Streifzüge, Heft 33
März
2005

Flucht vor dem eigenen Ich

Lesenswerte Bücher zum Arbeits- und Bildungswahn

Genauso wichtig wie die theoretische Zuspitzung ist auch ein Rundblick über wertkritische Gefilde hinaus. Ich habe mich um Literatur zum Thema Arbeit umgesehen. Auch in Bezug auf das nächste krisis-Seminar über „Die Herrschaft der toten Zeit“ (siehe S. 39) sind die Bücher und Broschüren interessant.

Die Broschüre „Hauptsache Arbeit? “ von Ludwig Unruh, einem Anarchosyndikalisten, bietet einen gut geschriebenen, eindrucksvollen historischen Abriss über die Durchsetzung des Arbeitsprinzips. Unruh beginnt bei der Darstellung der Tätigkeiten in der „Urgesellschaft“, dem „Altertum“ und dem „Mittelalter“, als es noch keinen linearen Zeitbegriff und keinen Begriff für Arbeit gab. Er bezieht sich dabei u. a. auf die Arbeiten des Wirtschaftshistorikers Edward P. Thompson. In vielen Publikationen wird zwar oft auf den Beitrag des Protestantismus zur Manifestation des Kapitalismus hingewiesen, aber Unruhs Ausführungen sind wesentlich umfassender. Recht anschaulich wird die unsägliche Gewalt nachgezeichnet, der es über Jahrhunderte bedurfte, um den Menschen ihren eigenen Rhythmus der Tätigkeiten und die Feiertage – die in Europa zusammengerechnet rund ein Drittel des Jahres, in Spanien gar fünf Monate ausmachten – zu verbieten und sie zum maschinengleichen Arbeiten in den Fabriken zu zwingen. Im Zuge der Industrialisierung wurde anfangs „dem Zwang zur Fabriksarbeit heftigster Widerstand entgegengesetzt“, später „setzte die Organisierung von Gegenwehr im Rahmen der Arbeitervereinigungen ein, die die Fabrik als Ort der Auseinandersetzung akzeptierten, diese selbst aber nicht mehr in Frage stellten.“ (S. 17)

Die Broschüre enthält neben einer ausführlichen Bibliografie auch einen Überblick über die Geschichte des Widerstands gegen die Arbeit sowie Auseinandersetzungen mit anderen linken Strömungen und deren Sicht der Arbeit(skritik). Mit dem Wissen über die Geschichte der Arbeit tritt das Durchgeknallte der heutigen Arbeits-Welt noch deutlicher zu Tage. Alles in allem eine unerlässliche Hintergrundinformation zur Vermittlung von Arbeitskritik!

Die bereits 1995 in Buchform erschienene Habilitation „Die Arbeit hoch? “ des Wiener Erziehungswissenschafters Erich Ribolits ist aktueller denn je. Es ist geradezu erschütternd, mit welcher Wucht all die Voraussagen von vor zehn Jahren eingetroffen sind. In sehr gut lesbarer Form wird der Zusammenhang von Arbeit, Bildung und politisch-ökonomischem System aufgezeigt. Ribolits veranschaulicht, wie sehr Pädagogik Agent des Arbeitsethos ist. Er fordert, sie aus dem Denkkorsett der Arbeitsgesellschaft zu befreien und von dieser endgültig Abschied zu nehmen. Seine Kritik ist allerdings keine konsequent wertkritische, sondern bleibt in Bildungshumanismus und Demokratie verhaftet.

Ebenfalls um den Dreh- und Angelpunkt Pädagogik geht es im neuen, überaus bemerkenswerten von Erich Ribolits und Johannes Zuber herausgegebenen schulheft: Pädagogisierung – Die Kunst, Menschen mittels Lernen immer dümmer zu machen. (Siehe auch S. 9 in diesen Streifzügen und auf S. 10f. den Artikel von Erich Ribolits, der aus diesem schulheft stammt. ) Zum ersten Mal wird der grassierende kollektive Bildungswahn einer radikalen Kritik unterzogen – und zwar von der Pädagogenzunft selbst. Der etwas beiläufige Satz von Karlheinz Geißler: „Ach ja, vielleicht lernen wir ja nur, weil wir nicht aufhören können zu arbeiten“ (S. 62), trifft jedoch einen der Zentralnerven des Bildungsterrors. Das immer größer werdende Heer der Arbeitslosen erhofft sich nämlich von Kursen und Umschulungen nicht nur eine Jobchance, sondern all die Aus- und Weiterbildungen sind für sie oft schlicht eine Existenzberechtigung. Diese wird ja Arbeitslosen – wenn auch unbewusst, so doch umso spürbarer – abgesprochen. Frank Michael Orthey spricht dies an, wenn er von „Routinen“ schreibt, die „Sicherheit geben, Vertrauen vermitteln und die Vorstellung von Legitimität“. (S. 75)

Eine recht kuriose Mischung ist der Sammelband „Massenphänomen Arbeitssucht“, herausgegeben von Holger Heide, Professor für Wirtschaftspädagogik an der Uni Bremen, der im Anschluss an eine Tagung zu diesem Thema entstanden ist. Die Spannweite reicht von brauchbarer Arbeitskritik von Heide über systemimmanente Versuche der Arbeitssucht beizukommen bis hin zu den „Anonymen Arbeitssüchtigen“ nach dem US-amerikanischen Vorbild der „Anonymen Alkoholiker“ mit stark religiösem Einschlag. Der Beitrag von Holger Heide umfasst ebenfalls einen kleinen geschichtlichen Überblick der Durchsetzung der Arbeit. Das Spannendste aber sind die Ausführungen über die Theorie der „Identifikation mit dem Aggressor“, die ursprünglich von Anna Freud und Sandór Ferenczi in den 1930er Jahren entwickelt wurde. Sie bemerkten bei sexuell, körperlich und psychisch misshandelten Kindern eine Identifikation mit ihren Peinigern, weil jene auf Gedeih und Verderb den Unterdrückern ausgeliefert waren und keinerlei Möglichkeiten hatten sich zu wehren. Später wurde diese Theorie zur Erklärung des Verhaltens von Opfern des Dritten Reichs herangezogen. Heide versucht unsere Unterwerfung unter das Diktat Arbeit als kollektive Traumatisierung zu erklären, in der der persönliche Aggressor zu einer „anonymen Macht“ geworden ist, dessen „, Logik‘ für das Opfer überhaupt nicht zu durchschauen ist“, was in weiterer Folge zur „Ausblendung aller Alternativen aus dem Bewusstsein“ führt. (S. 33f. )

Zum wichtigen Thema Arbeitssucht, über das es kaum kritische Literatur gibt, ist Heides Aufsatz in vorliegendem Buch ein bedeutender Beitrag. Was allerdings befremdet, ist der mehrmalige positive Bezug auf „Spiritualität“, ohne sie auch nur weiter zu erläutern. Einmal bringt er „den Verlust der Spiritualität“ mit „der Identifikation mit fremdem Willen“ in Zusammenhang. Ein andermal kritisiert er die fehlende Geborgenheit, in der Kinder aufwachsen, „um sich als Teil eines großen Ganzen dieser Welt fühlen zu können, d. h. um über Empathie Spiritualität zu erfahren, kurz: um leben zu lernen.“ (S. 35) Ja, „Spiritualität“, eines dieser Füllhörner, die mit jedem beliebigen Inhalt befüllt werden können…

Ein gleichzeitig anregendes wie beschauliches Lesebuch ist die Anthologie „Verweilen im Augenblick“, herausgegeben von Gerhard Senft, einem Wiener Universitätsprofessor mit anarchistischem Background. Eine umfangreiche Sammlung historischer und zeitgenössischer Texte aus Wissenschaft und Literatur zum Lob der Faulheit und gegen das Arbeitsethos und den Leistungszwang. Alexandra Kollontai (1872-1952) charakterisiert den „heutigen Menschen“ als einen, „der keine Zeit , zu lieben‘ hat“. „Der Mann fürchtet sich vor den gefährlichen Pfeilen des Eros, vor der großen und wahren Liebesfessel, die ihn von dem , Wichtigen‘ in Leben ablenken könnte.“ (S. 45)

Der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel (1868-1940) schreibt: „Menschen, die nicht faulenzen können, haben Angst vor den eigenen Gedanken. Ich bezeichne diesen Zustand als , horror vacui‘, die Angst vor dem leeren Raume, die Angst vor dem Loch im Tagewerk. (… ) Diese Flucht vor der Faulheit ist eigentlich eine Flucht vor dem eigenen Ich.“ (S. 44) Dieser „horror vacui“ ist heute längst zur kollektiven Pathologie geworden. Jede mögliche Lücke wird sogleich von der Freizeitindustrie, dem Massentourismus oder der Rund-um-die-Uhr-Animation gefüllt. „Verweilen im Augenblick“ eine gute Gelegenheit zur Besinnung zu kommen.

Nicht ganz meine Erwartungen erfüllt hat „Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort“, das neue Buch von Karlheinz Geißler, der von der populärwissenschaftlichen Zeitschrift PM als „Europas bekanntester Zeitforscher“ bezeichnet wird. Geißler beschreibt zwar aktuelle Zeiterscheinungen treffend – mitunter auch solche, die bereits allgemein bekannt sind -, aber Gesellschaftskritik scheint seine Sache nicht zu sein. Ob es das ist, was diesem Buch einen gewissen Touch von Belanglosigkeit gibt? Es hat mich lange nicht so überzeugt wie Geißlers Beitrag im schulheft 116/2004 (siehe oben). Vielleicht aber schreibt Geißler ja das Interessantere für eine kritische Zeitschrift und das „leicht Verdauliche“ und weniger Aussagekräftige für das Mainstream-Publikum.

siehe auch: Ein anregendes Kaleidoskop (L. Glatz)

Die besprochenen Schriften

  • Ludwig Unruh: Hauptsache Arbeit? Zum Verhältnis von Arbeit und menschlicher Emanzipation, Syndikat A Medienvertrieb, Moers 2000, Broschüre 56 Seiten, 4 Euro, nur beim Herausgeber erhältlich: Bismarckstraße 41a, D- 47443 Moers, http://www.syndikat-a.de/
  • Erich Ribolits: Die Arbeit hoch? Berufspädagogische Streitschrift wider die Totalverzweckung des Menschen im Post-Fordismus, Profil Verlag, München-Wien 1995, 325 Seiten; vergriffen, im Netz auf http://www.streifzuege.org/str_autor_ribolits_arbeit-hoch_inhalt.html
  • schulheft 116/2004, Studienverlag Innsbruck-Wien-München-Bozen, 127 Seiten, 9 Euro; ISBN: 3-7065-1993-3, http://www.schulheft.at/
  • Holger Heide (Hg. ): Massenphänomen Arbeitssucht. Historische Hintergründe und aktuelle Entwicklung einer neuen Volkskrankheit, Atlantik Verlag, Bremen 2002, 302 Seiten, 15 Euro (D).
  • Gerhard Senft (Hg. ): Verweilen im Augenblick. Texte zum Lob der Faulheit, gegen Arbeitsethos und Leistungszwang, Löcker Verlag, Wien 1995, 310 Seiten, 22 Euro (D).
  • Karlheinz A. Geißler: Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort. Unsere Suche nach dem pausenlosen Glück, Herder Verlag, Freiburg-Basel-Wien 2004, 220 Seiten, 19.90 Euro (D).
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