsums ist, das weiß bereits jedes Kind.

Die Familie verschwindet unter solchen Bedingungen nicht einfach, sie verliert jedoch an Eigengewicht gegenüber dem Verwertungsprozeß, indem sie nun nicht allein auf die Arbeit vorbereitet, sondern vor allem den Konsum vermittelt, die Ware in die Erziehung einspeist und die Reklame zur frühkindlichen Erfahrung werden läßt. Ebensowenig verschwindet der „autoritäre Charakter“, wie ihn Adorno einstmals beschrieb. Er tritt lediglich variierter in Erscheinung; Gehorsam und Unterordnung werden flexibler gehandhabt, um es sachgemäß auszudrücken: diversifiziert.

2. Der aufhaltsame Aufstieg des Jörg Haider?

Solche Atomisierung der Volksgemeinschaft produziert einen neuen Führer-Typus, der sich als Gegenpol zu den Parteiapparaten begreift und ein unmittelbares Verhältnis zum ‚Volk„, zu den“Bürgern„beansprucht. Neben Silvio Berlusconi verkörpert ihn Jörg Haider bisher wohl am überzeugendsten. Immer wieder fordert Haider mehr Demokratie —“mehr Demokratie in Richtung Direktwahlrecht„:“Wer die Rolle des Volkes als dem obersten Souverän in Frage stellt, der stellt die Demokratie überhaupt in Frage.„Dieser Typus vermag die direkte Demokratie gegen die Mechanismen der formalen Demokratie nur darum zu mobilisieren, weil die Medien dafür den Boden bereiten — einerlei, ob diese ihm nun kritisch oder apologetisch gegenüberstehen. Durch die Warenform, die jede politische Information annimmt, besser: durch deren Degradierung zum Anhängsel eines umfassenden Reklameapparats, wird sukzessive jene Distanz zurückgenommen, die in Form von Parlament, Ausschüssen, Parteiapparaten und anderen zwischen Bevölkerung und Exekutive geschalteten Institutionen geschaffen worden ist — eine Distanz, die es immer wieder auch erlaubt, gewisse Möglichkeiten einer Erziehungsdiktatur zu realisieren (etwa wenn Bruno Kreisky — Verkörperung des alten josephinisch-keynesianischen Regenten-Typus — die Frage der Todesstrafe explizit von einer Volksabstimmung ausschloß). Diese Möglichkeiten setzen allerdings eine relative Autonomie von Parlament, Ausschüssen und Parteien voraus, die eben durch die Kapitalisierung der Information schrittweise liquidiert wird. In ihrer Auseinandersetzung mit Johannes Agnolis und Peter Brückners Buch über die Transformation der Demokratie sprechen Stefan Vogt und Andreas Benl von einer neuen Art der Verbürgerlichung:“Angesichts von Deregulierung und Krise verklären sich die abhängig Arbeitenden selbst zunehmend zu „Bürgern“. Die Konjunktur dieses Begriffs entspricht der Verschiebung der Identitätssuche auf den ideologisch-politischen Bereich und den panischen (weil vergeblichen) Abkoppelungsversuchen von der Ökonomie. Die Individualisierungsthese hat darin ihren wahren Kern, daß bei dieser Suche die intermediären Instanzen zwischen dem Einzelnen und dem Staat, allen voran die Parteien, tendenziell ausgeschaltet und damit überflüssig werden. Für die Staatstreue und Unmündigkeit der Bürger, die schon Agnoli und Brückner feststellten, sind dann andere Institutionen zuständig, die auch noch den vereinzeltsten Einzelnen erreichen: die Medien.„ [1] Die Macht, die solchermaßen vom“Volk" ausgeht, hat immer nur den eigenen Staat im Sinn. Denn dieses Volk ist — wie der Name schon sagt: Kriegsschar, Heerhaufen — eine nach den Schlachtplänen des Staats schon vorformatierte Bevölkerung: Es ist umso mehr Volk, je mehr es den Souverän verinnerlicht, Staat und Kapital in sich bereits versöhnt hat — und einzig in dieser Form geht, wo Staat und Kapital existieren, von den Massen die Macht aus.

NOTO KOSOWAR 3.31

Haider beschleunigt gleichsam die volksgemeinschaftlichen Atomteilchen; sein ganzes Auftreten scheint weniger davon bestimmt, das voneinander Abgekapselte zu vereinen zu einer großen homogenen staatstragenden Massenpartei, als es in Gestalt lauter kleiner, irrsinnig und irregulär agierender, rassistischer Banden und Einzeltäter zu akzelerieren. Im Unterschied zur alten nationalsozialistischen Rhetorik mit ihrem endlosen Redeschwall und ihrem hysterisch-beschwörendem Tonfall genügen Haider stets einige spitze Bemerkungen und eindeutige Anspielungen, z.B.: „Wenn man heute an einer Baustelle (....) vorbeigeht und dort die Ausländer bis hin zu Schwarzafrikanern Ziegel schneiden und tragen sieht, dann denkt sich der österreichische Bauarbeiter schon etwas.“ Eben damit sollen die Weißösterreicher motiviert werden, den Fetisch des Kapitals und die rassistische Ideologie durchaus selbständig weiterzudenken. Haider stachelt eher an, als in Trunkenheit zu versetzen. Er hat auch meist keine Massen vor sich, sondern nur das Mikrophon und die Kamera der Journalisten.

Wie die medialen Auftritte und Statements von Haider sich von den Massenkundgebungen und Schauspielkünsten der Nazis abheben, so unterscheiden sich auch die Partei, die er formiert, und der Staat, den er anbietet, von NSDAP und Drittem Reich: Wenn er — ganz im Gegensatz zur „ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“ immer wieder einen „schlankeren Staat“, eine „Verschlankung des Staates“, fordert und in Aussicht stellt, so ist darin nicht allein eine seiner taktischen Anleihen beim Neoliberalismus zu sehen, sondern ein durchaus neues politisches Konzept: Der schlankeste Staat ist die Verbrecherbande.

Tatsächlich bietet die Partei Haiders in ihrer inneren Struktur wie in ihrem öffentlichen Auftreten, in der politischen Aktion wie in der Physiognomie ihrer Protagonisten — mitsamt den in letzter Zeit grassierenden Finanzaffären — eine perfekte Illustration für die These, daß sich Staat und Gesellschaft mehr und mehr in Gangland verwandeln, das von rivalisierenden Banden oder Rackets beherrscht wird. Dabei handelt es sich freilich zunächst nur um Analogien, die sich im einzelnen feststellen lassen — die Trennung zwischen rechtsstaatlichem und kriminellem Raum aber nicht unbedingt aufheben.

Auch die NSDAP trug in mancher Hinsicht und in mancher Phase die Züge einer Gangsterbande — und es war nicht so weit hergeholt, daß Brecht gerade ihren Aufstieg mit einem Stück aus dem Chicagoer Gangstermilieu porträtierte. Und so hat die Durchsetzung des Nationalsozialismus bereits Horkheimer und Adorno über den Ausgang der Geschichte als Bandenkrieg nachdenken lassen. Horkheimers Analyse des Racket könnte sogar unmittelbar auf die Haidersche Partei angewandt werden: Racket bedeutet Erpresserbande ebenso wie Selbsthilfegruppe und Wohltätigkeitsverein. — „Die völlige Brechung der Persönlichkeit wird verlangt, absolut bündige Garantien der künftigen Zuverlässigkeit. Das Individuum muß sich aller Macht begeben, die Brücken hinter sich abbrechen. Als der echte Leviathan fordert das Racket den rückhaltlosen Gesellschaftsvertrag.“ [2] Solche Verträge schließen Haiders Gefolgsleute ab. Entspricht das Individuum nicht dem absoluten Treuebund, und wird es etwa unzuverlässig, droht es die Interessen der Bande zu verletzen, muß es natürlich ausgeschaltet werden. Die Geschichte der Freiheitlichen ist voll von solchen Aktionen, von denen in der Presse jeweils ausführlich berichtet wird. Auch hier arbeitet die liberale Öffentlichkeit ganz im Dienste der Haiderschen Politik: sie ist die große Verstärkeranlage, durch die das Menetekel, das mit der Ausschaltung eines Parteifunktionärs gesetzt wird, erst seine ganze Bedrohlichkeit bekommt. So schreibt etwa die Wiener Presse, die sich auf ihre seriöse Berichterstattung etwas zugute hält, über eine dieser Aktionen: „Der Henker kommt gern in der Nacht. Haiders Mann für politischen Mord. Peter Westenthaler ist Jörg Haiders ‚Handy-Mann’. In der FPÖ geht die Angst um, wenn der Generalsekretär zu einer Strafaktion aufbricht. (...) Wenn der große, schwere BMW mit quietschenden Reifen vor Beginn einer Parteisitzung hält, dann wissen die blauen Funktionäre in Stadt und Land, wieviel es geschlagen hat: Der weißen Luxuslimousine entsteigt mit breitem Grinsen Jörg Haiders Rache-Engel.“ [3] Wie von selbst greift der Journalist nach den entsprechenden Bildern und Jargonwörtern. Ein großer Teil der Faszination Haiders und seiner Gruppe geht wohl auf diese offene Zurschaustellung von Gangsterattitüden zurück. Insofern ist Haider der große Gangsta-Rapper der europäischen Politik.

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Bild: Draško Cagović, Vreme

Die jüngste Parteikrise nach der Affäre eines Haider-Abgeordneten, der Gelder veruntreut hatte und ins Ausland geflüchtet war, nützte Haider dazu, den Parteiapparat noch stärker nach dem Racket-Prinzip zu straffen. Er zwang die Funktionäre nunmehr tatsächlich, einen Vertrag zu unterschreiben — der eben nicht zufällig „Demokratievertrag“ heißt: „als für sie verbindlichen Ehrenkodex“ verpflichten sie sich zum „Schutz unserer Heimat Österreich“, zum „Bekenntnis zur demokratischen Republik“ und zum „Ausbau der direkten Demokratie“. (Ganz im Sinne dieses Ehrenkodex legte der neue Chef der Freiheitlichen in Niederösterreich dem flüchtigen Abgeordneten bereits den Selbstmord nahe.)

Die Gang ist „primitive democracy“ schrieb Frederic M. Thrasher in seiner grundlegenden Studie über die amerikanischen Gangsterbanden der zwanziger Jahre. [4] Daß es sich bei Haiders „Buberlpartie“ um eine funktionierende Parteiendemokratie handelt, ist für jemanden, der die inneren Strukturen von Verbrecherbanden kennt, keineswegs ironisch zu verstehen. Jeder, und sei er noch so klein und unbedeutend, hat in ihnen die Chance aufzusteigen — und anders als im bürokratisierten Staatsapparat kann er dies hier sehr schnell (direkte Demokratie!); und er kann jederzeit das Recht auf umfassenden Schutz beanspruchen — solange er sich mit der Macht identifiziert, die ihn beherrscht.

Bild: Draško Cagović, Vreme
NOTO KOSOWAR 3.20

Es ist diese innerparteiliche Demokratie, von der die sogenannten Protestwähler magnetisch angezogen werden: So wollen sie ihren Staat. Für die politischen Schutzgelder, die der Staatsbürger und Wähler mit Steuern und Stimmen zahlt, erklären sich ‚Partei’ und Staat bereit, in ihrem Revier den Schutz der Bevölkerung und die Vertretung ihrer Interessen zu übernehmen — den Standort zu sichern und den Arbeitsmarkt abzugrenzen. Die Transformation der Partei alten Typs in eine Bande neuen Typs stellt demnach den Versuch dar, Flexibilität des Kapitals und Fixierung der Arbeitskräfte neu zu vermitteln. Gerade dies aber heißt, den Rassismus zu intensivieren: der nationale Schutz des Arbeitsmarktes ist von umso größerer ideologischer Bedeutung, je mehr das Kapital nationale Grenzen real überwindet.

3. Bande ist nicht Bande

Der Begriff der Bande hat allerdings die Tendenz, sich zu verselbständigen und alles zu verschlingen. In Wolfgang Pohrts neuem Buch Brothers in Crime erscheint zuletzt Geschichte überhaupt nur als eine Abfolge von Rackets in wechselndem Gewand. Die Frage von Gewaltmonopol und Wertgesetz droht durch den Hinweis auf Waffen und Beute, Willkürherrschaft und Herrschaft von Sachen, völlig ersetzt zu werden. Das Resultat löscht sein Gewordensein aus — und die Theorie hält nur noch das Resultat fest, statt in der Kritik des Resultats das Gewordensein sichtbar zu machen. Schon in Horkheimers und Adornos Überlegungen aus den frühen vierziger Jahren treten Rackets das Erbe der Marxschen Klassentheorie an, als hätten die Banden in Gestalt von Monopolen den Wert nur als Mittel benutzt, um an die Macht zu kommen, und ihn dann beseitigt. Fixiert diese These den historischen Moment, da der NS-Staat das Wertgesetz sistierte, besser: dessen Kausalität zum Zerreißen dehnte, wodurch der Verwertung des Werts schließlich neue Bahn gebrochen wurde, so nehmen Adornos spätere Studien zur Negativen Dialektik (auch unter dem Einfluß Sohn-Rethels) die Kritik des Werts als Inbegriff aller Kritik wieder auf, ungeachtet der früheren Annahme, daß die Rackets dessen ökonomische Apparatur längst zerschlagen hätten. Pohrt hingegen hält an der Position der frühen vierziger Jahre krampfhaft fest: Der Wert habe aufgehört zu bestehen, das Wertgesetz sei durch das Gesetz des Stärkeren abgelöst worden, heißt es bereits in der Theorie des Gebrauchswerts, [5] und ohne sich die Frage zu stellen, ob solche Stärke sich nicht fortwährend der Verwertung des Werts verdankt, malt der Theoretiker als Satiriker sie nun in allen Facetten bloß aus. Lediglich für die Vorgeschichte deutet er so etwas wie einen geschichtlichen Prozeß an, wenn er den als Mafia-Jäger berühmt gewordenen und schließlich ermordeten Untersuchungsrichter Giovanni Falcone zitiert, der erkannte, daß die Mafia „der Ausdruck eines Verlangens nach Ordnung und damit nach Staat“ ist — und daran die Bemerkung anschließt, daß der „Staat die Spätform der Bande ist und die Bande im Erfolgsfall die Frühform des Staats“. [6] (Hinzuzufügen wäre, daß man die geschichtlich weiter zurückliegenden Banden gewöhnlich Adel nennt, die jüngeren Mafia.)

Näher denn je aber liegt es heute, die Bande auch als Spätform des Staats zu begreifen. Als späte erscheint die Form angesichts ihrer offenkundig reduzierten Möglichkeiten, die Krise des Werts zu entsorgen. Die Brechtsche Satire über Arturo Ui trifft jedenfalls in viel höherem Maße auf Haider zu als auf Hitler. Haiders Politik ist tatsächlich „das Gangsterstück, das jeder kennt“. Aber noch hier gilt der Unterschied: die „Pest“, die Arturo Ui wie alle normalen Gangster verbreitet, ist immerhin nicht Rassismus und Antisemitismus.

[1Stefan Vogt/Andreas Benl: Der Parteienstaat als Volksstaat. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen im deutschen Parteiensystem. In: Andreas Dietl u.a.: Zum Wohle der Nation. Berlin 1998. S.116f.

[2Max Horkheimer: Die Rackets und der Geist [Aufzeichnungen und Entwürfe zur Dialektik der Aufklärung]. In: Gesammelte Schriften. Hg.v. Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr. Bd.12. Frankfurt am Main 1985. S.288

[3Die Presse, 14.2.1998

[4Frederic M.Thrasher: The Gang. Chicago 1947 [1. Aufl. 1927] S.3

[5Wolfgang Pohrt: Theorie des Gebrauchswerts. [1975] Berlin 1995. S. 249, 251

[6Wolfgang Pohrt: Brothers in Crime. Berlin 1997. S.34

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