Grundrisse, Texte außerhalb der Grundrisse
Mai
2004

Die Eindrittel-Gewerkschaft m.b.H.

Rezension von: Alfred Artmäuer, Manfred Bauer, Julius Böheimer: Ohne jede Chance. Der Fall Semperit, Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Wien 2003.

Das Buch, so der Klappentext, erhebt den Anspruch, nicht nur die Unternehmensgeschichte mit Konzentration „auf die Ereignisse rund um den Verkauf des Werkes an den Conti-Konzern und die folgende Entwicklung“ darzustellen, sondern auch die Verquickung des „Falls“ Semperit mit dem Phänomen „Globalisierung“ und „Internationaler Wirtschaftspolitik“. Erfahrungsberichte (Artmäuer und Böheimer sind bzw. waren führende sozialdemokratische Betriebsräte der Semperit) und Interviews runden die Behandlung der Thematik ab.

Wer jedoch glaubt, es mit einer ernsthaften Bilanz der Niederlage in einem der bedeutendsten Klassenkämpfe in Österreich zu tun zu haben, wird enttäuscht. Es sei denn, die Leserin ist bereit, sich auf eine durchgehend nationalistische, von Stellvertreterpolitik und sozialdemokratischer Sozialpartnerschaftsromantik geprägte Darstellung einzulassen. Dennoch, oder vielmehr gerade deshalb bildet „Der Fall Semperit“ einen wichtigen und „lesenswerten“ Einblick in Vergangenheit und wohl oder übel auch Gegenwart alpenländischer Gewerkschaftspolitik. Obwohl Ideologiekritik aufgrund der durchgehend sich selbst entlarvenden Sprache des Buches ohnedies kaum vonnöten ist, soll sowohl an den nicht behandelten Aspekten, als auch an ausgewählten und kommentierten Passagen des Buches die dahinter liegende Problematik in den Blick genommen werden. Dabei ersuche ich, mir mangelnde „Objektivität“ nachzusehen, war ich doch von 1988 bis 1995 direkt im niederösterreichischen Werk der Semperit in Traiskirchen beschäftigt und auch danach noch Angestellter des Continental-Konzerns.

Bereits in der Widmung der drei Autoren (ein ehemaliger und ein noch aktiver Betriebsrat - die endgültige Schließung des Werks ist für 2005 geplant - sowie ein Journalist aus dem Umfeld der Kommunistischen Partei Österreichs) wird deutlich, woher der Wind weht – und es ist nicht der Klassenkampf: „Wir widmen dieses Buch allen Österreicherinnen und Österreichern als Erinnerung an ein heimisches Unternehmen, das noch vor wenigen Jahren Tausenden von Menschen Beschäftigung bot und als ein Aushängeschild österreichischer Industrie- und Unternehmenspolitik galt.“ (S. 5) Es drohen Edelweiß und Gamsbart – and so shall it be. Leider.

Ich hingegen möchte vorerst die Aspekte des „Falls“ Semperit erwähnen, die keine Aufnahme in das Buch gefunden haben, welche aber meines Erachtens nach zentrale Themen einer solchen Betrachtung – zumal aus kritischer Perspektive – sein müssten:

  • so findet sich über die Frage der weiblichen Beschäftigten im Werk kein Sterbenswörtchen, obwohl ihre Diskriminierung sowohl in Sachen Aufstiegsmöglichkeiten als auch in Lohnbelangen bis zuletzt eklatant war,
  • nichts über die Situation der MigrantInnen, die zu Hunderten im Werk beschäftigt waren, niemals jedoch in gehobenen Positionen, geschweige denn als BetriebsrätInnen (in Österreich scheitert die Forderung nach passivem Betriebsratswahlrecht für Nicht-StaatsbürgerInnen seit Jahren, ja Jahrzehnten, am Widerstand der Gewerkschaftsführung),
  • und nicht eine Fußnote über das Mobbing gegen kommunistische ArbeiterInnen und Betriebsräte durch SP-Betriebsräte und Geschäftsführung, als erstere in den 70er und 80er-Jahren versuchten, unabhängig vom allmächtigen sozialdemokratischen „Betriebskaisertum“ gewerkschaftspolitische Alternativen zu entwickeln.

Dafür begegnen wir unserer „Heimat Österreich“ auf Schritt und Tritt, egal ob in der Verklärung sozialdemokratischer Regierungen (die den neoliberalen Kahlschlag in den 80er Jahren einleiteten, aber darüber wird kaum ein Wort verloren), den Lobeshymnen auf den Standort Österreich oder der „alternativen“ Forderung nach einem Standortschutzabkommen (S. 94), und, last not least, bei dem Kniefall vor der Kronen Zeitung („die immer im Sinne der Semperit-Beschäftigten berichtete“, S. 115), dem Flaggschiff von dumpf-populistischen Patriotismus, von Rassismus und Linkenhetze.

Die (drei) Kernthesen des Buches sind schnell erzählt. Der Niedergang der Semperit, vom ehemals quasi-verstaatlichten Vorzeigeunternehmen zur stillgelegten verlängerten Werkbank eines neoliberalen Großkonzerns, wurzelt nach Meinung der Autoren:

  • in der mangelnden Eigenkapitalausstattung seitens des langjährigen Eigentümers, der staatlichen Creditanstalt-Bankverein (CA)
  • an der mangelnden Bereitschaft der Conti-Konzernleitung, Verantwortung für die Arbeitsplätze der Beschäftigten zu übernehmen und stattdessen vollends dem neoliberalen Paradigma der Shareholder-Value anzuhängen
  • im mangelnden Willen der seit 2000 amtierenden ÖVP-FPÖ-Bundesregierung „industriepolitische“ Akzente zur Rettung des Unternehmens zu setzen.

Erstaunlich ist auch, mit wie viel Kunstfertigkeit die Autoren es erfolgreich vermeiden, so etwas wie einen Klassengegensatz zu konstatieren. Die Identität stiftende Wirkung der „Familie Semperit“ hingegen wird gerne, ausführlich und stets zustimmend genannt, ebenso die Bereitschaft seitens des Betriebsrats, an „Einsparungsmaßnahmen“ konstruktiv mitzuwirken. Ebenfalls konsequent verteidigt wird die seit Ende der 70er Jahre kontinuierlich gepflegte Tradition des Verhandelns – und Klein-Beigebens. Dessen erster Schritt war wahrlich ein „Meilenstein“ in der Geschichte der „ArbeitnehmerInnenvertretung“: die berühmt-berüchtigten „Freischichten“, in denen zwischen 1. Juli 1979 und 30. Juni 1980 alle SemperitlerInnen vier Schichten ohne (!) Bezahlung arbeiteten, um die staatliche (!) Eigentümerin CA zu einer notwendigen Kapitalaufstockung zu bewegen. Hier zeigt sich die von allen Seiten zugreifende Macht der Sozialdemokratie gegen die ArbeiterInnen. Sowohl Betriebsrat als auch Regierung und eben die CA waren damals fest in der Hand der SPÖ.

Dabei war die Semperit keineswegs immer ein Hort fauler Klassenkompromisse, im Gegenteil: Im ansonsten dank „Sozialpartnerschaft“ so streikfaulen Österreich (Ausfallzeiten wurden und werden in Sekunden gemessen – und zählen dennoch oft Null) waren die Beschäftigten der Semperit vielmehr Avantgarde in Sachen Arbeitskämpfen. Bereits Anfang der 70er Jahre wurde in Traiskirchen erfolgreich gestreikt– allerdings „wild“, von marxistischen Betriebsräten gegen eine erdrückende und kalmierende SP-Mehrheit initiiert, und genau deshalb auch erfolgreich. Nach einem weiteren erfolgreichen Streik im Jahr 1978 (es ging um Lohnerhöhungen in Folge gravierender Umstellungen im Produktionsprozess) wurde der Klassenkampf jedoch ad acta gelegt. Diese Entwicklung wird auch im Buch nachgezeichnet, nur ist leider von politischen Schlussfolgerungen daraus wenig bis gar nichts zu lesen. Von nun an ging´s jedenfalls bergab: Eine Mischung aus abwarten, verhandeln, Kampfmaßnahmen abwiegeln und (ohne Erfolg) auf die Rettung durch die „Mutterpartei“ hoffen wurde zum Prinzip der betriebsrätlichen Vertretungstätigkeit.

Im Buch selbst werden im Zusammenhang mit der Schließung des Werks immer wieder drei AkteurInnen genannt: Die Unternehmensführung der Continental-AG, die österreichische Bundesregierung und der Betriebsrat bzw. die Gewerkschaft. Während den ersten beiden mangelndes soziales Engagement vorgeworfen wird, sieht sich der Betriebsrat – natürlich stellvertretend für die Beschäftigten – als Opfer eben dieser unsozialen Firmen- und Regierungspolitik, aber auch als Opfer des Neoliberalismus und der Globalisierung.

An dieser Stelle wäre eine Reflexion der Bedeutung historischer Transformationsprozesse angebracht, die über die kritische Betrachtung der eigenen Rolle in der Geschichte durchaus zu einem Über- und Umdenken führen könnten. Gerade die Stellen im Buch, wo positiv auf die Neuen Sozialen Bewegungen und die Sozialforen Bezug genommen wird, hätten durchaus eine Perspektive der kritischen Durchleuchtung eigener verfehlter Politiken eröffnen können. Fehlanzeige! Es bleibt, was es war, was immer schon falsch war: guter Staat, böser Markt, böse schwarz-blaue Regierung, gute Gewerkschaft. Dass am (Macht)Verhältnis von Beschäftigten und BetriebsrätInnen etwas nicht in Ordnung gewesen sein könnte, wird nicht einmal in Erwägung gezogen.

Und so ist nach der Lektüre von „Ohne jede Chance. Der Fall Semperit“ dieselbe Bilanz zu ziehen wie nach der Beobachtung und Analyse des Niederganges der Semperit: [1] Zwei Drittel der AkteurInnen haben ihre Sache gut gemacht, ihre Interessen adäquat artikuliert: ein kapitalistischer Konzern und eine neoliberale Rechts-Regierung. Das „dritte Drittel“ möchte ich für sich selbst sprechen lassen, durch ein Flugblatt der Gewerkschaft, verfasst im Jahr 2002 – nach (!) Bekanntwerden der Schließung des Werks: „Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften sind bereit, konstruktiv und innovativ an Lösungen mitzuarbeiten, um Kostenprobleme in den Griff zu bekommen.“ Die Semperit schrieb zu dieser Zeit Gewinne.

Die Geschichte der Semperit aus Sicht der ArbeiterInnenklasse bleibt also nach wie vor zu schreiben: von gekündigten kommunistischen Gewerkschaftern; von aus der Türkei stammenden ArbeiterInnen, denen anlässlich einer migrantischen Gegenkandidatur zum Betriebsrat vom sozialdemokratischen Betriebsrat selbst Hürden in den Weg gelegt wurden; von den ehemaligen Tagelöhnern aus dem nahen Flüchtlingslager, die – teilweise mit akademischer Qualifikation – zu einem Schandlohn Maschinen reinigten; von den Frauen der stillgelegten Fahrradreifenerzeugung, schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen in der PKW- bzw. LKW-Reifen-Produktion („weil die Arbeit dort härter ist“) und im Sekundentakt die selben Bewegungen wiederholend, allesamt wohl zurecht und für immer enttäuscht von sozialpartnerschaftlicher Stellvertreterpolitik. Es rettet uns kein höh’res Wesen …

Zeittafel:

  • 1896: Gründung der Semperit.
  • 1900: Beginn der Autoreifenproduktion in Traiskirchen.
  • 1914-18: Produktion ausschließlich für den militärischen Bedarf.
  • 1020-30: Stete Vergrößerung des Betriebs – Semperit ist der zweitgrößte Industriekonzern Österreichs.
  • 1934: Austrofaschistische Machtübernahme – Auflösung des Betriebsrats.
  • 1939: Nach dem „Anschluss“ wird Semperit teilweise in den deutschen Continental-Konzern eingegliedert.
  • 1938-45: Während der nationalsozialistischen Diktatur werden polnische Zwangsarbeiter, die in Baracken am Werksgelände einquartiert sind, beschäftigt.
  • 1945: Befreiung vom Nationalsozialismus. Ein Großteil der Maschinen wird in die SU verbracht
  • 1946-49: Die Produktion verdoppelte sich jährlich. 1946 wurden 1.142 t produziert, 1947: 2.441, 1948: 4.688 und 1949: 8.400 (letzteres entsprach einer Anzahl von 218.096 Autoreifen).
  • 1956-73: Semperit wird zum Großkonzern, 1973 arbeiten 15.000 Beschäftigte in 24 Produktions- und Vertriebsgesellschaften, die Jahresproduktion beträgt 158.000 Tonnen.
  • 1973: Eigentümerin CA bringt Semperit in eine gemeinsame Holding mit der 100%igen Michelin-Tochter Kléber ein.
  • 1973-79: Semperit wird zunehmend zur verlängerten Werkbank des Michelin-Konzerns und gerät in große wirtschaftliche Turbulenzen.
  • 1978: Erfolgreicher Streik um Lohnerhöhungen.
  • 1979-80: In den 4 berüchtigten „Freischichten“ verzichten die Beschäftigten auf ihren Lohn, um die CA zu einer Kapitalaufstockung zu bewegen.
  • 1985: Die Continental AG kauft 75% der Aktien der Semperit Reifen AG um den Spottpreis von 440 Millionen Schilling (damals rund 63 Mio. DM!).
  • 1990: Conti beginnt Expansion in den ehemaligen „Ostblock“.
  • 1994-96: Die Forschung & Entwicklung wird in Hannover konzentriert, die F&E-Abteilungen in einigen anderen Werken, darunter Semperit-Traiskirchen werden geschlossen.
  • 1996: Beschluss der Konzernzentrale, das Semperit-Werk zu schließen. Die Wochenendschichten werden eingestellt. Nach kalmierenden Interventionen von SPÖ und Betriebsrat stimmen rund 80% gegen Kampfmaßnahmen. Ende des Jahres wird auch das 1969 eröffnete Semperit-Reifenwerk in Dublin (Irland) geschlossen.
  • 1997: Die Angestellten leisten eine „Standortsicherungsabgabe“ im Ausmaß von 2% ihres Gehaltes, Einstiegslöhne für neu eingestellte ArbeiterInnen werden um 7,4 % gekürzt.
  • 1996-2001: Maschinen werden sukzessive abgebaut und ins tschechische Barum-Werk gebracht.
  • 2002: Die anlässlich der ersten Kündigungswelle 1996 gegründete Arbeitsstiftung wird erweitert.

Derzeit sind noch rund 400 Beschäftigte im Werk tätig. Vor rund 20 Jahren arbeiteten rund zehn Mal so viele Menschen bei Semperit. Für 2005 ist die endgültige Schließung des Standortes vorgesehen. Zwischen 1985 und 2002 konnte Continental aus dem Werk einen Reingewinn von rund 400 Millionen Euro erzielen.

Vorabdruck aus express - Zeitschrift fuer sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftspolitik, Nr. 5/04

[1Vgl. Martin Birkner: „Es war einmal in einem Reifenwerk … Bericht über das Totalversagen sozialpartnerschaftlicher Interessensvertretung“, in: Kulturrisse. Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik, Ausgabe 03/02.

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