Streifzüge, Heft 85
August
2022

Die neue Rücksichtslosigkeit (Teil IV)

Grundsätzlich ist zu sagen, dass der moderne Mensch von der Metaphysik, die er als freier und gleicher Marktteilnehmer praktiziert, nichts zu wissen pflegt. Die Metaphysik wird üblicherweise dualistisch gedacht, als etwas, das sich außerhalb von mir befindet, nach Nietzsches Wort: „außen und oben“, und das, mit autoritärer Macht ausgestattet, die Menschen der vormodernen Zeiten darüber belehrte, welche Rituale und Verhaltensweisen sie für ein anständiges und gottgefälliges Leben zu befolgen hatten. In Bilder und Vorstellungen gekleidet, war diese Art von Metaphysik noch leicht als solche zu erkennen. Sie war ein Etwas, zu dem man sich glaubend und bekennend verhalten konnte bzw. musste. Das änderte sich mit dem Aufkommen der modernen Metaphysik, die gewisse Ansprüche an das Abstraktionsvermögen der ihr Unterworfenen stellte, sich also von der religiösen Vorstellungswelt zunehmend entfernte. Je mehr die sozialen Beziehungen sich ausdehnten, je weiter sich Handel und Verkehr entwickelten, desto allgemeiner mussten die Kategorien werden, an denen sich die gesellschaftliche Ordnung ausrichtete. Die Bilder und Geschichten, in denen sich die Erfahrungswelt früherer, kleinräumig angelegter Zustände spiegelte, verloren an Bedeutung. Schließlich betrat – mit Kant – die „reine Form der Allgemeinheit eines Gesetzes“ als solche die Bühne der Metaphysik, auf der dann freilich nichts mehr zu sehen war. Für das im Rahmen des traditionellen Rationalismus (Descartes’ Subjekt-Objekt-Dichotomie) und Empirismus (Locke, Condillac) verbleibende Denken hatte dies zur Folge, dass ihm die Metaphysik gleich ganz abhanden kam. Der Himmel ist leer geworden, verkündete Nietzsche, „Gott ist tot“. Und er meinte, dass er damit jegliche Metaphysik hinter und, wie es sich für den „Übermenschen“ gehört, unter sich gelassen hatte. Und der moderne Alltagsverstand, dem von Nietzsche gleichsam der Weg gebahnt wurde, meint dies auch heute noch.

Da es keine allgemeinverbindliche Ideologie mehr gibt, ist der Himmel der Allgemeinheit zur beliebigen Nutzung frei geworden. Das moderne Individuum kann meinen, glauben und bekennen, was es will, solange es niemanden mit Gewalt zu bekehren versucht, steht der öffentlichen Bekanntgabe der verschiedenen Überzeugungen und Marotten nichts im Wege. Die Vielfalt im Modus des Glaubens und Meinens zeugt davon, dass die Einheit im Modus des gesellschaftlichen Seins (weitgehend) erreicht worden ist. Und nur darauf, dass wir allesamt Funktionäre der kapitalistischen Geldbewegung sind, dass wir also praktisch funktionieren, kommt es bei der Systemwerdung des Kapitalismus schließlich an. Gerade auf die Meinungsfreiheit hält der demokratische Kapitalismus große Stücke. Die Publizistik und die Massenmedien sind erstens ein ergiebiges Geschäftsfeld, auf dem das Kapital den ihm eigenen Zweck verfolgt, und zweitens handelt es sich um ein Ventil für die im System der allseitigen Konkurrenz reichlich anfallenden Aggressionen, die hier in einen harmlosen Aggregatzustand überführt und unschädlich gemacht werden. Und drittens braucht die ständige „Revolution der Produktivkräfte“ natürlich Mechanismen zur Gestaltung und mentalen Verarbeitung des „gesellschaftlichen Wandels“, den sie verursacht. Dass es bunt zugeht, weltoffen und divers, ist für die neuesten Demokraten, die vom Kapitalismus nicht einmal mehr reden wollen, geradezu eine Herzensangelegenheit. Allerdings hängen sie ihr Herz dabei an eine Abstraktion. Denn der Hintergrund der ganzen Veranstaltung ist natürlich das abstrakte Individuum. Es lässt hundert Blumen blühen, um seiner selbst nicht gewahr werden zu müssen.

Auf nichts anderes als auf dieses Individuum hatte Kant es mit seiner „reinen Form der Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt“ ja abgesehen. Nur bei ihm, weil es auch seinerseits „vernünftig“ ist, kann die „Vernunftidee“ des allgemeinen Gesetzes die entsprechende Wirkung erzielen und „moralische Gefühle“ hervorbringen. Worin aber besteht seine Vernunft? Darin, dass es ein „Ich“ zu sein beansprucht, das sich bei allem, was es denkt und tut, als den Ausgangspunkt und die Ursache dieses Denkens und Tuns versteht. Indem es sich einen „freien Willen“ beimisst, abstrahiert es schon im Ansatz von den stofflich-konkreten Bedingungen, die im realen Leben immer schon auf es einwirken. Es befindet sich also vor jedem Inhalt, der etwa gedacht oder gewollt werden könnte, und ist somit ein bloßer Standpunkt, der für sich genommen genauso inhaltsleer ist wie die komplementäre Abstraktion der Allgemeinheit (des gesetzlichen Zustandes), auf die dieser Standpunkt (diese Mentalität, dieses Bewusstsein), um sich in seiner Vereinzelung halten zu können, in der Tat angewiesen ist.

Kant gelangt auf seine Weise also zu dem gleichen Resultat wie Marx: Der (bürgerliche) „Mensch“ gewinnt das Bewusstsein von seiner individuellen Freiheit aus der Tatsache einer praktisch wirksamen Abstraktion. Nur eben, dass Kant diese Fähigkeit, einen vor aller und außerhalb aller Empirie gelegenen Standpunkt einzunehmen, als eine Leistung der „menschlichen Vernunft“ feiert, wohingegen Marx diese „Fähigkeit“ in den Produktionsverhältnissen geerdet sieht. Sie wächst aus der gesellschaftlichen Praxis des Warenverkehrs heraus, der in seiner Allgegenwart ein Spezifikum der modernen bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Diese aber ist genauso wie die Warenform, die voneinander getrennte Produktionseinheiten voraussetzt, ein historisch endliches Phänomen. Und natürlich ist es die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion, in der diese Endlichkeit begründet liegt. Je mehr die Produktion zu einem weltweit dimensionierten System wird, das eine Vielzahl von aufeinander abgestimmten gesellschaftlichen Einrichtungen und Funktionen zu seiner Voraussetzung hat, desto weniger taugen die aus dem Warentausch gewonnenen Abstraktionen dazu, die Welt zu verstehen, geschweige sie zu organisieren.

Die Resultate, die dieses System inzwischen zeitigt, im Guten wie im Schlechten, sind selbst in den Rang der Allgemeinheit vorgerückt, sie betreffen uns alle, aber eben nicht als moralische Subjekte oder Rechtspersonen, sondern in unserer empirisch-stofflichen Existenz. Die Kategorie der Allgemeinheit, so könnte man sagen, füllt sich mehr und mehr mit empirisch-konkretem Inhalt, und der will konkret bearbeitet werden, Bekenntnisse oder Rechtsstandpunkte helfen dabei nicht weiter. Die Supermarkt-Kunden, die sich mit ihren Essgewohnheiten der Nahrungsmittelindustrie anvertrauen, ihren Geschmacksverstärkern, ihren Farbstoffen, ihren mit Antibiotika imprägnierten Fleisch- und Wurstwaren, sie wirken einfach lächerlich, wenn sie angesichts gewisser von der Corona-Pandemie erzwungener Unbequemlichkeiten nach ihren „Persönlichkeitsrechten“ krähen. Und der Staat mit seinen „allgemeinen Gesetzen“, die immer nur den „Rahmen“ abgeben dürfen für eine „Ökonomie“, die er als den Hort der „Freiheit“ (Unternehmergeist) und der „Arbeitsplätze“ (Lohnarbeit) zu schützen hat, erweist sich als komplett hilflos angesichts von Problemen (CO²-induzierter Klimawandel, Versauerung und Vermüllung der Ozeane), die mit der Stilllegung der entsprechend nichtsnutzigen Industrien schnell zu lösen wären. Kurz gesagt, das Zeitalter Kants, in dem es sich darum handelte, die Menschen der Vormoderne in das einheitlich strukturierte Korsett des modernen Rechtssystems zu zwängen, ist an seinem Ende angelangt.

Die Partei des „Weiter so“

Von hier aus gesehen, liegt es nahe, die Kämpfer:innen der Wokeness und der Cancel-Culture, die vor allem in den angelsächsischen Ländern von sich reden machen, als die „Ewig-Gestrigen“ unserer Tage zu bezeichnen. Wie Schlafwandler, die den Grund unter den Füßen bereits verloren haben, in ihrem Traum aber immer noch weiter steigen, fahren sie fort mit dem Fortschreiten ins Nirwana der abstrakten Vernunft. Jedes empirische Dasein, das im Verdacht steht, sich als „normal“ zu verstehen, bringt sie in Wut. Denn die entsprechende Haltung impliziert, dass empirische Erscheinungen anderer Art nicht normal seien, somit herabgesetzt werden zu etwas, das „unterhalb“ der Norm verbleibt. Das Wort „normal“, auch wenn es ganz unbefangen und nur gewohnheitsmäßig verwendet wird (und vielleicht gerade dann), klingt in der Tat nach „allgemeiner Norm“, nach „reiner Form der Allgemeinheit“ etc., und an die heranzureichen, darf sich kein empirisches Dasein anmaßen. Schon gar nicht darf es der „alte weiße Mann“, das bei den woken Kämpfer:innen so beliebte Feindbild. Es ist der gute alte Kant, übrigens auch ein weißer Mann, der hier praktiziert wird. Aus der Wut, mit der die Sexisten und Rassisten – vielleicht nicht gerade aller Länder, aber doch die der Medienbranche und des akademischen Establishments – als solche entlarvt und bekämpft werden, ist freilich zu schließen, dass den jungen Hoffnungsträgern der neuesten Aufklärung das Alter des Hutes, den sie sich aufsetzen, nicht bewusst ist. Somit fehlt es auch am Bewusstsein von dem Apriori der bürgerlichen Vergesellschaftungsform, für das die Kant’sche „Metaphysik der praktischen Vernunft“ ja steht, und von der unüberbrückbaren Kluft, die sie von der Ebene der empirischen Erscheinungen trennt. Das alte „Verwirklichungs“-Spiel, bei dem es sich darum handelt, die Abstraktion in ihrer allzu realen Wirksamkeit nicht etwa zu kritisieren, sondern endlich und ein für allemal in die alltägliche Erfahrungswelt zu überführen, kann in eine neue Runde gehen.

Neu ist in der Tat, dass Freiheit und Gleichheit nicht mehr bloß als eine Frage von Recht und Gesetz behandelt werden. Die Zivilgesellschaft passt jetzt auf sich selber auf, könnte man sagen. Sie achtet selbst darauf, dass der bürgerliche Anstand gewahrt wird, und sie straft mit den ihr eigenen Mitteln. Wer sich nicht korrekt an die Prinzipien hält, wer sich gar Witze über sie und die von ihnen geschützten Minderheiten erlaubt, dem wird die Anerkennung durch den Markt entzogen. Die Sünder:innen werden per Shitstorm oder sonst einer Mobbing-Methode aus der lukrativen Stelle gedrängt, die sie etwa innehaben, oder sie gelangen gar nicht erst hinein. Die Marktgesellschaft befindet sich gewissermaßen auf dem Höhepunkt ihrer Selbstgewissheit. Als Manager speziell in der Kulturindustrie, aber auch sonst in den weltweit agierenden Konzernen, ist nur qualifiziert, wer sich strikt an die Regeln hält, etwas anderes als die sachliche Leistung, für die man bezahlt wird, darf es nicht geben. Arme Kabarettisten!

Die staatlichen Gesetze sind soweit verinnerlicht, dass sie für die in ihrer Formvergessenheit am weitesten fortgeschrittenen Staatsbürger entbehrlich sind. Für sich genommen, sind diese vielleicht letzten Fanatiker der Abstraktion sicher nicht von Bedeutung. Von den Gewaltorgien, mit denen die bürgerliche Revolution zu ihren besten Zeiten aufwarten konnte, ist ihre Verbissenheit nur ein schwacher Abklatsch. Aber sie zeugen vom Erfolg dieser Revolution. Sie sind gleichsam die Spitze des Eisberges, repräsentativ für eine Gesellschaft, die als ganze verlernt hat, die stoffliche Erfahrungswelt ernst- und als solche überhaupt wahrzunehmen. Wie einfach hatte es noch Kant, zwischen dem Apriori der abstrakten Vernunft und der „Sinnenwelt“ zu unterscheiden! Er konnte sich noch darüber wundern, dass das „vernünftige Wesen“ Handlungen durch sich als möglich, gar als notwendig erachtet, die nur unter „Hintanstellung der Sinnenwelt“ geschehen können. Gemeint war der Tod fürs „Vaterland“, für die „Freiheit“, die „Gerechtigkeit“ und ähnliche Allgemeinbegriffe, deren gemeinsamer Vorgänger wohl „Gott“ gewesen ist. Heute staunen die Menschen (allesamt Marionetten des Marktes) darüber, dass sie „atmen“ und „verdauen“ und „Gefühle haben“, was sie beim effektiven Funktionieren immer wieder mal „stört“, und es muss ihnen eigens erklärt werden (von einer dafür zuständigen Dienstleistungs-Industrie, versteht sich), dass das „auch zum Leben gehört“. Die stoffliche Realität ist nicht verschwunden, aber der totale Markt erlaubt ihr nicht, für sich etwas zu sein. Kein Lebensbereich, der sich unter dem Aspekt der Verwertbarkeit nicht als „nützlich“ erweisen könnte oder müsste. Selbst die Klimakatastrophe ist für eingefleischte Marktfetischisten nur eine weitere Gelegenheit, „Innovationen“ hervorzubringen und auf dem Weltmarkt mit irgendeinem weniger schädlichen Produkt zu punkten.

Das „Jenseits im Diesseits“ – dieser Ausdruck, den ich bei Heimito von Doderer gefunden habe, war seinerzeit (in dem Roman „Die Dämonen“) auf die Identitätsproblematik des bürgerlichen Individuums gemünzt. Er scheint mir insgesamt auf eine gesellschaftliche Situation zu passen, in der die Menschen derart komplett vom Jenseits der Abstraktion okkupiert sind, dass sie das stoffliche Diesseits nicht mehr davon unterscheiden können. Als ideologisches Resultat ergeben sich dann theoretisch so ergiebige Begriffe wie „Komplexität“, „Kontingenz“ und „Disruption“, mit denen die philosophischen Spaßvögel unserer Zeit, „Dekonstruktivisten“ und „Poststrukturalisten“ und wie sie sich sonst noch zu nennen belieben, uns Bauklötze staunen machen. Mit seiner „neuen Unübersichtlichkeit“ hat Jürgen Habermas die Spielzeugkiste einst aufgemacht.

Die Partei der destruktiven Reaktion

Auf den konservativen Mainstream des gesellschaftlichen Bewusstseins, der noch gänzlich befangen ist in jenem Fortschritts- und Verwirklichungsdenken, das nun schon bald 300 Jahre auf dem Buckel hat, gibt es natürlich eine Reaktion. Hierzu sind all jene zu rechnen, die mit dem Glauben an Fortschritt und Wachstum keine guten Erfahrungen gemacht haben. Sofern die entsprechende Kritik politisch borniert ist, also rein auf der politischen Ebene verbleibt, ist sie reaktionär in der negativen Bedeutung des Wortes, destruktiv reaktionär könnte man sie nennen. Die Politiker sind nach der hier verbreiteten Meinung „an allem schuld“. Mit allen Schikanen des eingefahrenen Moralismus werden die vom globalisierten Kapitalismus verursachten Probleme auf das Wirken einzelner Personen zurückgeführt, jener Personen zweifelhaften Charakters, die, sei es im Verborgenen, sei es in aller Öffentlichkeit, auf der „Systemebene“ tätig sind. Tatsächlich ist ja bei dem heute erreichten Vergesellschaftungsniveau der Staat in allen Lebensbereichen präsent: von der Kindertagesstätte bis zur Brückensanierung, vom Grundwasserschutz bis zur Bankenaufsicht und zur Cybercrime-Polizei. Und überall gibt es Probleme, überall kann man sich reiben. Daraus bezieht das Politiker-Bashing vordergründig seine Berechtigung. Es entsteht eine verquere Art von Staatsfeindschaft, die den Privatstandpunkt als die zum Staat gehörende und ihn komplementär ergänzende Abstraktion nicht nur nicht in Frage stellt, sondern auf zunehmend ordinäre und brutale Weise zur Geltung bringt. Der Staat ist überall, also hat der Privatstandpunkt permanent die Gelegenheit, auf sich selbst zu beharren und sich als Freiheitsapostel zu produzieren.

Der Mainstream ist nur blind gegen die gesellschaftliche Form, in der er sich bewegt, und er will immer noch mehr davon. Für alle Krisenphänomene hält er das gleiche Rezept bereit: die immer noch weitere Verrechtlichung und Verregelung aller Lebensbereiche, wofür die Cancel-Culture, wie gezeigt, nicht einmal mehr den Staatsapparat benötigt. Die Reaktionäre dagegen sind auch noch blind für diese Krisenphänomene. Zumindest stellen sie sich blind. Die Krise ist entweder von der Politik verschuldet: Der Verwertungsmotor stottert, weil der von „linken Ideologen“ gesteuerte Mainstream „unsere Wirtschaft“ mit immer neuen Vorschriften und Auflagen belastet. Und „die Flüchtlinge“ müsste es gar nicht geben, wenn die Regierung, der das „eigene Volk“ egal ist, sie nicht rufen würde. Oder die Krise ist frei erfunden. Vor allem die stofflichen Verheerungen, die der Kapitalismus weltweit anrichtet, fallen unter diese Rubrik. Gerade die Allgemeinheit, in der sich die entsprechenden Phänomene präsentieren, sorgt ja dafür, dass der Kapitalismus die Schäden, die er verursacht, nicht mehr externalisieren kann. Sie sind zu einem Moment seiner Krise geworden. Und gerade diese Allgemeinheit dient den Reaktionären als Vorwand, sich dumm zu stellen. Denn sie ruft unter den gegebenen Verhältnissen natürlich den Staat auf den Plan. In großem Umfang, wenn auch bei weitem nicht ausreichend, werden staatliche Maßnahmen durchgeführt, werden Gesetze erlassen und internationale Konferenzen abgehalten. Das Thema Klimakrise, Umweltvergiftung, Artensterben, Ressourcenverbrauch ist in aller Munde.

Mit der Allgemeinheit aber, sobald sie als ein verbindlicher Inhalt auftritt, steht der bürgerliche Alltagsverstand seit jeher auf dem Kriegsfuß. Ein uralter Reflex wird hier ausgelöst. Die Allgemeinheit ist erstens die Sphäre der Ideen und Glaubensinhalte, und zweitens sind Glaubensinhalte seit dem Ausgang des Mittelalters für niemanden mehr verbindlich. Die Spätankömmlinge in der Aufklärung, mit denen wir es hier zu tun haben, sehen das Wesen ihrer Freiheit darin, dass sie glauben können, was sie wollen. Heraus kommt ein durchgeknallter Liberalismus, der die empirischen Phänomene der genannten Art, soweit sie allgemein zur Kenntnis genommen und zum Anlass staatlicher Maßnahmen werden, als „Vorwand“ ansieht oder gar zur „Erfindung“ erklärt, die irgendwelche dem Staat genehmen Besserwisser, Wichtigtuer und Verschwörer dazu benützen, ihre Machtgier zu befriedigen. Der Klimaforscher Schellnhuber etwa wird als „Märchenonkel“ verspottet, die „Fridays-for-Future“-Bewegung mit den mittelalterlichen „Kinderkreuzzügen“ gleichgesetzt, und die ganze Öko-Problematik ist der Gegenstand einer „grünen Religion“ („Die anti-ökologische Hysterie“, Süddeutsche Zeitung vom 31.05.2019).

Dass es sich bei den genannten Themen um nachprüfbare empirische Fakten handelt, kümmert die Reaktionäre nicht. Nach Kräften nützen sie das „Manko“ der empirischen Wirklichkeit aus, dass sie anders als die „ewigen Prinzipien“ der bürgerlichen Vernunft in Raum und Zeit existiert, dass ihre Phänomene also nicht überall gleichzeitig und in gleicher Weise auftreten können. Der Zusammenhang zwischen der Flutkatastrophe im Ahrtal und der von Milliarden Verbrennungsmotoren verursachten CO²-Belastung der Atmosphäre muss gedacht und am besten noch begriffen werden. Mit dem Begriffsvermögen in Sachen Stoff und Existenz steht es aber schlecht in einer Gesellschaft, die den Wohlstand nur im Medium des Geldes zu messen versteht. Wohlstand durch die Befreiung von abstrakter Arbeit? Oh je, die Gefangenen der abstrakten Arbeit wissen nicht einmal, wovon die Rede ist!

Kein Wunder also, dass die alte Konstellation noch in Kraft ist. Der Himmel der Allgemeinheit ist zwar leer geworden, die zugehörige Struktur aber, bei welcher zwischen „meinem“ Interesse und dem der „Allgemeinheit“, zwischen „Egoismus“ und „Altruismus“ unterschieden wird, ist in den Köpfen noch tief verwurzelt. So kommt es, dass die Aktivisten der Klima- und Umweltbewegung von den demokratischen Mainstream-Medien als „moralische Instanz“ und als „Idealisten“ verteidigt werden. Ausgerechnet diejenigen, die sich um elementare materielle Belange sorgen, die nicht ersticken, nicht verdursten, nicht verhungern wollen, erhalten den Stempel des „Idealismus“ aufgedrückt (Originalton einer 18-jährigen Demonstrantin: „Ich hab manchmal das Gefühl, ich werd meinen 50. Geburtstag nicht mehr erleben“, SZ vom 27.05.2019). Wer sich dagegen den Anforderungen der kapitalistischen Geldbewegung fügt, wer dem Abstraktum Geld zuliebe mitwirkt an zerstörerischen Prozessen wie der Autoproduktion, ist anscheinend ein „Materialist“. Tatsächlich ist dieser Gegensatz „Idealismus“ – „Materialismus“, rein eine Sache der Philosophie, längst schon aufgehoben im Marx’schen Begriff der Produktionsverhältnisse, zu denen eben auch die Fähigkeit des Menschen gehört (und in den Zeiten der blinden Vergesellschaftung notwendiger Weise gehört), religiöse und philosophische Ideen hervorzubringen, eben dem Stand der materiellen Produktion entsprechend. Er macht bei dem heute erreichten Niveau der Vergesellschaftung keinen Sinn mehr, ebensowenig wie die anderen vom abstrakten Denken festgehaltenen Gegensätze. Gerade sie aber werden hier wieder aufgewärmt – und zwar verkehrt herum! „Finanziell“ ist „materiell“, „nicht-finanziell“ ist offensichtlich „ideell“. Als ob nicht das Geld selbst, das als modernes Kreditgeld keine Wertsubstanz mehr besitzt, die höchstmögliche Form des über alle materiellen Belange hinwegtrampelnden Idealismus darstellen würde. Man denke nur an die Schließung von Krankenhäusern, weil sie nicht hinlänglich „rentabel“ sind.

„Altruistisch“ ist es, wenn man nicht verdursten und nicht ersticken will, „egoistisch“ ist es, sich den Anforderungen der kapitalistischen Geldbewegung zu unterwerfen. Bei so viel babylonischer Sprachverwirrung sollte man es auch mit den politischen Richtungsbezeichnungen von „Rinks“ bis „Lechts“ nicht allzu genau nehmen. Schon Ernst Jandl, den ich hier zitiere, hatte damit seine Schwierigkeiten. Es sind eben ideologische Brocken, Restbestände aus den Zeiten der abstrakten Vergesellschaftung, mit denen wir es zu tun haben. Höchste Zeit, rücksichtslos gegen sie zu verfahren. Sogar in den Mainstream-Medien mehren sich die Stimmen, die davon abraten, die Äußerungen aus der „rechten Ecke“ im Wortsinne ernst zu nehmen. „Dahinter stecken oft soziale Bedürfnisse“, sagte jüngst ein überaus kluger Mann über die heute grassierenden Verschwörungsmythen („Es könnte knallen, ich brauche Hilfe“, SZ vom 28.12.2021), und es könnte wahrhaftig sein, dass er recht damit hat.

Wer in den Konkurrenzsituationen, die er von Kindesbeinen an zu bestehen hatte, oft genug den Kürzeren zog, der wird in einer Welt, die ihm ständig vorsagt, wie bequem und sinnreich sie eingerichtet ist, welche Chancen und Perspektiven sie zu bieten hat und wie preiswert die Handys sind, unweigerlich Aggressionen entwickeln. Entweder gegen sich selbst als den notorischen Loser und Versager, oder gegen – ja, gegen wen eigentlich? Gegen diejenigen, die ihn betrogen und mit fake news an der Nase herumgeführt haben? Gegen die „Verantwortlichen“? In der technisch-funktionalen Struktur, die unser Leben bestimmt, sind solche Missetäter, die man bestrafen, an denen man sich rächen könnte, leider nicht zu finden. Also muss man sie wohl erfinden. „Es gibt in den Verschwörungstheorien immer eine menschliche Komponente, gegen die man vermeintlich etwas tun kann“, heißt es in dem zitierten Beitrag aus der Süddeutschen. Wir leben in einer Maschinenwelt, die nur so strotzt vor lauter Objektivität und standardisierten, Arbeitskosten sparenden Abläufen. Das Personal wird abgebaut, und per Email und automatischer Ansage erfahren wir, dass unser Anliegen wichtig ist, dass unsere Meinung zählt, und dass überhaupt „der Mensch im Mittelpunkt“ steht. Vermeintlich. Beatmungsgeräte gibt es reichlich – aber ach, sie müssen bedient werden. Eine sehr komplexe Problematik, für deren Bewältigung es unbedingt eine „Ethikkommission“ braucht.

Was die Reaktionäre bei aller Vielfalt der Erzählungen und Gerüchte eint, ist die Stimmungslage: ein abgrundtiefer Hass, der unübersehbar zur Tat drängt. Und zwar zur politischen Tat, wie man in erster Annäherung sagen könnte, jedenfalls zu einer, die über die Privatsphäre, in der die Gewalt ohnehin endemisch ist, hinausdrängt. Mit Blick auf die Schusswaffen, die bei den spektakulären Mordtaten der letzten Jahre zum Einsatz kamen, könnte man meinen, dass sich hier eine perverse Art von Sehnsucht äußert. In der anonymisierten, von lauter „Sachzwängen“ gesteuerten Gesellschaft möchte man endlich einmal wirkliche Menschen „treffen“. Es scheint, dass eine Art Richtungssuche begonnen hat. Das vage Gefühl, von der Glitzerwelt der Konsumgesellschaft betrogen zu werden, das Unbehagen angesichts der von uns geforderten Dauerzuversicht, das alles will heraus aus dem Ungefähren und Verschwommenen. Könnte sein, dass jene Rundum-Aggressivität, die in den Amokläufen der Neunziger und Nuller-Jahre so eindrucksvoll in Erscheinung trat, abgelöst wird von einem Hass, der in Richtung System-Feindschaft unterwegs ist. Es ist zwar primitiv und lächerlich, mit welchen Sprüchen und Methoden sich der Straßen-Mob gegen das „System“ in Stellung bringt, es zeichnet sich darin aber eine Spaltung der Gesellschaft ab, die mehr ist als bloß eine Meinungsverschiedenheit unter Demokraten. Durch das „Zusammenhalts“-Gestammel des demokratischen Moralismus wird sich daran nichts ändern.

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter, die sozialen Brennpunkte nehmen an Zahl und Umfang zu, Obdachlose und Bettler machen sich im Straßenbild bemerkbar – und was bekommen wir von den Mainstream-Medien serviert? Sorgen, Klagen, Betroffenheiten. Und immer wieder die Forderung nach mehr Therapie: Lerntherapie für die reizüberfluteten Kinder aus „bildungsfernen Schichten“, Verhaltenstherapie für geprügelte Ehefrauen, Bewegungstherapie für Leute mit Übergewicht und Haltungsschäden, Ess-Therapie, Atem-Therapie, Meditations-Therapie, Motivations-Therapie, Sexual-Therapie, Tanz-, Mal-, Musik-Therapie, usw. usf. Lauter Abhilfen, die bestens dafür geeignet sind, die Abgehängten und Zukurzgekommenen, die in anderen Zusammenhängen als „mündige Bürger“ gehätschelt werden, in ihrem Hass auf das samtweiche Gutmenschentum der demokratischen Konkurrenzgesellschaft zu bestärken. Politisch ist die Reise zurück angesagt, die Reaktionäre tendieren zu einer Staatsmacht, die noch als Person zu erkennen ist. Ein Politiker, der sich als beleidigte Leberwurst inszeniert, und der, wenn man ihn „reizt“, den brutalen Haudrauf zu geben versteht, dürfte für den aus Minderwertigkeitsgefühlen sich speisenden Hass die passende Identifikationsfigur sein.

Etwas Gutes oder Konstruktives kommt dabei sicher nicht heraus. Jedenfalls nicht auf kurze Sicht. Als Kollektiv sind die modernen Reaktionäre, die sich Egomanen wie Donald Trump oder den ressentimentgeladenen Wladimir Putin zur Galionsfigur wählen, nicht handlungsfähig. Aber sie sind ein Ausdruck der kapitalistischen Krise, und sie können durchaus einen Beitrag zu ihr leisten. Indem sie ihr abstraktes Ego rücksichtslos zur Geltung bringen und gewalttätig werden, stellen sie immerhin eine Funktionsstörung dar. Und Dysfunktionalität in einem System, dessen Wesen darin besteht zu funktionieren (für beliebige Zwecke, versteht sich, Hauptsache, es findet sich ein „Investor“), ist schon per se ein Desaster. Was aber für das kapitalistische System als ganzes schädlich ist, kann für unsere stoffliche Existenz durchaus von Vorteil sein. Das haben wir in der Pandemie gesehen, als die CO²-Emmissionen plötzlich sanken und das Atmen endlich einmal freier wurde.

Möglichst frei von Metaphysik: Die andere Reaktion

Auf diese Dialektik, wonach das, was in der kurzfristigen Absicht der Menschen liegt, sich langfristig und im Ganzen gesehen anders auswirkt, als ursprünglich gedacht, sollten wir auf unserem Weg in die postkapitalistische Gesellschaft allerdings nicht bauen. Sie überwölbt ja die gesamte kapitalistische Epoche: Das private Motiv, das vom gesellschaftlichen Zusammenhang, soweit er nur ein religiöser oder moralischer Appell ist, absieht (weshalb die „Bourgeoisie“ in den Augen der Moralisten immer „schlecht“ aussieht), arbeitet als der „Maulwurf“ der Produktivkraftentwicklung daran, ihn als solchen, nämlich stofflich-real, allererst herzustellen. Von jetzt ab sollte es ohne dialektische Verrenkung weitergehen.

Als stoffliche Realität ist das gesellschaftliche Ganze nämlich von anderem Kaliber, als es ein bloß moralischer Imperativ ist. Wenn das, was ich (mit Hilfe der modernen Produktionsmittel) in der stofflichen Welt anrichte, allgemeinen Charakter hat, dann bekomme ich, als Bestandteil der Allgemeinheit, die Folgen meines Tuns gleichsam am eigenen Leib zu spüren. Die Luft, die zu verpesten ich mithelfe, muss ich selbst einatmen, das Wasser, das ich mit Schadstoffen belaste, selbst trinken, usw. usf. Je deutlicher sich die stoffliche Wirklichkeit als dieser Zusammenhang zu erkennen gibt, desto weniger leicht ist es, auf dem abstrakten Egoismus der geldverdienenden Monade zu beharren. Dem moralischen Imperativ genügt es, wenn ich den gleichen monadischen Standpunkt auch bei allen anderen Egoisten meiner Art gelten lasse und anerkenne. Der private Egoismus, bei dem sich laut Adam Smith das allgemeine Wohl automatisch ergibt, hinter dem Rücken der vielen kleinen Warenproduzenten, aus denen seinerzeit die bürgerliche Gesellschaft bestand, wird mit der direkten Vergesellschaftung der Produktion aber obsolet. Das Geldmotiv, dem er unterworfen ist, gerät angesichts der stofflichen Wirklichkeit in Schieflage, es erscheint oft als widersinnig und verrückt (wenn etwa Jeff Bezos eben mal so zum Spaß für eine Milliarde Dollar einen Ausflug ins Weltall unternimmt), und zunehmend wird es als sachfremder Zwang empfunden. Der hoch vergesellschaftete Zustand, in dem ich lebe, vertreibt mich aus jenem Egoismus, der das Paradies seines guten Gewissens allein schon in der Gesetzestreue findet, und er drängt mich zu einem anderen Egoismus, einem, bei dem es nicht mehr ums gute Gewissen, sondern ums gute Leben selber geht.

Wollte man sich eine „Partei“ ausdenken, die sich gegen die Dominanz der kapitalistischen Geldbewegung zu wenden vermag, dann müsste sie natürlich aus Menschen bestehen, die zwischen der Notwendigkeit des Geldverdienens einerseits und dem, was stofflich-empirisch ein gutes Leben ausmacht, andererseits zu unterscheiden wissen. Mindestens sollten sie im Geld bloß ein Mittel zum Leben sehen, nicht etwa eine Glücksgarantie. Am besten aber, sie betrachten und empfinden es als eine Schranke und Einengung ihrer Lebensmöglichkeiten, als eine Plage, die sich dem guten Leben auf der Erde in den Weg stellt. Solche Menschen gibt es schon eine ganze Menge. Man denke an die Slow-food-Bewegung, an die food-watcher und an die Aktivisten des Containerns, die die als Waren nicht mehr, als Nahrungsmittel aber sehr wohl brauchbaren Lebensmittel aus den Abfallbehältern der Supermärkte entwenden: das physische Bedürfnis in direkter Konfrontation mit dem Rechtsinstitut des Privateigentums. Lässt sich der Widerspruch von Geld und Leben einfacher darstellen? Auch das Car-sharing gehört hierher, den Wachstumsraten der Autoindustrie abträglich, dem eigenen Geldbeutel und der Umwelt zuträglich. Erwähnenswert sind auch jene Propagandisten der Sparsamkeit, die, vom „irrationalen Überschwang“ der Finanzmärkte reichlich mit Geld ausgestattet, darin ein Mittel sehen, sich bereits in jungen Jahren, ab 40 etwa, ganz aus der Erwerbsarbeit zu verabschieden (Fire: Financial independence retire early), um sich wichtigeren Dingen als dem Gelderwerb zuzuwenden – in der freilich illusionären Erwartung, dass der Rest der Gesellschaft hübsch weiter funktioniert in der gewohnten geldverdienenden Weise, um ihre wenn auch bescheidenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Kritik der Lohnarbeit als Propaganda der frühen Berentung: ein schöner Ausdruck für den in vieler Hinsicht alt gewordenen Kapitalismus unserer Tage. Immerhin zeigt sich auch hier, in dieser Art des Eskapismus, ein stimmungsmäßiges Abrücken von den herrschenden Selbstverständlichkeiten.

Eigentlich gilt das für alle Initiativen, Bewegungen, Maßnahmen und Verhaltensweisen, die dem menschlichen Leben auf der Erde zuträglich sind, indem sie sich in der je konkreten Situation gegen das umstandslose Funktionieren der kapitalistischen Verbrauchs- und Verwertungslogik stellen. Ob ein Bauer auf den ertragsteigernden Einsatz des Insektenvernichters Glyphosat verzichtet, ob Umwelt-Aktivisten ein Naherholungsgebiet wie den Hambacher Forst besetzen, um ihn vor der rechtlich genehmigten Abholzung zu bewahren, ob eine Nicht-Regierungs-Organisation Rettungsschiffe ausrüstet, um in Seenot geratene Menschen aus dem Mittelmeer zu fischen, Rentner sich um Flüchtlinge kümmern und ihnen ein Obdach in der eigenen Wohnung bieten oder Handwerker in Gratisschichten die Häuser von Flutopfern instandsetzen: In diesen und vielen anderen Fällen sind Menschen aktiv, denen man unterstellen darf, dass ihnen die stoffliche Seite der Wirklichkeit wichtiger ist als der Drang zum schnellen Geld. Der abstrakte Egoismus des Ware-Geld-Individuums, der, weil er die Menschen voneinander trennt und füreinander zu Konkurrenten macht, niemandem guttut, schon gar nicht dem Egoisten selbst, wird hier ersetzt durch eine andere Art des Egoismus: einen, der sich lieber im Einklang mit der menschlichen Physis befindet als im Widerstreit mit ihr.

Dem Wortsinne nach sind natürlich auch die hier geschilderten Verhaltensweisen reaktionär. Denn ebenso wie im Falle der politischen Reaktion wird hier reagiert, nämlich auf Probleme und Phänomene, wie sie der globale Kapitalismus aktuell eben mit sich bringt. Allerdings steht bei den betreffenden Aktionen und Initiativen die jeweilige Sache im Vordergrund, sie wird mit den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten unmittelbar praktisch angegangen, eine besondere politische Ideologie, ein Konzept zur Eroberung der „politischen Macht“, die dann aufs Ganze gehen und Alles umwälzen werde, ist damit üblicherweise nicht verbunden. Es geht nicht um das „Verwirklichen“ von ewigen Menschheitswerten, der Zweck, der jeweils verfolgt wird, liegt in der Sache selbst. Ein Baum, der im Zuge einer Aufforstungsaktion gepflanzt wird, ist eben ein Baum, der gepflanzt wird – nicht mehr und nicht weniger. Und die Stadtteilgruppe, die sich im Stadtpark oder entlang eines Flussufers zum Müllsammeln aufmacht, zielt auf die Beseitigung des Mülls, die Sache hat ihren Wert in sich. Ähnlich steht es mit dem urban gardening, das vielerorts betrieben wird, oder mit den Ansätzen zu einer „solidarischen Landwirtschaft“. Den Beteiligten geht es hier und heute um eine Verbesserung der Lebensqualität. Ich glaube, es war Karin Struck, die ihre Absage an die Tauschlogik so formulierte: Wenn Du mich küssen würdest, um mich zu küssen – was für eine Revolution!

Natürlich gibt es genügend Politikaster, die, mit der Konstellation der alten Zeiten im Kopf, bei den verschiedenen Initiativen und Aktionen bloß aus taktischen Gründen mitmachen, um sich dort als Sprachrohre jener Abstraktionsebene zu betätigen, bei der es um „Alles“ geht, um das „große Ganze“. Mit der Propaganda des „ganz anderen Systems“ meinen sie, den Praktikern eine Neuigkeit zu verkünden, sie prallen aber ab an dem heute erreichten Grad der Vergesellschaftung. Er sorgt dafür, dass die etwa intendierte Allgemeinheit schon von vornherein in der jeweiligen Aktion enthalten ist. So wenig das abstrakte Individuum einen Begriff hat von seinem eigenen historischen Gewordensein, so wenig ist den politisch Gläubigen klar, dass das Zeitalter der „Politisierung“ vorbei ist und dass sie sich in einem gesellschaftlichen Zustand befinden, der bereits als das Resultat jener Epoche aufzufassen ist. Erst die Macht erobern, dann die Schulen bauen, heute den Gürtel enger schnallen, damit es morgen umso besser und schöner wird, heute grausam sein, um „der Freundlichkeit“ den Boden zu bereiten (Brecht): Dieses politische Zweck-Mittel-Denken gehört meines Erachtens in die Vergangenheit – jedenfalls der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder.

Der juristischen Form nach sind es Privatpersonen, die sich zu den verschiedenen Initiativen zusammenfinden, was sie aber bewegt, sei es die Klimakatastrophe, seien es die in unserer Nahrung enthaltenen Umweltgifte, hat allgemeinen Charakter. Die einzelne Aktion mag lokal beschränkt sein, die Köpfe der Aktivisten sind es nicht. Um sich zusammenzufinden und miteinander zu verständigen, müssen sie längst keinen Umweg mehr gehen, weder über den Markt noch über die Glaubenssätze einer politischen Partei. Die sozialen Bewegungen entspringen der öffentlichen Diskussion, werden begleitet von der öffentlichen Diskussion und wirken zurück auf die öffentliche Diskussion. Der vom Kapitalismus geschaffene Reichtum an kommunikativen Möglichkeiten stellt ihnen die nötige Infrastruktur zur Verfügung. Und selbstverständlich repräsentieren auch die in Bewegung gekommenen Menschen unmittelbar selbst, ihre Informiertheit, ihr Wissen, ihre praktischen Fähigkeiten den Reichtum, den zwei- oder dreihundert Jahre kapitalistischer Vergesellschaftung mit sich gebracht haben.

Der Kapitalismus versorgt uns nicht nur mit den Katastrophen, die uns aus der ohnehin viel zu eng gewordenen Privatsphäre hinauszwingen (wir schleppen sie eh nur noch als Mentalität mit uns herum), er stellt auch die Mittel bereit, die wir zu ihrer Bewältigung brauchen. Und dazu gehören eben auch Menschen, die dazu imstande sind, ohne juristische oder militärische Vorkehrungen miteinander zu reden und gemeinsame Projekte durchzuführen. Sie ergänzen die staatliche Allgemeinheit, sie treten in Konkurrenz zu ihr, und letztlich, indem sie für den Staat ersatzweise einspringen, stellen sie ein Moment der Aufhebung dieser Art von abstrakter Allgemeinheit dar. Es ist die hochentwickelte Zivilgesellschaft, die sich auf diese Weise bemerkbar macht. In ihr sind schon längst die Kompetenzen und Fähigkeiten vorhanden, die es braucht, um das Auseinander und Gegeneinander von „öffentlich“ und „privat“ zu überwinden. Sie ist die Voraussetzung, man könnte sagen: das stofflich-empirische „Apriori“, das dazu berufen ist, das stillschweigend herrschende Apriori der den Kapitalismus konstituierenden Abstraktionen abzulösen.

Nachbemerkung

Solange der Prozess der demokratischen Verrechtlichung noch unterwegs war und der größte Teil der Gesellschaft sich noch außerhalb der staatlichen Organisation befand, waren „die Massen“ das liebste Kind der linken Vergesellschaftungsfreunde. Möglichst arm, möglichst unten, möglichst sprachlos und möglichst unbelastet von der dekadenten bourgeoisen Kultur sollten sie sein, dann konnte mit der rein als „politische Macht“ verstandenen „Diktatur des Proletariats“ nichts schiefgehen. Die ärmsten, auf den „Menschen überhaupt“ gemünzten Abstraktionen besitzen – ich habe schon oben darauf hingewiesen (siehe Teil 3 der Serie) – die größte Affinität zu jenen Ärmsten, die den Bodensatz der ständischen Gesellschaft bildeten. In dieser auf Rousseau zurückgehenden Sichtweise sind „die Armen“ die besseren Menschen. Sie haben keine Privilegien zu verteidigen, können niemanden bestechen (leider aber bestochen werden) und sind zur Aufrechterhaltung ihrer persönlichen Freiheit auf das Gelten allgemeiner Gesetze angewiesen. Wer diese (mit etwas „Marxismus“ getönte) Brille auch heute noch aufhat, sieht in den neuen sozialen Bewegungen vor allem eines: Die dort aktiv sind, leiden nicht hungers, kommen oft aus gutbürgerlichem Elternhause und haben die entsprechende Schulbildung vorzuweisen; und er sieht eines nicht: den hohen Grad von menschlicher Vergesellschaftung, den sie repräsentieren. Es ist keine Sekte, die sich hier den Selbstverständlichkeiten des Kapitalismus (Stichwort: Wachstum) entgegenstellt, sondern ein wichtiger Teil der bürgerlichen Gesellschaft selbst.

In der Tat gibt es bereits Artikel mit Überschriften wie: So luxuriös lebt Greta Thunberg – Unterton: die hat gut Klimaretten. Ähnlich populistisch hieß es schon von Marx, dass er „nie eine Fabrik von innen gesehen“ habe. Als ob wir es hier mit „Politikern“ zu tun hätten, die um das „Vertrauen des Volkes“ buhlen, das dann mit solchen biografischen Mätzchen untergraben werden kann. Es ist der Politizismus der Vergangenheit, der uns in solchen Sätzen begegnet. Die Marx’sche Position, dass der Kommunismus eine Sache des Überflusses ist, dass er erst dann sich den Menschen aufdrängt, wenn „die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums“ üppig sprudeln, wenn eine „Welt des Reichtums und der Bildung“ vorhanden ist, widrigenfalls „nur der Mangel verallgemeinert“ würde und „mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste“ (MEW 3, S. 34 f.), diese Position ist von jener Epoche, in der die „politische Macht“ das Ein und Alles der sogenannten Linken war, auch um den Preis von Millionen Bürgerkriegstoten, gründlich untergepflügt worden. (Für den Historiker Wolfgang Ruge steht fest, „dass der (russische) Bürgerkrieg mitsamt seinen Folgen mehr Menschen auslöschte als der erste Weltkrieg in allen an ihm beteiligten Ländern (10 Millionen)“ – W. Ruge, Lenin – Vorgänger Stalins, S. 285).

Wenn eine im bürgerlichen Sinne wenig entwickelte Bevölkerung, mit Millionen von Analphabeten, rein politisch-organisatorisch zusammengezwungen wird, zu einem Staatswesen, das vor allem Gehorsam verlangt und öffentlich abgelegte Bekenntnisse zur bloßen Phrase der Vergesellschaftung, dann scheint mir dies gerade nicht der Boden zu sein, auf dem der Kommunismus gedeihen kann. Ein Ziel, von dem man sich einredet, dass es schon erreicht sei, erreicht man bekanntlich gerade nicht. Dem „russischen Weg“, von dem hier die Rede ist, war jedenfalls, das wird man im Licht der historischen Erfahrung wohl sagen müssen, kein nennenswerter Erfolg beschieden. Nicht einmal bei der Entwicklung bürgerlicher Kultur und Gesittung. Deren Mangel hatte schon Lenin heftig empfunden – ohne indes an der historischen Qualität seiner „politischen Macht“ irre zu werden. Wo aber die „Vergesellschaftung“ perhorresziert wurde, wo man die „Privatinitiative“ und das „Individuum“ hochleben ließ, dort gerade hat sie die größten Fortschritte gemacht. Auch eine Dialektik, die von denjenigen, die einem Zeitalter aufs Wort glauben, was es von sich selbst denkt und behauptet, nicht eben leicht zu verstehen ist.

Die durchs braune Erdreich (auch das Blut, auf dessen Symbolkraft die einschlägigen Ideologien nicht verzichten zu können glaubten, nimmt ja, wenn es gerinnt, eine bräunliche Farbe an) hervorgebrochenen Triebe der Zivilgesellschaft, die ich hier wohl ein bisschen „über den grünen Klee“ gelobt habe, sind natürlich ein Luxus- oder Abfallprodukt des späten Kapitalismus, eine Art „Kollateralschaden“, den die kapitalistische Geldbewegung ohne Wissen und Absicht erzeugt hat. Ob sich die über den Kapitalismus hinausweisenden Ansätze in der sich jetzt (mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine) akut zuspitzenden Krise bewähren und als lebenskräftig erweisen werden, oder ob sie wieder verschwinden – wer kann das sagen? Vielleicht werden sie – ähnlich wie die antike Kultur für die Renaissance – zu einer Sache der Erinnerung und Wiederentdeckung, deren Relevanz sich erst wieder für eine spätere Generation erschließen mag.

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