FORVM, No. 45
September
1957

Ein Romancier aus Österreich

Zum Gedenken an Leo Perutz

Am 2. November 1957 wäre er 75 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß hätte er in den Gazetten allerlei Freundliches und Ehrenvolles über sich lesen können und hätte sehr gestaunt, wie hoch man ihn allenthalben schätzt. Denn in den letzten Jahren bekam er davon nicht viel Konkretes mehr zu merken (und im übrigen hat er schon früher nie so recht daran geglaubt).

Jetzt ist das Staunen, das schmerzliche Staunen an uns: weil mit Leo Perutz, der am 26. August einem plötzlichen Herzanfall erlag, wieder ein unwiederbringliches Stück Österreich dahingegangen ist und weil es immer erst solchen Dahingehens bedarf, damit wir die Unwiederbringlichkeit in ihrem vollen Ausmaß erkennen. Es gibt nicht mehr viele aus der Generation und von der Art des Romandichters Leo Perutz. Es starb da, wieder einmal, einer der letzten. Erst vor wenigen Wochen hatten Freund Lernet-Holenia und ich für eine bundesdeutsche Radiostation, die sich demnächst in einer eigenen Programmfolge mit Österreich zu beschäftigen plant, eine kleine Plauderei über die österreichische Literatur aufs Tonband zu improvisieren, vornehmlich über jene ihrer Repräsentanten, die uns persönlich bekannt waren. Und als die vorgesehene Aufnahmezeit zu Ende ging, da merkten wir, daß wir ausschließlich über Tote gesprochen hatten, angefangen von Rilke und Hofmannsthal, die an Lernets Anfängen standen, bis zu Werfel und Josef Roth (der heute erst wenig über sechzig wäre). Und als wir das merkten, fiel uns beiden gleichzeitig Leo Perutz ein und wir waren heilfroh, daß wir nun wenigstens von einem repräsentativen Österreicher sprechen konnten, der noch lebte. Nun wird der Ansager jener Rundfunksendung uns berichtigen müssen.

Leo Perutz war 1882 in Prag zur Welt gekommen, war durch entscheidende Jahrzehnte seines Daseins mit Wien verbunden und lebte seit 1938, seit seiner Flucht vor den Nazi, in Haifa. Und er starb in Bad Ischl, wo so manche der in Prag Geborenen und aus Wien Geflüchteten die Sommer ihrer Kindheit verbracht hatten und wohin sie hernach, als es überstanden war, manchmal noch zu Besuch kamen, zu wehmütigem Besuch, à la recherche de l’Autriche perdue, in die Sommerresidenz des alten Kaisers, unter dessen Fahnen der Leutnant Perutz in den ersten Weltkrieg gezogen und schwer verwundet worden war.

Damals begann Leo Perutz zu schreiben. Noch während des Kriegs erschien seine erste Erzählung und war tatsächlich eine Kriegsgeschichte, freilich keine aktuelle oder gar hurrapatriotische, sondern eine nachdenklich in historisches Gewand gekleidete. „Die dritte Kugel“ hieß sie, und das martialisch Zupackerische dieses Titels kehrte auch in einigen späteren wieder: im „Gasthaus zur Kartätsche“ etwa, im „Schwedischen Reiter“ und andern. Auch die Vorliebe für das historische Gewand blieb ihm eigen, von „Cagliostro“ und „Turlupin“ über den „Marques de Bolibar“ bis zu seinem letzten und reifsten Werk, „Nachts unter der steinernen Brücke“, einer geheimnisvollen und visionär durchwobenen Geschichtenreihe aus dem Prag Rudolfs II. und des Großen Rabbi Löw.

Aber das hieß keineswegs, daß er sich von der Gegenwart abgekehrt hätte. Sie war enthalten und gestaltet in „St. Petri Schnee“ und im „Meister des Jüngsten Tages“ und in „Herr, erbarme Dich meiner“, in der atembeklemmenden Geschichte eines Selbstmörders, der „Zwischen neun und neun“, zwischen dem Sprung aus dem Fenster beim ersten Glockenschlag der neunten Stunde und dem Aufschlagen aufs Pflaster beim letzten, nicht etwa sein vergangenes Leben durchlebt, sondern das, das er nicht mehr leben wird; und vor allem in seinem großartigen Heimkehrerroman mit dem alsbald zum Zitat gewordenen Titel „Wohin rollst du, Äpfelchen?“

Es ist ein reiches, faszinierend farbiges Œuvre, das Leo Perutz hinterläßt und das ihn zumal in der Zeit zwischen den beiden Kriegen zu einem der meistgelesenen Erzähler deutscher Sprache gemacht hat. Aber die Literaturkritik wußte schon damals nicht recht wohin mit ihm. In die Abteilung „Unterhaltungsroman“? Dazu waren seine Geschichten zwar ganz gewiß aufregend genug, aber doch wohl zu gewichtig in ihrer stets ein wenig spukhaften Hintergründigkeit, dazu waren seine Gestalten viel zu lebensnah und viel zu sicher im Psychologischen fundiert, seine Atmosphären zu echt und seine sprachliche Zucht zu groß. Also in die hohe Literatur mit ihm? Ach, dazu war, was er schrieb, nun wieder nicht genügend tief, dazu hatte es zu wenig Problematik, zu wenig Bedoitung mit oi. Dieser Kerl fabulierte ja einfach drauflos, und die messerscharfe Präzision seiner Konflikte, die glasklare Logik seiner Handlungsabläufe, die tödliche Sicherheit, mit der er Akzente und Überraschungen setzte — das alles sprach ja nur dafür, daß er nichts weiter als Spannung erzeugen wollte.

Die so urteilten, hatten in einer Hinsicht zweifellos recht. Leider entging ihnen eine andre. Leider blieb ihnen vor lauter äußerer Spannung die innere verborgen, die durch alle Werke des Romandichters Perutz vibriert: die Spannung um das Rätsel „Mensch“. Und sie blieb ihnen deshalb verborgen, weil er mit dieser Spannung nicht viel hermachte. Das hätte er als aufdringlich empfunden oder wohl gar als humorlos. Leo Perutz jedoch war weder das eine noch das andre. Er besaß, zu seinen vielen Begabungen dazu, auch die Verhaltenheit und den Humor. Er überließ es den Lesern, was sie aus seinen Geschichten herauslesen wollten. Er war ein österreichischer Schriftsteller. Und er war einer der letzten.

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