Streifzüge, Heft 39
März
2007

„Dissidente Praktiken“

Interesse an dem Buch hatte Andreas Exner in der Redaktion noch vorm Erscheinen mit seinem Bericht vom Workshop „Prozesse der Selbstorganisation-gemeinsame Selbstversorgung“ der „Stiftung Fraueninitiative“ (http://www.stiftung-fraueninitiative.de/) im Herbst 2005 geweckt. Auf den Beiträgen dieser Tagung beruhen nämlich dreizehn der siebzehn Texte im Buch. (Der von Andreas kann als Einstimmung auf http://www.streifzuege.org/pdf/exner_in-dissidente-praktiken.pdf besichtigt werden. )

Eröffnet wird der Reigen von „Living for Change“, einer Rede der 90-jährigen Mitbegründerin des „Detroit Summer“ Grace Lee Boggs über ihr mehr als 60-jähriges Engagement in den sozialen Auseinandersetzungen in Detroit – LeserInnen der Streifzüge 36 und 37 kennen „Detroit Summer“ von der Analyse „Soziale Anomie und emanzipatorische Gegenbewegungen in einer dekapitalisierten US-Metropole“, die Andreas Exner und Irina Vellay verfasst haben. Weitere Untersuchungen „dissidenter Praktiken“ befassen sich u. a. mit „temporären Nutzungen“ städtischer Brachen in Berlin, Projekten der „Selbstorganisation in Armutsräumen von Rio de Janeiro und Buenos Aires“, der Hamburger Projektgemeinschaft „Arbeitskreis Lokale Ökonomie“ und der venezolanischen Kooperative Cecosesola. Teils sind es Studien, teils Berichte von Besuchen, teils kritische Betrachtungen von Beteiligten, alle mit dem erkenntnisleitenden Interesse am Vorhandensein oder Fehlen von Ansätzen, über Herrschaft und Ware hinauszukommen, auch wenn die Kategorien, schon genrebedingt, oft nicht sehr klar gefasst sind.

Die zweite Reihe, die „Positionen“-Texte, beginnt mit einem Aufsatz der Co-Herausgeberin Ulla Peters. In ihrer Schau auf das, was an Kritik der kapitalistischen Ökonomie in den letzten Jahrzehnten geleistet worden ist, interessiert sie nicht bloß Theorie und Debatte, sondern zugleich der praktische Lernprozess. In der von Marx inspirierten „Kritik an der Wert- und Warenform“ erkennt sie denn auch eine differenzierte Offenlegung der „Strukturlogiken kapitalistischer Vergesellschaftung“, sieht sie aber „mit dem , Stigma‘ der Negation, des für die Menschen nicht erlebbaren Praktischwerdens der Kritik“ gezeichnet. Ihr Punkt ist, dass Kritik „eine Gleichzeitigkeit von Veränderung und Leben in den kritisierten Verhältnissen“ erzwingt und „nicht erst auf einen Zustand nach der Abschaffung des warenproduzierenden Systems verweist“. Eine Überzeugung, die Peters mit ihren Miteditorinnen Carola Möller und Irina Vellay teilt. Es geht ihnen um „eine Kombination bzw. Zusammenschau verschiedener Kritiken an einer warenproduzierenden, patriarchalen Ökonomie, die sich nicht einem einheitlichen theoretischen Entwurf verpflichtet fühlt, sondern sich … in herrschaftskritischer Absicht auf Vorstellungen von selbstbestimmter Versorgung und Arbeitsteilung bezieht“. Die Realisierung solcher Kritik jedoch mit demselben Begriff „Ökonomie“ zu bezeichnen wie die Warenwirtschaft scheint mir nicht hilfreich.

Veränderung, so führen die Herausgeberinnen schon in der Einleitung aus, geschehe nicht durch „Vernichtung und Ersatz“ der vorgegebenen Strukturen durch das „ganz Andere“, doch wir können – unvermeidlich von den Verhältnissen geprägt – durch „Dissidenz“, mittels „Durchkreuzen verlangter, nahe liegender Eindeutigkeiten und Identitätsangebote“ „Verschiebungen leben und erfahren, Spuren hinterlassen und Pfade legen“.

Um das zu erleichtern und zu fördern, wurden Beiträge versammelt, die Bedingungen und Möglichkeiten hiezu in verschiedener, auch kontroverser Sichtweise darstellen und ausloten. Manches scheint fragwürdig, fast alles anregend, und das Buch hat, so denke ich, seine Schuldigkeit getan, wenn die unterschiedlichen Gedanken im Hirn der LeserInnen zu prozessieren beginnen. Ja, der großen Mehrheit der SchreiberInnen scheint daran zu liegen, darin verwickelt zu werden, warum sonst hätten sie im Anhang ihre Mail-Adressen bekannt gegeben?

Eine Warnung noch zum Schluss: Lektorat hat der Verlag peinsamerweise keins. Das ist schade, sollte aber niemanden abschrecken.

Stiftung Fraueninitiative, Carola Möller, Ulla Peters, Irina Vellay (Hg. ): Dissidente Praktiken. Erfahrungen mit herrschafts- und warenkritischer Selbstorganisation, Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2006, 287 Seiten, ca. 20 Euro.

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