Internationale Situationniste, Numéro 3
 
1976
Dokumente

Eröffnungsbericht der Münchner Konferenz

Von dem seit 1953 von den Lettristen durchgeführten Experiment eines Spiels mit den von der jetzigen städtischen Umwelt erlaubten Verhaltensweisen an hat der Begriff einer bewussten Konstruktion der Umgebung in Verbindung mit einem Leben und seinen sich ändernden Gewohnheiten zur Idee eines unitären Urbanismus geführt. Sprechen wir hier von Urbanismus, müssen wir uns darüber klar sein, dass das Konzept einer bewussten Schöpfung und seiner Beziehung zu einem höheren Leben uns dazu veranlassen, endgültig mit den gängigen Urbanismusbegriffen zu brechen.

Wollen wir mit der Forschung und der Praxis einer schöpferischen Umgestaltung der städtischen Umwelt anfangen, die mit einer qualitativen Änderung des Verhaltens und der Lebensweise verbunden ist, handelt es sich um eine wirkliche kollektive Schöpfung auf der Ebene der Kunst.

Durch die heutigen Kulturverhältnisse, die Auflösung der individuellen Künste und die Unmöglichkeit einer Erneuerung bzw. Verlängerung dieser Künste ist eine Schöpfungsleere entstanden, die unser Unternehmen nur fördern kann. Das Verschwinden der traditionellen Kunstformen und die fortschreitende Organisation des gesellschaftlichen Lebens ziehen einen zunehmenden Mangel an Spielmöglichkeiten im alltäglichen Leben nach sich. Nicht nur bewegt uns unsere Ablehnung dieser Zustände dazu, nach neuen Spielbedingungen zu suchen, sondern sie zwingt uns auch, das gesamte Problem der Kultur zu überprüfen, um schließlich zu einer Theorie des Spiels und zur Praxis der bewussten Umgebungskonstruktion zu kommen.

Wir wissen, dass die kollektive Arbeit für die Verwirklichung unserer Ideen notwendig ist und wir rechnen auf die schöpferische Unzufriedenheit der fortschrittlichsten heutigen Künstler, die uns zusammenhält. Nur in unseren Perspektiven gibt es die Schöpfung.

Die Idee eines unitären Urbanismus ist einerseits durch Experimente wie das Umherschweifen und die Psychogeographie vorbereitet worden, die von den Lettristen erfunden und praktiziert wurden; andererseits durch die von einigen modernen Architekten und Bildhauern durchgeführte Forschung auf dem Gebiet der Konstruktion. Von beiden Seiten aus hat das Bedürfnis, zur Einrichtung vollständiger Szenerien und zur völligen Verhaltens- und Umwelteinheit zu gelangen, zu einer gemeinsamen Aktion geführt.

In einer 1958 in Amsterdam abgegebenen Erklärung haben wir einige Punkte festgesetzt, in denen wir versucht haben, den unitären Urbanismus und unsere jetzige Aufgabe gegenüber dieser Perspektive zu definieren. Diese Erklärung schlug das Experiment mit vollständigen Szenerien, die sich auf einen unitären Urbanismus erstrecken sollten, und die Suche nach neuen Verhaltensweisen in Verbindung mit diesen Szenerien als minimales Programm der S.I. vor. Nach der Amsterdamer Erklärung müssten wir also das situationistische Programm als verfehlt betrachten, könnten wir auf diesem Gebiet nicht eine Praxis verwirklichen.

Unsere erste Aufgabe und das hauptsächliche Ziel unserer jetzigen Versammlung sollte eine situationistische Praxis in der Perspektive eines unitären Urbanismus sein. Wir sollten uns nicht trennen, ohne die für die praktischen Experimente schon vorhandenen Möglichkeiten gemeinsam geprüft zu haben.

„Der unitäre Urbanismus“, heißt es in der Amsterdamer Erklärung, „wird durch die vielseitige und ständige Aktivität bestimmt, die die menschliche Umwelt gemäß den auf allen Gebieten am weitesten entwickelten Konzepten bewusst von neuem schafft.“ Diese permanente Tätigkeit soll nicht in eine günstigere Zukunft als die Gegenwart verlegt werden, unsere unmittelbare Aufgabe ist es im Gegenteil, diese durch eine wirksame Durchführung unseres Programms in Gang zu setzen. In diesem Programm können wir drei Aufgaben unterscheiden, mit denen wir schon jetzt anfangen können bzw. schon angefangen haben:

  1. Die Schaffung von Umgebungen, die die Propaganda für den unitären Urbanismus fördern. Das Absterben der individuellen Künste soll unermüdlich von uns entlarvt und die Künstler gezwungen werden, ihre Wahl zu treffen und ihren Beruf zu wechseln.
  2. Wir müssen eine Kollektivarbeit durchführen, indem wir Gruppen bilden und wirkliche Projekte vorschlagen.
  3. Die Kollektivschöpfung soll durch die ständige Prüfung der von uns ins Auge gefassten Probleme und der Lösungen, die wir finden werden, in Gang gehalten werden.

Wie alle anderen Arbeiter in unserem Unternehmen wird der Architekt vor die Notwendigkeit eines Berufswechsels gestellt: er wird nicht mehr einzelnstehende Formen, sondern vollständige Umgebungen konstruieren. Heute wird die Architektur deswegen so langweilig, weil sie sich hauptsächlich um Formen kümmert. Der Gegensatz zwischen Funktion und Ausdruck ist nicht mehr das Problem der Architektur — das ist eine überholte Frage. Während der Architekt vorhandene Formen benutzt und neue schafft, soll er sich von nun an hauptsächlich um die Wirkung kümmern, die das Ganze auf das Verhalten und das Leben der Bewohner ausüben wird. Damit wird jede Architektur zu einem Teil einer umfassenderen und vollständigeren Aktivität und schließlich wird die Architektur wie die anderen jetzigen Künste zum Vorteil dieser einheitlichen Tätigkeit verschwinden.

Der neue Urbanismus wird seine ersten Anregungen auf dem Gebiet der Poesie und des Theaters unter den bildenden Künstlern und Architekten sowie in den Reihen der fortgeschrittenen Urbanisten und Soziologen finden. Doch sind sie alle, auch wenn sie Gruppen bilden, die perfekt zusammenarbeiten, nicht imstande, unsere Vorstellungen völlig zu realisieren. Dazu ist schließlich die Mithilfe aller notwendig — all derer, die leben und dieses Leben machen werden, das wir allein für den Stoff der zukünftigen Schöpfung halten.

Wenn wir so ehrgeizige Perspektiven wie die eben vorgestellten vorschlagen, so bedeutet das nicht, dass wir uns auf Vorhersagungen und Prophezeiungen beschränken wollen. Diese idealistische Haltung stellt die größte Gefahr dar, der wir jetzt ausgesetzt sind. Damit riskieren wir, den Übergang zur Praxis zu verpassen, der zum Weitergehen unerlässlich ist.

In unserem Leben, wie wir es heute führen, müssen wir alle für die Entwicklung und die Verwirklichung unserer Ideen möglichen Bedingungen organisieren. Nun ist der unitäre Urbanismus kein Kunstwerk, sondern eine permanente Tätigkeit und diese fängt genau in dem Augenblick an, wo der Begriff eines unitären Urbanismus entstanden ist. So können wir auch feststellen, dass der unitäre Urbanismus seit Jahren in der Verwirklichung begriffen ist. All unsere Gedanken über ihn, die Umherschweifexperimente, die psychogeophischen Forschungen und Karten, die Umgebungsentwürfe tragen von Anfang an dazu bei, ihn in Gang zu setzen. Jetzt wollen wir diesen Gang durch die passenden Maßnahmen beschleunigen.

Zu diesem Zweck haben wir uns über die Gründung eines Forschungsbüros für einen unitären Urbanismus in Amsterdam geeinigt, das mit der Verwirklichung der Gruppenarbeit und der Ausarbeitung von praktischen Lösungen beauftragt wird. Diese Arbeit soll sich von der heutigen, bei individuellen Architekten schon üblichen Gruppenarbeit streng unterscheiden, da wir die Kollektivschöpfung nicht als eine Einheit, sondern als eine unendliche Quantität variabler Elemente betrachten. Das Forschungsbüro für einen unitären Urbanismus soll bei einer ersten Entwicklungsstufe der Wirklichkeit entnommene Projekte ausarbeiten, die unsere Ideen veranschaulichen und zugleich Mirkoelemente dessen bilden, was den unitären Urbanismus ausmachen wird.

Das Forschungsbüro wird erfolgreich sein, sofern es ihm gelingt, qualifizierte Mitarbeiter heranzuziehen, die den Sinn unserer Forschungen verstehen, und Projekte zu verwirklichen, die die Prüfsteine der Wirksamkeit unseres Unternehmens sind.

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