Amelie Lanier, Sonstiges
Juli
2013

Eurokrise und Euro-„Rettung“ im Lichte der Stirnerschen Staatsauffassung

1. Die Staatsauffassung Stirners

Nach Stirner gehört alles eigentlich dem Staat:

Ich empfange Alles vom Staate. Habe Ich etwas ohne die Bewilligung des Staates? Was Ich ohne sie habe, das nimmt er Mir ab, sobald er den fehlenden »Rechtstitel« entdeckt. Habe Ich also nicht Alles durch seine Gnade, seine Bewilligung?

(Der Einzige und sein Eigentum, S. 152 Originalausgabe)

Das Privateigentum ist also ein Rechtstitel, den der Staat verleiht:

… alles Besitzbare ist Staatsgut, gehört dem Staate und ist nur Lehen der Einzelnen.

(ebd.)

Mit der Einrichtung des Privateigentums richtet der Staat die Konkurrenz ein:

Indem nämlich der Staat eines jeden Person und Eigentum gegen den Andern schützt, trennt er sie voneinander … Wem genügt, was er ist und hat, der findet bei diesem Stande der Dinge seine Rechnung; wer aber mehr sein und haben möchte, der sieht sich nach diesem Mehr um und findet es in der Gewalt anderer Personen.“

(Der Einzige, S. 61)

Natürlich fußt die Allmacht des Staates, sein Gewaltmonopol auf der Akzeptanz der ihm Unterworfenen, darüber machte sich Stirner keine Illusionen:

Für ihn ist’s unumgänglich nötig, daß Niemand einen eigenen Willen habe; hätte ihn Einer, so müsste der Staat diesen ausschließen (einsperren, verbannen usw.); hätten ihn Alle, so schafften sie den Staat ab. Der Staat ist nicht denkbar ohne Herrschaft und Knechtschaft (Untertanenschaft); denn der Staat muß der Herr sein wollen Aller, die er umfaßt, und man nennt diesen Willen den »Staatswillen«.

(Der Einzige., S. 102)

Das soll jetzt aber nicht Thema sein, Gegenstand der Untersuchung ist das Verhältnis von Staat und Privateigentum bzw. -Eigentümer. In seiner Behauptung, der Staat richte das Eigentum nur als „Lehen“ ein, entäußere sich also nur unter bestimmten Bedingungen seines universalen Eigentums und überantworte es den Privaten, erkennt Stirner den Staat als das eigentliche Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft an. Der Staat richtet die Konkurrenz ein, weil er sich daraus Vorteile verspricht. Aus der Konkurrenz der Individuen, der Kapitalisten wie der Arbeiter, beschafft der Staat sich die Mittel, mittels derer er seinen Gewaltapparat einrichten und seine Bedingungen diktieren kann. Er bedient sich also des von Privatsubjekten geschaffenen Reichtums seiner Gesellschaft, um seine eigene Macht zu befestigen und ausüben zu können. Das betrifft den gesamten Staatsapparat. Sowohl die gewaltmäßige Abteilung desselben: Heer, Polizei, Justiz, Regierung, als auch diejenigen Abteilungen, die der Verwaltung und Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft dienen, wie Gesundheits- und Unterrichtswesen, sowie die Betreuung der Alten und Armen.
Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß auch letztere Funktionen des Staates sind, und nicht einfach gesellschaftliche Bedürfnisse, derer sich eine vermeintlich neutrale Instanz annimmt. Diese Stirnersche Staatsauffassung, die alles Geschehen in der Gesellschaft vom Staat als übergeordneter Instanz ableitet, steht im Gegensatz zur marxistischen Bestimmung des Staats, derzufolge der Staat ein Ergebnis der Konkurrenz ist.

2. Die marxistische Staatsauffassung

Marx leitet den Staat aus der Konkurrenz der Eigentümer ab. In den ersten zwei Abschnitten des Kapitals erklärt er, wie Markt, Konkurrenz und Eigentum die Existenz des Staats bedingen. Um die Konkurrenz zu ermöglichen, bedürfen die Marktsubjekte einer übergeordneten Gewalt, die ihren Austausch erst ermöglicht und sie auch mit dem dafür nötigen Geld – dem „allgemeinen Äquivalent“, das für einen Markt unumgänglich notwendig ist – ausstattet. Der Staat wird so zu einer Notwendigkeit der Marktwirtschaft erklärt, aber eben zu einer, die aus der Konkurrenz der Privateigentümer entsteht. Die Staatsgewalt ist somit ein Bedingtes, ein Ergebnis, und beruht stets auf der Konkurrenz.

Marx’ Polemik gegen Stirner in der „Deutschen Ideologie“, – die er selbst nicht veröffentlichte und für nicht veröffentlichenswert betrachtete – beruht auf seiner Abneigung gegen Stirners Bestimmung des Staates als Subjekt der Geschichte und der Ökonomie. Hierzu muß man allerdings in Betracht ziehen, daß diese Streitschrift lange vor dem „Kapital“ verfaßt wurde und viele der dort vertretenen Positionen später von Marx selbst verworfen wurden. Marx hat das „Buch vom Staat“, das er geplant hatte, nie geschrieben. Seine Staatstheorie ist daher als unvollständig zu betrachten.

Marx selber wußte, daß hier noch grundlegende Unklarheiten bestanden, als er in der „Kritik des Gothaer Programms“ seinen sozialdemokratischen Jüngern vorhielt:

Freier Staat – was ist das? Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat »frei« zu machen. ... Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln.

Damit bestimmte er allerdings, daß es so etwas wie einen Staat, der der Gesellschaft „untergeordnet“ sein könnte, geben sollte. Und damit eröffnete er die Debatte um die Bedingtheit des Staates durch die Gesellschaft, wie sie bereits im „Kommunistischen Manifest“ bestimmt worden war:

Der Staat wird zum bloßen »Ausschuss«, der die »gemeinschaftlichen Geschäfte« der Bourgeoisie verwaltet.

(Manifest, Kapitel 1)

An diese Auffassung des Staates als Ergebnis der Konkurrenz der Kapitale schließt Engels im „Anti-Dühring“ an:

Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus.

(Anti-Dühring, Kapitel II, S. 260)

Daraus zog Engels den ganz eigenartigen Schluß, daß die Konzentration der Kapitale am Ende ihre Grundlage überflüssig machen würde:

Der Staat wird nicht »abgeschafft«, er stirbt ab.

(ebd., S. 262)

Auf dieser theoretischen Grundlage aufbauend verkündete Lenin 1917:

Der bürgerliche Staat »stirbt« nach Engels nicht »ab«, sondern er wird in der Revolution vom Proletariat »AUFGEHOBEN«. Nach dieser Revolution stirbt der proletarische Staat oder Halbstaat ab.

Die Fortsetzung ist bekannt. Das Privateigentum und die Konkurrenz wurden in der SU „aufgehoben“, die Staatsgewalt bestand fort. Der Staat erklärte sich zum Eigentümer. Und als seine Betreiber nach ein paar Jahrzehnten mit dem Ergebnis der universellen Staatsaneignung unzufrieden waren, so richteten sie wieder das Privateigentum, das Stirnersche „Lehen“ ein.

Letztere Staatsauffassung – des Staates als Folge, als Ergebnis der Konkurrenz der Eigentümer – hat auch ihren fixen Platz in der bürgerlichen Wissenschaft und dient zur Feier der Demokratie – letztlich sind es die Bürger, die einen Staatsvertrag eingehen und sich einer übergeordneten Gewalt freiwillig unterwerfen, um ihre Gegensätze friedlich auszutragen. Die Idee des Gesellschaftsvertrages ist älter als die Theorien von Marx und Stirner, und entstand im Land, das als die Wiege des Kapitalismus anzusehen ist. Es sei hier nur festgehalten, daß Marx und seine Anhänger in der Tradition Hobbes’ stehen, während Stirner mit ihr bricht.

Diese zwei einander gegenüberstehenden Staatstheorien sind nicht eine Frage von Henne und Ei – was war vorher? Es geht um die grundlegende Frage: Wem gehört die Welt? Den Staatsgewalten oder dem Kapital? Diese Frage ist deshalb von Wichtigkeit, weil sich daraus ergibt, welche Instanz in erster Linie zu bekämpfen ist, wenn man eine Gesellschaft errichten will, in der die Ökonomie nicht auf Konkurrenz beruht, sondern auf Kooperation.

In der siegestrunkenen Euphorie nach dem Untergang des Realsozialismus erschien es, daß das Pendel zugunsten des Kapitals ausschlug. Das schrankenlose Streben nach Profit wurde allerorten ins Recht gesetzt und alle möglichen bisherigen Grundlagen des Funktionierens der Staaten wurden unter dem Stichwort „Privatisierung“ den Gewinnkalkulationen des Kapitals überantwortet, mit teilweise verheerenden Folgen (z.B. die Eisenbahnen in Großbritannien).

Im Gefolge der marxistischen bzw. hobbesianischen Staatsauffassung hat sich leider innerhalb der linken bzw. kritischen Gesellschaftstheorien die Gewohnheit etabliert, das Kapital als „gierig“ zu kritisieren und die Staatsgewalt als eine Art Weihnachtsmann zu betrachten, der alle Übel der Konkurrenz zu heilen berufen ist. Der Brandstifter wird als Feuerwehr zu Hilfe gerufen.

Demgegenüber haben die Politiker der EU seit dem Beginn der Finanzkrise einige Handlungen gesetzt, die zeigen, daß in Zeiten der Krise wieder das Primat des Gewaltmonopols gegenüber der Freiheit des Eigentums gilt.

3. Historische Vorläufer der Krisenbewältigung

Unter den derzeit gängigen Vorstellungen, wie man sich gegenüber dem drohenden großen Crash wappnen könne, werden zweierlei Strategien in diversen Foren abgepriesen: Man möge Gold – als werthaltige Substanz – im Garten vergraben, oder man möge in Immobilien als vermeintlichen sicheren Hafen investieren. Demgegenüber sei an die Maßnahme Franklin Delano Roosevelts erinnert, der 1933 Goldbesitz verbot und die amerikanischen Staatsbürger dazu nötigte, ihre Goldvorräte abzuliefern. Die Weigerung wurde mit hohen Gefängnisstrafen bedroht. Ebenso sei an die 10 Jahre vorher erfolgte Reform der Rentenmark erinnert, der jedem Grundeigentümer eine Zwangsabgabe auferlegte und damit praktisch den Staat zum eigentlichen Grundherrn, die privaten Grundeigentümer zu seinen Pächtern erklärte.Beide Methoden könnten zum Einsatz kommen, wenn die Eurozone aufgelöst wird, und es darum geht, die wieder einzuführenden nationalen Währungen an irgendeinen realen Wert zu binden. Außer natürlich, die Bewohner Europas machen vorher eine Revolution und jagen die ganze Bande zum Teufel.

4. Bewältigung der Eurokrise als imperialistischer Gegensatz, der auf dem Rücken der Bürger ausgetragen wird

Worum es bei den von den EU-Politikern gesetzten Maßnahmen, die unter dem Stichwort „Euro-Rettung“ laufen, inzwischen eigentlich geht, ist, die Unkosten des Scheiterns der Einheitswährung denjenigen aufzubürden, die sich dagegen nicht wehren können. Das heißt nicht nur Verarmung der Massen, sondern auch Kapitalvernichtung. Es gilt nur, auszustreiten, wo sie stattzufinden hat.

Da waren die „Stützungsaktionen“ für Griechenland und Zypern jeweils Experimente und Präzedenzfälle.

Bei Griechenland wurden Schulden gestrichen, also investiertes Kapital vernichtet. Diejenigen Halter griechischer Staatspapiere, die in den potenteren Euro-Ländern saßen, wie die französischen und deutschen Banken, bei denen sich diese Papiere als Folge von Waffenkaufen Griechenlands in diesen beiden Ländern angesammelt hatten, stießen ihre Papiere rechtzeitig an die EZB ab. Die Kapitalvernichtung fand bei den griechischen Pensionsfonds, den griechischen und den zypriotischen Banken statt, die noch 2009 massive Stützungskäufe griechischer Anleihen unternommen hatten. Es ist nicht auszuschließen, daß ihnen dabei Zusagen gemacht wurden, die später gebrochen worden sind.

Bei der „Stützung“ der zypriotischen Banken wurde auf die Einlagen zugegriffen und damit ein weiterer Schritt gesetzt, um Privateigentum für die Rettung des Kredits der Eurozone heranzuziehen. Die Hauptbetroffenen waren vermutlich die Bewohner Zyperns selbst. Es ist aber sicher, daß sich auch viele Nicht-EU-Bürger hier um einen Teil ihres Vermögens geprellt sehen, die auch noch in Zeiten der Krise blauäugig in diese Wunderwährung vertraut hatten. In erster Linie handelt es sich vermutlich um Bürger der Ukraine, Serbiens, Rußlands oder Israels.

Damit ist auch das Tor geöffnet für den Zugriff auf alle Konten der Bürger der EU. Immerhin wurden ja Zyprioten und Griechen bereits teilenteignet, und diese Beschlüsse wurden von allen Finanzministern der EU mitgetragen. Noch vorher wurden in verschiedenen Euro-Ländern Bargeld-Transaktionen außerhalb einer gewissen Größenordnung verboten, – ein Versuch, die Staatsbürger auf das Bankensystem zu verpflichten, ihr Geld in die Banken zu locken. Eine dritte Methode der Enteignung ist diejenige durch Erhöhung von Steuern, Gebühren und Geldstrafen. Nicht nur in Ländern wie Portugal, Griechenland oder Ungarn wurden die Steuern auf alles und jedes erhöht, auch in Deutschland und Österreich sind alle möglichen Preise durch Steuererhöhungen ohne großen Lärm in die Höhe gegangen. Gleichzeitig wird die Inflationsrate manipuliert, indem in die zur Berechnung derselben herangezogenen Warenkörbe alles mögliche hineinpraktiziert wird, was kaum wer braucht, während die Güter des täglichen Bedarfs zu einem vergleichsweise kleinen Posten zusammengequetscht werden.

Inzwischen laufen mit ziemlicher Sicherheit die Versuche der deutschen und anderer Banken auf Hochtouren, ihre spanischen Staatspapiere abzustoßen, um im Falle einer Zahlungsunfähigkeit Spaniens die Füße im Trockenen zu haben.

In Spanien haben – hierzulande relativ unbemerkt – einige innovative Enteignungsaktionen stattgefunden, rund um den zusammenbrechenden Sparkassensektor: Erst wurden Sparern statt Einlagen Partizipationsscheine an einzelnen Sparkassen aufgeschwatzt, die sich nach der Fusion oder Pleite derselben in Luft aufgelöst haben. Es handelt sich in Summe um ein paar Milliarden Euro, die da vor allem älteren Leuten aus der Tasche gezogen wurden. Dann sollten 7 zu einer Bank fusionierte Sparkassen durch einen Börsengang mit Eigenkapital ausgestattet werden. Vorher wurde groß die Werbetrommel gerührt und neben staatlichen Fonds und den beiden spanischen Großbanken Santander und BBVA auch viele Kleinanleger dazu gebracht, in diese Bankia-Aktien zu investieren. Nicht einmal ein halber Jahr später fiel der Preis dieser Aktien ins Bodenlose, da Bankia ja nur die Zahlungsunfähigkeit der 7 fusionierten Sparkassen bei sich vereinigte. Die Bank mußte verstaatlicht werden und wird seither mit staatlichen Garantien künstlich beatmet. Die Kleinanleger schauten durch die Finger.

Besitzer von entwerteten Partizipationsscheinen protestieren in Madrid
Die Kleidung repräsentiert diejenige der Verurteilten in den Autodafés der Inquisition

Die in der EU derzeit stattfindende Jagd nach Schwarzgeldern und versteckten Vermögen ist ein weiterer Versuch, Geld in die leeren Kassen der EU-Staaten zu füllen bzw. dieses Geld zur Deckung der faulen Kredite ihrer Banken aufzustellen.

Es ist vom Standpunkt des eigenen Interesses sehr verkehrt, wenn sich jetzt irgendwelche braven Bürger freuen, daß es endlich auch „Großen“ an den Kragen geht.

Dieser Artikel erschien in

Găi Dào – Zeitschrift der Anarchistischen Föderation, Nr. 31 im Juli 2013.

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