Streifzüge, Heft 3/2003
Oktober
2003

Die Tücken des Finanzkapitals

1. Teil: Innere Grenzen der Akkumulation, verkürzte Kapitalismuskritik und antisemitisches Syndrom

Als der sozialdemokratische Theoretiker Rudolf Hilferding 1910 sein Hauptwerk „Das Finanzkapital“ veröffentlichte, war er sich der Tücken dieses Begriffs nicht bewusst. Ihm ging es nicht um Ideologiekritik, sondern allein um eine Analyse des kapitalistischen Reproduktionsprozesses unter den (damals) neuen Bedingungen. Dabei stand die Rolle des so genannten zinstragenden Kapitals oder des „Kreditüberbaus“ (Marx) im Mittelpunkt der Untersuchung.

Bekanntlich gibt es neben dem industriellen und kommerziellen Kapital das Kreditkapital (von Marx vor allem im 3. Band des Kapital dargestellt).

Alles Kapital ist zunächst Geldkapital, also Geld, das nicht für Konsum verausgabt, sondern kapitalistisch „angelegt“ wird. Die Form dieser Anlage ist jedoch verschieden. Das industrielle und kommerzielle Kapital (auch das von Dienstleistungsunternehmen) wird in Arbeitskraft, Gebäude, Maschinen usw. investiert, um es durch die Produktion oder Distribution von Gütern zu „verwerten“. Die Anwendung von Arbeitskraft setzt dem ursprünglichen Geldkapital Mehrwert zu, und dieser wird durchVerkauf der Produkte auf dem Markt „realisiert“. Das Kreditkapital dagegen ist ein Geldkapital, das sich nicht durch die Produktion von Gütern verwertet, sondern das verliehen wird gegen den „Preis“ des Zinses.

Tatsächlich handelt es sich nur um eine abgeleitete Form des Mehrwerts, denn der Zins (und natürlich die Rückzahlung) des ausgeliehenen Geldkapitals kann nur abfallen, wenn die entleihende Instanz, in der Regel ein industrielles oder kommerzielles Kapital, dieses Geld in reale kapitalistische Warenproduktion steckt und diese auf dem Markt realisiert worden ist. Das heißt nichts anderes, als dass das Produktionskapital die „Beute“, den Mehrwert, mit dem Kreditkapital oder zinstragenden Kapital teilen muss. Der Mehrwert spaltet sich auf in Unternehmensprofit und Zins, wobei der Zins letztlich nichts anderes als der abgetretene Teil des Unternehmensprofits ist.

Der Begriff des Finanzkapitals

Ein Resultat der Untersuchung Hilferdings war nun, dass die Rolle des Kreditkapitals im Lauf der kapitalistischen Entwicklung immer mehr zunimmt. Das lässt sich dadurch erklären, dass mit fortschreitender Verwissenschaftlichung und Technisierung der Produktion die notwendigen Vorauskosten in Form von Forschung und Entwicklung, Maschinerie usw. immer höher werden, oder, mit anderen Worten, ein für das Kapital rentabler Arbeitsplatz immer teurer wird. Das führt zum einen dazu, dass das individuelle Kapital mehr und mehr durch Aktiengesellschaften abgelöst wird; im 19. Jahrhundert paradigmatisch beim Eisenbahnbau. Viele Aktionäre legen ihr Geld zusammen, damit die Vorauskosten bezahlt werden können; aber sie sind dann nur noch Anteilseigner, während das reale Geschäft des Unternehmens von einem angestellten Management geleitet wird. Zum andern können diese großen Gesellschaften aufgrund ihrer Solvenz auch wesentlich größere Mengen an Kredit aufnehmen als individuelle Kapitalien und damit die Produktionskraft entsprechend steigern.

Das Kreditkapital aber, das aus brachliegendem, von seinen Eigentümern nicht kapitalproduktiv verwendbarem Geldkapital sowie aus den Ersparnissen der ganzen Gesellschaft besteht, konzentriert sich im Bankensystem. Logischerweise steigt deshalb mit zunehmender Bedeutung des Kredits auch die Bedeutung der Banken. In demselben Maße, wie das produktive (das heißt real Mehrwert auspressende) Kapital durch Aktien „vergesellschaftet“ und gleichzeitig immer abhängiger vom Kredit wird, verlieren die Banken ihre eher passive Rolle als Geldgeber und steigen selber teils als Eigentümer von Aktienkapital, teils als Kontrolleure qua Großkredit aktiv in die Lenkung des Produktionskapitals ein.

Das von den Banken verwaltete Geldkapital erhält so einen Doppelcharakter: Den Eigentümern der Bankeinlagen, Guthaben etc. gegenüber „behält es stets Geldform, ist von ihnen in Form von Geldkapital, zinstragendem Kapital, angelegt“ (Hilferding, Das Finanzkapital, EVA-Ausgabe 1974, S.309).Da die Einlagen aber von den Banken nicht mehr passiv verwaltet werden, sondern in der Sphäre des Produktionskapitals real unter Kontrolle der Banken fungieren, ist in Wirklichkeit „der größte Teil des ... bei den Banken angelegten Kapitals in industrielles, produktives Kapital ... verwandelt und im Produktionsprozess fixiert“ (Hilferding, a.a.O.). Es ist „Kapital in der Verfügung der Banken und in derVerwendung der Industriellen“ (a.a.O.). Dieses Bankkapital mit dem Doppelcharakter von zinstragendem Geldkapital (für die Einleger) und Produktionskapital (unter Kontrolle der Banken) nennt Hilferding eben das Finanzkapital.

Volksvorurteile, kleinbürgerliche Mystifikationen und Antisemitismus

Mit der wachsenden Bedeutung des Kredits und der Banken entstand eine spezifisch kleinbürgerliche verkürzte „Kapitalismuskritik“, die sich allein auf das zinstragende Geldkapital fixierte und einen älteren,in den meisten großen Religionen (in der christlichen ebenso wie in der jüdischen und im Islam) verankerten Abscheu gegen das „Zinsnehmen“ aufgreifen konnte. Marx bemerkte, dass im „Volksvorurteil“ das zinstragende Kapital als das eigentliche Kapital gilt, weil ihm die scheinbar mystische Qualität innewohnt, unmittelbar aus Geld mehr Geld zu „hecken“ (in der VWL wird überhaupt jedes regelmäßige Einkommen als „Zins“ eines Geldkapitals betrachtet, also im Prinzip nicht zwischen verschiedenen Einkommensarten und Kapitalformen unterschieden). In der vermeintlich „kritischen“ Wendung erscheint der Kapitalismus so als eine bloße Veranstaltung von geldverleihenden Wucherern, die den produzierenden Teil der Menschheit ausbeuten.

Wäre das zinstragende Kapital nicht mehr, so dachte etwa Proudhon, dann gäbe es auch keinen Kapitalismus mehr. Er wollte deshalb ein nicht verleih- und verzinsbares „Arbeitsgeld“ einführen. Auch die spätere, bis heute immer wieder neu propagierte Geldutopie von Silvio Gesell liegt auf derselben Linie: Gesell wollte ein „Schwundgeld“ einführen, das stetig an Wert verliert, wenn es nicht innerhalb einer bestimmten Frist für Produktionsmittel oder Konsum ausgegeben wird. Damit soll verhindert werden, dass Geld gehortet wird und sich in zinstragendes Kapital verwandeln kann.

Diese Ideologie stellt die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf. Das zinstragende Kapital ist nicht das eigentliche Kapital, sondern nur eine sekundäre, abgeleitete Teilfunktion des Kapitals. Geldverleih und Schuldenkrisen gab es schon gelegentlich in der Antike, aber nur am Rand einer überhaupt nicht wesentlich auf Geld beruhenden agrarischen Reproduktion. Die moderne kapitalistische Produktionsweise ist nicht aus dem zinstragenden Kapital entstanden, sondern aus dem Geldhunger der frühmodernen Militärmaschine (,„politische Ökonomie der Feuerwaffen“), die zwecks Finanzierung von Kanonenproduktion, stehenden Heeren etc. die feudalen Abgaben monetarisierte und durch den Zwang der inneren und äußeren Kolonisierung (Sklavenplantagen, Zucht- und Arbeitshäuser, staatliche Manufakturen usw.) die Bevölkerung in das „Material“ von „abstrakter Arbeit“ (Marx) zwecks Geldverwertung verwandelte. Die Logik dieser „produktiven“ Geldmaschine emanzipierte sich schließlich vom ursprünglichen Zweck, wurde „privatisiert“ und mutierte zum Systemzusammenhang, wie wir ihn heute kennen und verinnerlicht haben.

Das System der Geldverwertung enthält den Imperativ unaufhörlichen Wachstums.
Der verselbständigte ursprüngliche Zweck (immer mehr Geld für die unersättliche Maschine der frühmodernen ‚„militärischen Revolution“) hat sich in den abstrakten systemischen Selbstzweck verwandelt, durch betriebswirtschaftliche Verwertungsprozesse aus Geld mehr Geld zu machen. Die physische und kulturelle Reproduktion der Gesellschaft ist nur noch Anhängsel dieses Selbstzweck-Prozesses. Die Gütermenge (egal welchen Inhalts, der zunehmend destruktiv wird und ja in der ursprünglichen Kanonenproduktion auch einen destruktiven Ausgangspunkt hatte) muss immer weiterwachsen; nicht um der Bedürfnisse willen, sondern allein nach der Maßgabe, dass sie den Selbstzweck der Geldverwertung „repräsentiert“.

Da deshalb jede einmal erreichte Stufe der kapitalistischen Produktion nur das Ausgangsniveau für weiteres Wachstum bildet, muss die kapitalistische Reproduktion auf stetig erweiterter Stufenleiter eine immer größere Gesamtmasse bewegen.
Genügt z.B. auf einem noch relativ niedrigen Niveau die Produktion von sagen wir tausend Kühlschränken (oder beliebigen anderen Gütern), um ein Prozent Wachstum zu erreichen, so ist bei höherem Ausgangsniveau die Produktion von zehntausend, hunderttausend, einer Million usw. Kühlschränken nötig, um prozentual dasselbe Wachstum zu erreichen.

Was gesamtgesellschaftlich gilt, erscheint auch auf betriebswirtschaftlicher Ebene als jenes Faktum der steigenden Vorauskosten, die immer weniger aus den zurückfließenden Profiten allein gedeckt werden können, sondern in wachsendem Ausmaß den Rückgriff auf die Spargelder der Gesellschaft erfordern. Es ist also nicht so, dass das zinstragende Kapital rein äuBerlich wie einVampir die produktive Basis aussaugt,sondern genau umgekehrt würde die kapitalistische Wachstumsproduktion ohne das Kreditsystem zum Stehen kommen. Es ist die innere Schranke der kapitalistischen Produktion selbst, die dem zinstragenden Kapital wachsende Bedeutung verleiht und die finanzkapitalistische Struktur hervortreibt.

Auf den Kopf gestellt erscheint dieser Zusammenhang aus der Perspektive einer kleinbürgerlichen Nischenproduktion, die sich auf dem totalen Markt (der nichts als die Realisationssphäre des Kapitals darstellt, in der sich der Mehrwert in die Geldform zurückverwandeln muss) zu behaupten sucht. Im 19. Jahrhundert war das noch ein klassisches Kleinbürgertum handwerklicher Provenienz, das allmählich von gröBeren kapitalistischen Betrieben verdrängt wurde; stets haben sich aber Formen von sekundärer kleiner Nischenproduktion erhalten oder neu herausgebildet (Dienstleistungen aller Art, Gastronomie bis hin zur Würstchenbude, Software-Klitschen usw.).

Die Klitschen haben oft so wenig Eigenkapital, dass sie sich, um überhaupt produzieren zu können, in hohem Ausmaß verschulden müssen. Nach Abgabe des Zinses und der Tilgungsraten bleibt praktisch kaum noch ein Eigenprofit übrig. In diesem Milieu kann sich leicht die Empfindung einstellen, dass man ja „nur noch für die Banken arbeitet“. Vergessen wird dabei, dass man ohne Bankkredit gar nicht erst hätte anfangen können oder am Markt noch viel schneller gescheitert wäre. Die Vorstellung, dass es ohne das „vampirische“ zinstragende Kapital eine flotte Prosperität der ehrlichen „produktiven Arbeit“ geben könne, ist reine Ideologie auf Basis der Klitschenmentalität. Nicht umsonst haben die kleinbürgerlichen Geldutopien à la Proudhon oder Gesell nur Handwerksund Familienbetriebe, sekundäre kleine Dienstleistungen etc. im Auge, während die kapitalistisch vergesellschaftete Großproduktion und deren infrastrukturelle Aggregierungen außerhalb des Horizonts dieses Ressentiment gesättigten verkürzten „Antikapitalismus“ bleiben.

Diese allein gegen das zinstragende Kapital statt gegen die kapitalistische Produktionsweise gerichtete Ideologie war von Anfang an vom modernen Antisemitismus durchdrungen. Der religiös motivierte Antijudaismus des christlichen so genannten Mittelalters hatte sich mit dem Aufkommen der Monetarisierung gesellschaftlicher Reproduktion in der frühmodernen „politischen Ökonomie der Feuerwaffen“ und der Entstehung des modernen warenproduzierenden Systems transformiert. Obwohl das Zinsverbot auch in der jüdischen Religion galt, waren Juden im Mittelalter durch den brandmarkenden Ausschluss von den produzierenden Gewerben zu Tätigkeiten in der (marginalen) Zirkulationssphäre und in einigen Fällen auch als Geldverleiher gezwungen. Sie wurden dabei doppelt diskriminiert, indem man sie für diesen aufgenötigten Lebensunterhalt auch noch als dunkle Geschäftemacher und Wucherer verteufelte.

In der ungeheuren ersten Repressionswelle der historischen Monetarisierung (d.h. der Installierung des Verwertungsprinzips) konnte diese Zuschreibung für die ideologische Konstitution instrumentalisiert werden. Luther war nicht nur ein Propagandist der Bauernschlächterei, sondern er kreierte auch prototypisch mit ausdrücklichem Bezug auf das zinstragende Kapital den modernen Antisemitismus.
Wie die Aufklärungsphilosophie überhaupt den Protestantismus beerbte, so war auch der antisemitische Affekt in ihre Grundlagen gewissermaßen eingebaut. Mit Anleihen bei den pseudo-naturwissenschaftlichen Theorien des Rassismus entstand daraus eine in der Intelligentsia des 19. Jahrhunderts weitverbreitete irrationale „Kapitalismustheorie“; schon die meisten utopischen Sozialisten des frühen 19. Jahrhunderts und später Leute wie Proudhon (übrigens auch Bakunin) waren offene Antisemiten. Und soziale Wurzeln schlug dieses stets mit der falschen Reduktion des Kapitalbegriffs auf das zinstragende Kapital verbundene antisemitische Syndrom eben zunächst bei den damaligen kleinbürgerlichen Schichten. In diesem Kontext wurden die bis heute wirkenden antisemitischen Klischees ausgebrütet und verdichtet: Anonymität des Weltmarkts als „Jüdische Weltverschwörung“, geheime Beherrschung der Gesellschaft, der Medien etc. durch „jüdische Finanzmoguln“ („Rothschild“), Untergrabung des Nationalgefühls durch „wurzellose jüdische Intellektualität“ usw.

Finanzkapital und traditioneller Marxismus

Marx kritisierte die auf das zinstragende Kapital verkürzte „Kapitalismustheorie“ vernichtend und machte Proudhon lächerlich. Die marxistische Arbeiterbewegung grenzte sich klar von der kleinbürgerlichen Ideologie und deren Verkehrung des Kapitalbegriffs ab. Gegenstand der Kritik war das gesellschaftlich hochkonzentrierte Produktionskapital selbst und damit die kapitalistische Produktionsweise als solche.
Dem entsprach der Erfahrungshintergrund der Fabrikarbeiter, die sehr wohl begriffen, dass die kapitalistische Logik, der sie ihr Leben unterwerfen mussten, die des produktiven Verwertungsprozesses selbst war und nicht die einer äußerlichen vampirischen Macht des zinstragenden Kapitals.

Allerdings blieb auch die Kapitalismuskritik des Arbeiterbewegungsmarxismus eine verkürzte, wenn auch in anderer Weise als die kleinbürgerliche. Im Gegensatz zum Kern der Marxschen Theorie wurden die gesellschaftlichen Formen des Verwertungsprinzips (abstrakte Arbeit, Wertform, „Betriebswirtschaft“, Geldform als allgemeine Reproduktionsform, Marktvermittlung, staatliche Regulation usw.) nicht als etwas zu Überwindendes, sondern als überhistorische ontologische Grundlagen von Gesellschaftlichkeit überhaupt verstanden. Die Kritik richtete sich eigentlich nicht gegen die in ihren Formen bereits verinnerlichte Selbstzweck-Logik des Systems,sondern nur - insofern durchaus ähnlich wie die kleinbürgerliche — gegen die soziologisch bestimmte Gruppe („Klasse“) der Nutznießer und Repräsentanten.
Nicht das Kapital als „versachlichte“ Reproduktionsform, sondern die Kapitalisten als subjektiv verstandene soziale Willensträger der Ausbeutung schienen das Übel zu sein. Aber im Gegensatz zur kleinbürgerlichen Ideologie wurden die Fabrikherren des produktiven Kapitals selbst darunter verstanden, und die Besitzer des zinstragenden Kapitals nur als eine periphere Fraktion der „Kapitalistenklasse“.

Was die Arbeiterbewegung Sozialismus nannte, war eigentlich nichts als die Vorstellung eines „organisierten Kapitalismus“ ohne Kapitalisten, verstanden als juristische Eigentümer des Produktionskapitals. Die Fabrikarbeiter strebten einerseits nach juristischer Anerkennung als vollwertige und eigenständige Subjekte des Verwertungsprozesses (Wahlrecht, Koalitionsrecht, Arbeitsrecht, Betriebsverfassung usw.); andererseits sollte der „vorenthaltene Mehrwert“ entweder gerecht unter die Arbeiter verteilt (so Lassalle) oder von den zur Staatsmacht gelangten Vertretern der „Arbeiterklasse“ gerecht verwaltet (so die Arbeiterbewegungsmarxisten) werden. Es war komplett das, was Marx immer wieder als die „juristische Illusion“ bezeichnet hatte, nämlich die ideologischeVorstellung, die als solche unangetastete, ontologisierte Logik der Kapitalverwertung, ihres Formzusammenhangs und ihres destruktiven Selbstzweckcharakters könne durch eine bloße Veränderung der juristischen Eigentumsverhältnisse und der politischen Machtverhältnisse zugunsten der Lohnarbeiter in eine andere, menschenfreundliche Gesellschaft gewissermaßen umdefiniert werden.

Zur falschen Ontologie des Arbeiterbewegungsmarxismus gehörte auch die der vermeintlich natürlichen Abstraktion „Arbeit“, d.h. der „abstrakten Arbeit“, laut Marx die Substanz des Kapitals. Aber die daraus folgende „protestantische“ Arbeitsethik des traditionellen Marxismus unterschied sich wiederum von der paternalistischen der Kleinbürger, der Familienbetriebe, Gastwirte, Handwerker, Klitschenbesitzer usw. Es war die eher „versachlichte“ und abstrakte Arbeitsethik im Kontext der weitaus höher aggregierten kapitalistischen Großstrukturen und verwissenschaftlichten Funktionsprozesse. Im Resultat kam zwar wiederum ähnlich wie bei den Kleinbürgern bloß der Affekt gegen das „arbeitslose Einkommen“ heraus („die Müßiggänger schiebt beiseite“); aber eben gegen die juristischen Eigentümer der sachlich vergesellschafteten Produktionsmittel gerichtet statt bloß gegen die „Geldhaie“ des zinstragenden Kapitals, und in diesem Kontext mit einem völlig anderen Bezug auf die wachsende Rolle des Kredits.

Zwar wetterte auch Engels im Anti-Dühring mit falschem Zungenschlag gegen die „Kupon-Schneider“ des Aktienkapitals, und in der agitatorischen Phrase kam der Arbeiterbewegungsmarxismus oft der kleinbürgerlichen Suada gegen die Banken, Finanzmagnaten etc. bedenklich nahe; aber dahinter stand letztlich ein ganz anderer Bezug auf die Rolle des „Kreditüberbaus“. Angegriffen wurde dabei wiederum die vermeintlich subjektive Rolle der juristischen Eigentümer; die Expansion des Kreditsystems selbst hingegen erschien im Gegensatz zur kleinbürgerlichen „Kapitalismustheorie“ nicht etwa als Ursache allen Übels, sondern im Gegenteil als fortschrittliche, vergesellschaftende Funktion. Unter Berufung auf Marx und anhand seiner Analyse der Entwicklung zur „Herrschaft des Finanzkapitals““ glaubte Hilferding feststellen zu können: „Das Finanzkapital bedeutet seiner Tendenz nach die Herstellung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion. Es ist aber Vergesellschaftung in antagonistischer Form; die Herrschaft über die gesellschaftliche Produktion bleibt in den Händen einer Oligarchie. Der Kampf um die Depossedierung dieser Oligarchie bildet die letzte Phase des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die vergesellschaftende Funktion des Finanzkapitals erleichtert die Überwindung des Kapitalismus außerordentlich. Sobald das Finanzkapital die wichtigsten Produktionszweige unter seine Kontrolle gebracht hat, genügt es, wenn die Gesellschaft durch ihr bewusstesVollzugsorgan, den vom Proletarier eroberten Staat,sich des Finanzkapitals bemächtigt, um sofort dieVerfügung über die wichtigsten Produktionszweige zu erhalten“ (Hilferding, a.a.O., S. 503). Hilferding spricht hier für den Arbeiterbewegungsmarxismus insgesamt (auch wenn es hinsichtlich der proletarischen Machtübernahme und des Staatsbegriffs Differenzen gab). Die formelle Konsequenz hinsichtlich des Finanzkapitals ist jedenfalls diametral verschieden von der kleinbürgerlichen; wie das produktive und nicht bloß das zinstragende Kapital Gegenstand der Kritik ist, so geht es darum, die vergesellschaftende Wirkung des Finanzkapitals weiterzutreiben und der „proletarischen Kontrolle“ zu unterstellen statt sich eine von der „Zinsknechtschaft“ befreite Klitschengesellschaft zu imaginieren. Aber dieses arbeiterbewegungsmarxistische Programm blieb eben noch in der juristischen Ilusion und damit in der kapitalistischen Ontologie des warenproduzierenden Systems befangen. Immerhin konnte so trotz gewisser einschlägiger Randerscheinungen (etwa der zeitweilige Einfluss des Antisemiten Dühring) der Antisemitismus in der klassischen Arbeiterbewegung nicht Fuß fassen. Er erschien als typisch kleinbürgerlicheVerirrung, die allerdings völlig unterschätzt wurde. Man glaubte, diese Marotte würde sich mit zunehmender großkapitalistischer Vergesellschaftung und „Proletarisierung“ der kleinbürgerlichen Schichten verflüchtigen.

Arbeit, Kredit und Krise

Diese optimistische Rechnung wurde allerdings ohne den Wirt gemacht. Hilferding betrachtete, darin ganz der juristischen Illusion des Arbeiterbewegungsmarxismus folgend, das Problem des Finanzkapitals allein in Kategorien derVerfügungsgewalt und politisch-ökonomischen Einflussnahme von sozialen Gruppen („Klassen“, Kapitalfraktionen): „Die Abhängigkeit der Industrie von den Banken ist ... die Folge der Eigentumsverhältnisse“ (a.a.O., S. 309). Das Problem der Krise erscheint nurin untergeordneter Bedeutung. Hilferding beschreibt im Rückgriff auf Marx zwar den Mechanismus der „Überakkumulation“, allerdings nur auf der Ebene der konjunkturellen Zyklen: In der Prosperität wird überinvestiert, es entstehen Überkapazitäten, vorangetrieben auch durch Finanzblasen der Aktienspekulation und daraus entstehendes „fiktives Kapital“ (von Hilferding am Beispiel der Gründerzeitkrise als „Gründergewinn“ bezeichnet), bis in der Depression die Kontraktion stattfindet, die Finanzblase platzt, die Überkapazitäten entwertet werden und dann ein neuer Zyklus auf erweiterter Grundlage beginnen kann.

Dabei wollte Hilferding allerdings die Tendenz einer Abschwächung der Krisen sehen, und zwar ausgerechnet durch die wachsende Bedeutung des Finanzkapitals.
Er behauptete, dass das Finanzkapital als „Entwicklung der Bankenherrschaft über die Industrie“ in Richtung „der Erschwerung einer Entstehung von Bankenkrisen“ (a.a.0.,S.397) wirke. Gleichzeitig sei es so, „dass die wachsende Konzentration die industriellen Unternehmungen gegen die äußere Wirkung der Krise, den völligen Bankrott, widerstandsfähiger macht. Diese Widerstandsfähigkeit wird erhöht durch die Organisationsform der Aktiengesellschaft, die zugleich ...den Einfluss der Banken auf die Industrie außerordentlich steigert“ (a.a.O.,S.397).Auch die Gefahr von Finanzblasen werde dadurch immer geringer: „Immer mehr werden die Spekulationsbewegungen mit der wachsenden Macht der Banken von diesen beherrscht. ... Mit der Bedeutung der Börse im allgemeinen geht noch rascher ihre Rolle als krisenverschärfende Ursache zurück. ... Jene Massenpsychosen, wie sie die Spekulation zu Beginn der kapitalistischen Ära erzeugt, jene seligen Zeiten, wo sich jeder Spekulant als Gott fühlte, der aus nichts eine Welt schafft, scheinen unwiederbringlich dahin“ (a.a.O., S. 398 f.).

Das war allerdings eine kapitale Fehleinschätzung. Hilferdings blauäugige Theorie von der Milderung der Krisen durch die finanzkapitalistische Mega-Vergesellschaftung von Industrie- und Banken-Agglomerationen beruhte natürlich auf dem politisch-juristischen Reduktionismus der arbeiterbewegungsmarxistischen Vorstellungswelt. Zumal wenn die „sozialistische Transformation“ höchst ordentlich auf dem Boden von abstrakter Arbeit, allgemeiner Geldform, „geplanter Warenproduktion“ etc. durch die politische Kontrolle der „Arbeiterpartei“ über die vergesellschaftende Macht des fortgeschrittenen Finanzkapitals bewerkstelligt werden sollte, konnte man natürlich alles andere eher brauchen als eine Theorie, in der das Finanzkapital als Symptom einer verschärften statt gemilderten Krise erschienen wäre. Hilferding machte lieber den Wunsch zum Vater des Gedankens.

In der Krisentheorie war der Arbeiterbewegungsmarxismus allerdings nie gut. Das lässt sich leicht erklären, wenn man Begriff und Funktion des Finanzkapitals in Beziehung setzt zur Entwicklung der abstrakten Arbeit, also der Kapitalsubstanz, und die Krisentheorie aus dieser Beziehung ableitet. Der ökonomische Wert der Produkte, der den Mehrwert als Selbstzweck des Kapitals enthält, ist ja nach Marx nichts anderes als ein fetischisiertes Quantum abstrakter Arbeit. Die vom Zwang der Konkurrenz vermittelte Produktivkraftentwicklung vermindert jedoch das Arbeitsquantum pro Produkt stetig. Das bedeutet, dass jedes Produkt immer weniger Wert und damit (trotz möglicher Binnenverschiebungen imVerhältnis von Wert der Produktionskosten und Mehrwert) auch immer weniger Mehrwert repräsentiert.

Es verhält sich also nicht allein so, dass der Verwertungsprozess aufgrund des bereits aufgehäuften Mehrwerts immer gröBere Massen von Produkten erzeugen und auf dem Markt realisieren muss, sondern dieses Problem potenziert sich dadurch, dass außerdem eine gegebene Produktmasse immer weniger Wert bzw. Mehrwert, worauf es im kapitalistischen Sinne allein ankommt, darstellen kann. Schon allein ein permanentes Wachstum auf unveränderter Wertgrundlage historisch hochzurechnen, lässt die logische Unmöglichkeit erkennen, wie oft gezeigt worden ist. Aber ein ebensolches Wachstum bei stetig vermindertem Wert der Produkte bis zur bloß noch homöopathischen Dosis zu postulieren, ist geradezu irrsinnig. In der letzten absurden Konsequenz müsste sozusagen das ganze Weltall mit Waren zugeschüttet werden, allein um des Mehrwerts willen, obwohl diese Waren rein ökonomisch immer „wertloser“ werden.

Über alle konjunkturellen Zyklen hinweg findet also durch die kapitalistische Produktivkraftentwicklung ein säkularer Entwertungsprozess statt. Darin besteht die tiefere Dimension der Krise gegenüber den bloß zyklischen Schwankungen. Hinter der zyklischen Überakkumulation lauert die strukturelle Überakkumulation, von der die objektive innere Schranke der Produktionsweise markiert wird. Die wachsende strukturelle Bedeutung des Finanzund Kreditüberbaus ist die endemische Reaktionsbildung des Systems auf den schleichenden realen Entwertungsprozess.
Der Kredit im großen Maßstab bedeutet nichts anderes als den Vorgriff auf noch gar nicht produzierten Wert bzw. Mehrwert, der immer weiter in die Zukunft vorgeschoben wird. Es ist die Kapitalisierung von „Erwartungen“. Übergipfelt wird dieser Prozess durch immer neu hervorgetriebene Finanzblasen, zentral durch die spekulative Steigerung der Aktienwerte (d.h. der Preise der bloßen Eigentumstitel) und die damit verbundene Bildung von „fiktivem Kapital“ (Marx). Die Kehrseite des säkularen Entwertungsprozesses ist der Mangel an gesellschaftlicher Kaufkraft, um den (fiktiven, bloß als Zukunftserwartung generierten) Wert bzw. Mehrwert zu realisieren. Deshalb begann im Lauf des 20. Jahrhunderts die „Kapitalisierung der Zukunft“ in Gestalt des privaten Warenkredits auch den Konsum zu ergreifen.

In wachsendem Ausmaß werden also Investitionen und Konsum nicht mehr aus reellen vergangenen, sondern aus fiktiven zukünftigen Produktionsprozessen des Kapitals finanziert. Dieser Prozess kann gestreckt werden, solange ausreichend reelle Wertproduktion nachfließt, damit wenigstens der Schein aufrechterhalten wird.
Zeitweilig mag dies im obigen Sinne Hilferdings als Dämpfung der Krise erscheinen, weil der reale Zyklus finanzkapitalistisch zunächst abgefedert wird. In der tieferen Dimension aber reift gerade dadurch eine ungeheure Verschärfung der Krise heran. Denn wehe, die fragile finanzkapitalistische Kette zwischen Vergangenheit und Zukunft reißt. Hilferding konnte und wollte wie der gesamte Arbeiterbewegungsmarxismus diesen Zusammenhang nicht sehen, weil dessen Erkenntnis eine ideologische Identitätskrise ausgelöst hätte. Denn der säkulare Entwertungsprozess der Waren ist ja identisch mit einer entsprechenden Entwertung der Arbeitskraft und einem obsolet Werden der abstrakten Arbeit. Die geheiligte Ontologie der Arbeit wird auf diese Weise zusammen mit den basalen Formen des warenproduzierenden Systems grundsätzlich in Frage gestellt; und das durfte einfach nicht sein.

Hilferdings blauäugige Vorstellung von der finanzkapitalistischen Milderung der Krisen wurde kaum zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seines Werkes aufs grausamste blamiert. In krassem Gegensatz zu seinen Voraussagen bildete sich Ende der 20er Jahre die bis dahin größte Finanzblase aller Zeiten, deren Platzen beispiellose Bankenzusammenbrüche, Großbankrotte und die verheerende Weltwirtschaftskrise zur Folge hatte. Aber auch in anderer Hinsicht erfüllten sich die traditionsmarxistischen Erwartungen nicht. Weit davon entfernt, allmählich einzuschlafen, überschwemmte der Antisemitismus in dieser Krisenepoche die ganze Welt und wurde in Deutschland mit den bekannten Konsequenzen zur massenmörderischen Staatsdoktrin. Wie war das möglich?

Kapitalfunktionen, Staatskredit und sekundäres Kleinbürgertum

Der säkulare Entwertungsprozess, der vorläufig in der Weltwirtschaftskrise gipfelte, hatte auch in soziologischer Hinsicht zu gesellschaftlichen Umschichtungen geführt. In demselben Maße, wie die Produktivkraftentwicklung die Wertsubstanz der Produkte aushöhlte, mussten zwangsläufig auch die soziale Stellung des „allein wertschaffenden Proletariats“ und dessen Begriff untergraben werden. Nicht etwa, weil sich andere Momente der Wertschöpfung aufgetan hätten (wie es bis hinauf zu Habermas in der wert-affirmativen Theorie immer wieder behauptet worden ist), sondern weil die Fetischform des Werts zusammen mit ihrer Arbeitssubstanz obsolet zu werden, also sich die „Wertschöpfung“ selber als sinnloses Selbstzweck-Unternehmen zu enthüllen begann. Absolut nahmen zwar im Weltmaßstab das mehrwertschaffende Industrieproletariat und damit die Wertsubstanz immer noch zu, aber eben nicht mehr im Ausmaß des erforderlichen Wachstums, das sich bereits zu einem erheblichen Teil qua Kredit und „fiktivem Kapital“ aus dem Vorgriff auf zukünftige Wertsubstanz nähren musste. In diesem Kontext expandierten nun schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis dahin marginale Sozialkategorien des Kapitals, die sich nicht mehr im bisherigen „Klassenschema“ unterbringen ließen.
Im 19. Jahrhundert war die Welt der Klassen und Klassenkämpfe (in der unreflektierten Hülle des warenproduzierenden Systems und der abstrakten Arbeit) gewissermaßen noch in Ordnung: Die Kapitaleigentümer und ihre Funktionäre standen der wert- bzw. mehrwertschaffenden Arbeiterklasse gegenüber, als dritte Kategorie trieb sich noch das klassische Kleinbürgertum mit eigenen Produktionsmitteln herum, das aber auf dem absteigenden Ast zu sein schien. Und der Staat war der „Klassenstaat der Bourgeoisie“, in dem diese ihre überschüssigen Sprösslinge unterbrachte — eine soziologistisch verkürzte Auffassung, die natürlich weit hinter die unausgearbeiteten Ansätze der Marxschen Staatstheorie zurückfiel, in denen der Staat als „abstrakte Allgemeinheit“ bestimmt wurde: somit als die gemeinsame politische Form aller Subjekte von abstrakter Arbeit und Wert wie auf der anderen Seite das Geld als die gemeinsame ökonomische Form.

Die einfach gestrickte Gesellschaftstheorie des Arbeiterbewegungsmarxismus musste im 20. Jahrhundert Irritationen erleiden. Produktivkraftentwicklung, säkulare Entwertung, Aufstieg des Finanzkapitals und die damit verbundenen Vergesellschaftungsprozesse trieben massenhaft Kategorien von lohnabhängiger Tätigkeit hervor, die nicht oder nur in geringem Maße mehrwertschöpfend, sondern selber finanzkapitalistisch alimentiert sind.

Zum einen wurden im Kontext der großen Aktiengesellschaften zunehmend Kapitalfunktionen vergesellschaftet; nicht nur das angestellte Management fiel darunter, sondern eine Vielzahl von Funktionen, die ursprünglich das „Kapitalistensubjekt“ selbst ausgeübt hatte. Schon Marx sprach von den „Offizieren und Unteroffizieren des Kapitals“, aber das waren noch weitgehend Funktionen der Anleitung und Kontrolle ohne Massencharakter. Jetzt aber bildeten sich, um im Bild zu bleiben, auch im großen Maßstab „einfache Soldaten“ der Kapitalfunktionen aus, etwa in denVerwaltungsapparaten der großen Aktiengesellschaften: der Form nach lohnabhängig wie die klassischen „produktiven Arbeiter“, jedoch nicht oder kaum „mehrwertschaffend“, sondern Geschäftskosten oder „faux frais“ (Marx) der hoch vergesellschafteten Produktion und daher im Prinzip selber aus dem Mehrwert zu finanzieren, also auf den Profit eher drückend als ihn erzeugend. Ein Grund mehr für die Expansion des Finanzkapitals und die Bildung von „fiktivem Kapital“, um diese Kosten möglichst auf die Zukunft zu verlagern. Zum andern erforderte der stetig höhere Grad kapitalistischer Aggregierung analog zur Vergesellschaftung der Kapitalfunktionen auch eine Expansion der Staatsfunktionen. Die zunehmende Menschenverwaltung in jeder Hinsicht (etwa die Entstehung einer ausgedehnten staatlichen Arbeits- und Sozialverwaltung), die Notwendigkeit Hächendeckender Infrastrukturen in der Form öffentlicher Dienste, die Industrialisierung des Militärapparats usw. ließen nicht nur die Staatsquote am wertmäßigen Sozialprodukt immer weiter anschwellen, sondern brachten auch parallel zu den lohnabhängigen Heerscharen von Kapitalfunktionären ebensolche Heerscharen von ebenso wenig „mehrwertschaffenden“ lohnabhängigen Staatsfunktionären hervor. Wie die Ersteren dem Prinzip nach aus dem Mehrwert, so sind die Letzteren dem Prinzip nach aus dem staatlichen Steueraufkommen (also der Abschöpfung von Profiten und Löhnen) zu finanzieren. Tatsächlich aber sah sich der Staat schon bald gezwungen, seine expandierenden Apparate qua Verschuldung ebenfalls mittel des Finanzkapitals zu finanzieren, also durch ständig erweiterten Vorgriff auf zukünftige Steuereinnahmen. Laut Marx handelt es sich dabei per se um „fiktives Kapital“, da der vom Staat aufgenommene Kredit von vornherein nicht in kapitalproduktive Unternehmen fließt, sondern eben in kapitalistisch unproduktiven Staatskonsum.

Die Umwälzung der sozialen Kategorien im Kontext der zunehmenden kapitalistischen Vergesellschaftung wurde vom Arbeiterbewegungsmarxismus durchaus gesehen, etwa in der bekannten Bernstein-Kontroverse um die Jahrhundertwende, also wenige Jahre vor dem Erscheinen von Hilferdings Werk über das Finanzkapital. Aber getreu der verkürzten Kapitalismustheorie erschien das Problem nur als klassen- oder organisationssoziologisches und politisches: Es ging einzig um den Grad der Zugehörigkeit der so genannten „neuen Mittelschichten“ zur Arbeiterklasse qua Form der Lohnabhängigkeit und man diskutierte in diesem Zusammenhang diverse politisch-soziologische „Bündnis“-Konzeptionen; die Folge war das ganze 20. Jahrhundert hindurch ein Bandwurm von entsetzlich langweiliger traditionsmarxistischer Literatur zu diesem Thema.

Völlig unreflektiert dagegen blieben der entscheidende krisentheoretische Aspekt und die Konsequenzen für eine sozialistische Umwälzung. Wie schon der säkulare Entwertungsprozess ausgeblendet wurde, so „durfte“ auch das in der Herausbildung der „neuen Mittelschichten“ sich ankündigende Ausbrennen des „Wertschöpfungs“-Pathos nicht zur Sprache kommen. Unter den neuen und sich stetig in diese Richtung weiterentwickelnden Bedingungen konnte von einer „gerechten“ sozialistischen Verteilung oder Verwaltung des „Mehrwerts“ nicht mehr die Rede sein, sondern es kündigte sich die innere Schranke der „aufdem Wert beruhenden Produktionsweise“ (Marx) überhaupt an. Wie die „produktiven Arbeiter“ des klassischen, mehrwertschöpfenden Proletariats auf der stofflichen Ebene immer mehr Destruktionsprodukte statt nützliche Bedürfnisgüter herstellen mussten, so bezog sich der Inhalt der Arbeit jener neuen, kapitalistisch weitgehend unproduktiven lohnabhängigen Mittelschichten zu einem erheblichen Teil einzig und allein auf den Erhalt des Systems und seiner Funktionen, wäre also vom Standpunkt einer postkapitalistischen Gesellschaft einfach überflüssig. Eigentlich war damit der positivistische Arbeits- und Mehrwertmarxismus historisch erledigt; aber die Arbeiterbewegungsmarxisten hätten sich eher die Zunge abgebissen, als sich auf diesen Zusammenhang einzulassen.

Ebenso unterbelichtet blieb damit allerdings auch die ideologische Dimension der Veränderungen in der kapitalistischen Sozialstruktur. Jene „neuen Mittelschichten“ könnten auch als eine Art sekundäres Kleinbürgertum bezeichnet werden; „kleinbürgerlich“ nicht mehr im Sinne von kleinen Produktionsmittelbesitzern, sondern „kleinbürgerlich“ eher im Sinne des klassischen Beamtentums, jetzt aber in einer der Form nach lohnabhängigen Vermassung von Kapital- und Staatsfunktionen durch den kapitalistischen negativen Vergesellschaftungsprozess. Weil der Arbeiterbewegungsmarxismus in allen seinen Fraktionen keine zureichende Erklärung bieten und kein entsprechendes Programm der emanzipatorischen Umwälzung formulieren konnte, sondern auf seinem obsolet gewordenen Interpretationsmuster des 19. Jahrhunderts sitzen blieb, wurden die mit der Entwicklung des Finanzkapitals verbundenen sozialen Umschichtungen zu einem Treibsatz für die modifizierte Kleinbürger-Ideologie des 19. Jahrhunderts.

In den aufkommenden Konsumkrediten und damit verbundenen individuellen Schuldenkrisen konnte das Motiv der alten kleinbürgerlichen Affekte gegen das zinstragende Kapital bis in die kapitalproduktive Arbeiterklasse hinein ausgreifen; allerdings war das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eine marginale Erscheinung. Dasselbe Motiv entfaltete sich jedoch in den Schichten des sekundären Kleinbürgertums mit großer Durchschlagskraft. Zwar ging es dabei nicht mehr um die Verschuldung von familiären Klitschen, aber die strukturelle Abhängigkeit der eigenen Existenz vom gesellschaftlichen Kreditüberbau des Finanzkapitals wurde dumpf als Bedrohung empfunden. Dabei vollzog die einschlägige Ideologie dieselbe Verkehrung von Ursache und Wirkung wie die klassische Kleinbürgerideologie des 19. Jahrhunderts: Das zinstragende Kapital, ohne dessen Expansion die innere Schranke der kapitalistischen Vergesellschaftung und die Obsoletheit der meisten Kapital- und Staatsfunktionen schon längst manifest in Erscheinung getreten wäre, wurde zum Grund der Leiden und Krisen in der Kapitalform erklärt und die eigene kapitalistisch unproduktive Funktionstätigkeit mit demselben Ethos der abstrakten Arbeit belegt wie die kapitalproduktive des Industrieproletariats.

Es konnte nicht ausbleiben, dass der stets eng mit dem reduktionistischen Affekt gegen das zinstragende Kapital verbandelte Antisemitismus eine ungeahnte Blüte erlebte, statt allmählich einzuschlafen. Neben dem Arbeiterbewegungsmarxismus, der auf den kapitalistischen Entwicklungsprozess schon damals hilflos und regressiv reagierte, machten sich ‚„national-sozialistische“, antisemitisch durchtränkte Massenbewegungen breit. Diese Ideologie überschwemmte in der Weltwirtschaftskrise die Gesellschaft und ergriff auch große Teile der aus dem mehrwertschaffenden Produktionsprozess entwurzelten Masse von arbeitslosen Industriearbeitern. Dass der Nationalsozialismus in Deutschland die Macht übernehmen konnte und die antisemitische Ideologie bis zum Holocaust trieb, war einer spezifisch deutschen Geschichte geschuldet; dass aber die modifizierte, nunmehr der höheren gesellschaftlichen Aggregierung entsprechende Reduktion der „Kapitalismustheorie“ auf das Finanzkapital und deren antisemitische Ausprägung größere gesellschaftliche Wirksamkeit erlangten, war eine allgemeine kapitalistische Erscheinung.

Der 2. Teil erscheint in der nächsten Ausgabe der Streifzüge und umfasst folgende Kapitel:

  • Die Katastrophe des Nationalsozialismus und die Lernunfähigkeit des traditionellen Marxismus
  • Die Krise der 3. industriellen Revolution und das nene Finanzkapital
  • Allgemeines Wertsubjekt und virtuelle Verkleinbürgerung
  • Struktureller Antisemitismus
  • Die ideologische Verwahrlosung der radikalen Linken
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