Amelie Lanier, Sonstiges
 
2011

Die „Empörten“

Eine Empörung, die von Illusionen über Krise, Demokratie und Marktwirtschaft lebt

In Spanien, Griechenland, Frankreich und sonst wo versammeln sich große Menschenmassen, zum großen Teil Jugendliche, auf zentralen Plätzen und protestieren. Sie zeigen sich zutiefst enttäuscht, bezeichnen sich über alle Grenzen hinweg als die „Empörten“ und finden in der einen Gemeinsamkeit zusammen, dass sie nicht verstehen und akzeptieren können, wie ihre Staaten mit ihnen umspringen.

Auf Plakaten steht:

Wir sind keine Systemfeinde - das System ist uns gegenüber feindlich.

Keine Frage, da haben sie Recht: Das System ist ihnen gegenüber feindlich. Ein Generalangriff auf ihre Lebensbedingungen hat stattgefunden und findet statt. Das Leben, in dem sie sich bislang schlecht und recht durchgeschlagen haben, wird ihnen nicht nur immer schwieriger, sondern in immer größerem Umfang unmöglich gemacht. Immer mehr, auch und gerade die zitierten „gut ausgebildeten Jugendlichen“, werden auf Dauer arbeitslos gemacht, die Staaten streichen gnadenlos die Sozialleistungen zusammen usw. Das „System“ nimmt ihnen die Perspektive, die sie gewohnt waren. Dagegen halten sie, dass sie doch nichts Unbilliges verlangen, wenn sie dieses Leben weiterführen können wollen, dass sie doch ganz normale Menschen sind und überhaupt nicht nachvollziehen können, warum man ihnen so übel mitspielt:

Wir sind normale Menschen. Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden. Menschen, die jeden Tag hart arbeiten.

(Manifest der spanischen Demonstranten)

Da muss man die „Empörten“ fragen: Wie kommen sie darauf, dass sie mit der Berufung auf ihre Normalität so etwas wie einen Berechtigungsausweis erworben hätten, ein Recht, von ihrer Obrigkeit berücksichtigt zu werden? Und umgekehrt: Liegt denn ein Vergehen der Obrigkeit vor, wenn diese die Normalität gerade neu definiert? Denn das ist es, was geschieht und was die „Empörten“ nicht begreifen wollen.

Sie sagen, sie seien es gewohnt, hart zu arbeiten. Sie sagen auch, sie seien es gewohnt, mit bescheidenen Ansprüchen durchs Leben zu gehen – das tragen sie ja wie ein Gütesiegel vor sich her, wenn sie sagen: Wir fordern doch nichts Besonderes, eben nur unsere Normalität. Sie beteuern also ihre Bereitschaft, in diesem System als kleine Rädchen – weiter! – mitzuarbeiten. Dabei haben sie sich die Umgebung, in der sie wie gewohnt ihre Dienste tun wollen, nicht ausgesucht, geschweige denn selber hergestellt. Vielmehr wurde ihnen diese Normalität hingestellt, nämlich von ihrer Obrigkeit. Die hat mit ihren Gesetzen bis ins Kleinste hinunter geregelt, wie diese Normalität auszusehen hat bzw. wie man sich in ihr zu bewegen und bewähren hat. Sie hat festgelegt, wie man sich seinen Lebensunterhalt überhaupt nur verdienen kann oder ohne einen Verdienst auskommen muss, wie man eine Familie gründet und organisiert, wie man sich einen Altersunterhalt erwirbt oder auch nicht, usw. usf. In einem Wort: In der Normalität, die die „Empörten“ zurückhaben wollen, waren sie nichts anderes als abhängige Variable, eine Manövriermasse des Staates. Wenn sie jetzt sagen: „Wir hatten eine Chance, die man uns jetzt nimmt“, dann war das eine „Chance“, die der Staat eingerichtet hatte – und zwar nicht, um den Leuten ihre Normalität zu ermöglichen, sondern nach seinen Berechnungen und zu seinem Nutzen. Daran hat sich gar nichts geändert, was das jetzige Handeln der Staaten nur beweist und was die „Empörten“ selbst erfahren und beklagen: Auf Basis der von ihnen erlassenen Gesetzeslage machen die, die für die Belange des Staates zuständig sind, also die Staatsmänner, die Gesetze, mit denen sie die neue Normalität herstellen, die für den Staat notwendig ist – und wenn das die Lebensnotwendigkeiten der Leute über den Haufen wirft, dann setzt der Staat damit seine Notwendigkeiten durch. Es ist keine dem „System“ immanente Eigenschaft, sich nach den Lebensnotwendigkeiten der ihm unterworfenen Leute zu richten, deren Lebensumstände werden vielmehr danach eingerichtet und die Leute haben sich danach zu richten, was dieses „System“ für sich für notwendig hält. Es stellt klar, wie kläglich sich die Berechnung der so genannten „kleinen Leute“ zu dem verhalten, was die in diesem „System“ zählenden Berechnungen sind. Was das „System“ aktuell für notwendig hält, ist kein Geheimnis, wird sogar offen gesagt: Diese Gesellschaft beruht auf und lebt vom Funktionieren des Kreditsystems – und wenn dessen „Rettung“ an erster Stelle steht, dann gibt es nicht nur Wichtigeres als die Normalität, nach der die „Empörten“ sich sehnen, diese Normalität ist mit der durchzuziehenden Rettung des Kreditsystems ganz offensichtlich unvereinbar. Wie es der griechische Finanzminister ausdrückt: „Unsere Maßnahmen sind hart und ungerecht, aber es führt kein Weg daran vorbei.“

Die „Empörten“ sagen: „Das System ist uns gegenüber feindlich.“ Sie konstatieren also, dass von Seiten des „Systems“ eine Kündigung ausgesprochen wurde, die auf ihre Lebensumstände keinerlei Rücksicht nimmt. Sehr deutlich sagen sie aber auch, dass sie – wie die erste Hälfte des Plakatspruches versichert – eine Gegenkündigung gegenüber dem, was sie von Seiten des Staates erfahren, nicht aussprechen wollen: „Wir sind keine Systemfeinde“. Das „System“ sagt ihnen nach ihrer eigenen Auskunft den Kampf an, sie wollen diesen Kampf aber nicht erwidern. Mit diesem Widerspruch gehen sie so um, dass sie ihn immerzu nur beschwören: Seht ihr denn nicht, was ihr uns antut, das kann doch niemand wollen, das haben wir doch nicht verdient! Der ganze Protest ist durchdrungen von einer hartnäckigen Verständnislosigkeit, ist ein in Beschwerdeform vorgetragenes einziges Jammern, und er fasst sich in dem Ausruf zusammen: Das kann doch nicht wahr sein!

Nun ist es aber wahr, und die „Empörten“ suchen nach Erklärungen für das eigentlich Unfassbare. Auf die Erklärung, dass das „System“ jetzt wie früher nach seinen Notwendigkeiten handelt und dass die „Empörten“ jetzt wie früher nur das Material dafür abgeben, kommen sie nicht oder wollen sie nicht kommen: „Wir sind keine Systemfeinde!“ Das eigentlich Unfassbare können sie sich nur damit erklären, dass eine große Abweichung, ein Verstoß vorliegt, nämlich des „Systems“ gegen sich selbst. Wenn das „System“, das doch ein normales Leben ermöglicht hat, dies nun plötzlich verunmöglicht, dann kann das ihrer Meinung nach nur daran liegen, dass sich da irgendein böser Wille breitgemacht und durchgesetzt hat - statt nach einem Grund für das Handeln des „Systems“ suchen sie also nach lauter Schuldigen im „System“, die etwas verkehrt machen. Das können natürlich nicht die normalen Leute gewesen sein, sondern nur „die Mächtigen“: Die sind verantwortungslos und versagen an ihrer eigentlichen Aufgabe der Bewahrung der „Normalität“, und das tun sie, weil sie nur auf ihren eigenen Vorteil schauen und das Gute, Wahre, Schöne gegen Silberlinge verkaufen. Kurz: Das „System“ handelt nicht auf der Grundlage seiner eigenen Gesetzgebung, sondern ist zu einem einzigen Rechtsverstoß verkommen – es ist, wohin man schaut, von „Korruption“ durchdrungen. In den Worten eines Manifests:

Wir sind besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich um uns herum präsentiert: Die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- wie auch sprachlos. Und diese Situation ist mittlerweile zur Normalität geworden - tägliches Leid ohne jegliche Hoffnung.

(Manifest DRY [1])

Es ist erstens ein Rätsel, warum dieselben Politiker, Geschäftsleute und Banker, die für die alte und angeblich aushaltbare Normalität zuständig waren und sie verbürgten, so plötzlich eine verbrecherische Laufbahn eingeschlagen haben sollen. Es ist zweitens ein Fehler, diesen Figuren, den Zapateros und Papandreous eine Absage entgegenzuschleudern, auch wenn sie noch so frech – „Haut alle ab!“ – daherkommt: Diese Absage richtet sich gerade nicht gegen die legitimen Machtbefugnisse, die das Amt diesen Personen verleiht, sondern eben nur gegen die Personen. Was soll dabei mehr herauskommen, als neue Personen, die dieselben Ämter besetzen? Weswegen drittens die Aufregung über Korruption lächerlich ist, denn was ist eine persönliche Bereicherung schon im Vergleich zu der Gewalt, die diese Personen nach allen Regeln der Demokratie befugt gegen andere ausüben? Aber all das interessiert die „Empörten“ nicht weiter – Hauptsache, sie haben ihre Schuldigen gefunden und können an das eigentlich gute „System“ weiterhin glauben. Die Schuldigen nun mit aller Macht zu bekämpfen, kommt ihnen nicht in den Sinn, vielmehr wollen sie bei „den Mächtigen“ damit Eindruck machen, dass sie ihnen anklagend ihre eigene „Hilf- und Sprachlosigkeit“ vorhalten. Warum meinen sie, damit bei „den Mächtigen“ einen Stich machen zu können? Können sie sich gar nichts anderes vorstellen, als dass ihre Lebensumstände weiterhin von Politikern, Geschäftsleuten und Bankern festgelegt werden, dass sie sich weiterhin nach deren Vorgaben richten müssen? „Tägliches Leid ohne jegliche Hoffnung“ sagen sie pathetisch – sie wollen also wieder hoffen können? Sie selber sind „hilf- und sprachlos“ und können nur darauf setzen, dass „die Mächtigen“ sich wieder besinnen, denn nur die können ihnen wieder eine bessere Normalität verschaffen. Das soll der Protest gewesen sein?

[1Abkürzung für: „Demokracia Real Ya" — „Reale Demokratie jetzt!“

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