Grundrisse, Nummer 48
Dezember
2013

Führung, Masse, wir und die?

Edukationismus – ein Problem linker Politik*

Zur Geschichte der Linken gehört auch die schreckliche Entwicklung der russischen Revolution zur stalinistischen Herrschaft und die Stalinisierung der kommunistischen Parteien in vielen anderen Ländern. Theorie wurde zum Dogma, politische Bildung eine Erziehung von oben und eigenständiges Denken bestraft. Das Scheitern der Linken, das in dieser Entwicklung zum Ausdruck kommt, hat seine Vorgeschichte auch innerhalb dieser Linken und ist nicht einfach nur durch die ökonomische Rückständigkeit Russlands und die Angriffe auf die Revolution von außen zu erklären. Das heißt nicht, dass die Arbeiterbewegung aufgrund ihrer Tradition zwingend den Stalinismus hervorbringen musste, jedoch, dass letzterer durch ein bestimmtes Verständnis dessen, wie die sozialdemokratische Bewegung geführt werden sollte, schon begünstigt wurde.

Lenin, Kautsky und die Avantgarde

Exemplarisch können dafür zunächst einige Gedanken Lenins stehen. Die Bedingungen der Konspiration und ständiger Verfolgung, unter denen der Aufbau einer revolutionären Partei im zaristischen Russland stattfand, waren sicherlich ein wichtiges Moment, das zu Lenins Vision einer straff zentralisierten Partei und einer strengen Disziplin aller „[…] Räder und Rädchen der Parteimaschine“ (Lenin 1902 a: 241) führte. Wie er selbst in seiner Schrift Was tun? ausführt, ist die Vorstellung einer demokratischen Partei unter den Bedingungen der Geheimorganisation weltfremde Utopie (vgl. Lenin 1902 b: 495). Auch wenn er seine Schrift im Laufe seines Lebens relativiert, bleibt der stark hierarchische und autoritäre Anspruch an eine Organisation auch beim späten Lenin erhalten (vgl. Wallat 2012: 17 – 43). [1] Von Kautsky übernimmt er dabei die damals weit verbreitete Ansicht, dass dem Proletariat das revolutionäre politische Denken von außen angetragen werden müsse (vgl. Lenin 1902 b: 394,f.). Nach Kautsky kann sozialistisches Bewusstsein nur durch wissenschaftliche Einsicht entstehen, der Träger dieser Wissenschaft sei nun aber die ‚bürgerliche Intelligenz‘ (vgl. Kautsky [2]). Sozialistisches Denken kommt dem Proletariat also durch einen Teil dieser ‚bürgerlichen Intelligenz‘ von außen zu. Im Unterschied zu Kautsky versteht sich Lenin wohl kaum als Teil der bürgerlichen Intelligenz. Kautsky macht damit jedoch die Problematik einer abgesonderten Avantgarde aus Intellektuellen wie deren soziale Herkunft deutlich. Lenin betont zwar die Notwendigkeit eines engen Verhältnisses zwischen ArbeiterInnen und Intellektuellen (vgl. Lenin 1902: 229), gleichzeitig aber auch eine eindimensionale Arbeitsteilung zwischen Führenden und Geführten, denn die „[…] Bewegung leiten muß eine möglichst kleine Anzahl möglichst gleichartiger Gruppen erfahrener und erprobter Berufsrevolutionäre“ (ebenda: 240). Sowohl Kautsky als auch Lenin denken das Verhältnis von Führung und Masse im Sinne einer Avantgarde, die die ArbeiterInnen intellektuell formt. Politische Praxis und Bildung wird hier von einem isolierten Zentrum aus gedacht, das die Menschen von außen zu einem politischen Subjekt macht. [3] Die einseitige politisch-pädagogische Beziehung ist, was edukationistische politische Praxis – wie unten näher beschrieben – ausmacht.

Edukationismus und Herrschaft

Konrad Birkmann und Michael Winkler beschreiben Edukationismus im Anschluss an Haug als eine ‚permanente Aufklärung von oben‘ (vgl. HKWM 1997). [4] Politik wird pädagogisch gedacht, jedoch nicht als Kooperation, sondern als eine einseitige erzieherische Wirkung desjenigen, der sich von der Masse absondernd als Lehrender begreift, auf seine SchülerInnen. Auch die häufige Betonung, dass die Befreiung der Arbeitenden nur das Werk der Arbeitenden selbst sein kann, bedeutete oftmals keine Verabschiedung vom Edukationismus, insofern dahinter die Auffassung stand, dass die Arbeitenden erst durch eine Avantgarde zum politischen Subjekt herangezogen werden. Die Rede vom objektiven Klasseninteresse, wie sie im traditionellen Marxismus üblich war bzw. manchmal auch noch ist, drückt eine solche Sichtweise aus, in der die Avantgarde schon den objektiv richtigen Weg des zu konstituierenden politischen Subjektes vorgezeichnet hat. Implizit wird das politische Subjekt in diesem Denken „[…] auf eine Elite verschoben und […] deren Herrschaft verfestigt, die nicht mehr politisch zur Disposition steht“ (ebenda). Edukationismus ergibt sich folglich aus der eindimensionalen politisch-pädagogisch Praxis, in der eine Gruppe auf eine andere wirkt und erstere das eigentliche Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung darstellt. Etabliert sich diese edukationistische Beziehung als gesamtgesellschaftliche Struktur – ähnlich Platons Philosophenstaat – bildet sie ein wesentliches Element von Herrschaft. Die Avantgarde richtet nun die Gesellschaft im Sinne des objektiven Interesses ihrer Mitglieder ein. Der Edukationismus Lenin’scher Prägung ist in dieser Hinsicht auch die Verbindung der bolschewistischen revolutionären Praxis mit der sich – sicherlich auch aus vielen weiteren Gründen – später durchsetzenden Stalinisierung der ganzen Gesellschaft.

Auch Marx setzte sich mit der Problematik des Edukationismus auseinander. In seiner Kritik des Gothaer Programms heißt es gegenüber dem ’Lassalleschen Untertanenglauben’: „Ganz verwerflich ist eine ‚Volkserziehung durch den Staat‘. […] Im preußisch-deutschen Reich nun gar […] bedarf umgekehrt der Staat einer sehr rauhen Erziehung durch das Volk“ (Marx 1875: 30,f.). In seinen als Thesen über Feuerbach bekannten Notizen kritisiert er, dass die Feuerbach’sche Lehre von der Erziehung „[…] die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist –[…]“ teilt (Marx 1845: 5, f.). Dagegen betont Marx, dass in der ‚revolutionären Praxis‘ die Veränderung der Umstände mit der Selbstveränderung zusammenfallen müsse (vgl. ebenda). Gleichzeitig sind in einer solchen ‚revolutionären Praxis‘ ganz unterschiedliche Akteure tätig, die ganz verschiedene Rollen einnehmen.

Exkurs: Edukationismus in der heutigen Linken

Innerhalb der heutigen Linken finden sich unterschiedliche Formen des Edukationismus. Dies liegt nicht zuletzt auch an der Art und Weise, wie die bürgerliche Gesellschaft das Politische aus dem Alltag der Menschen ausschließt und es in parlamentarische, repräsentative und juristische Formen packt. Hierin liegt eine wesentliche Problematik von Parteien und Gewerkschaftsapparaten, insofern sie drohen, aus Politik Repräsentation und individualisierte Wahl und aus Arbeitskämpfen Klüngelei zu machen (vgl. Kalmring 2012: 197 - 202). So entsteht in großen Organisationen notwendigerweise ein bürokratischer Apparat, der hinsichtlich der Gewerkschaften dazu geführt hat, dass Arbeitskämpfe in der Regel nur unter strenger Vorgabe der Gewerkschaftsleitung ablaufen. Masse wird auch hier abgetrennt von einer im Apparat sitzenden Führungsschicht, die letzten Endes die Zügel stets in der Hand behalten will. Wie Luxemburg schon zu ihrer Zeit schrieb, werden die Menschen so „[…] zur urteilsunfähigen Masse degradiert, der hauptsächlich die Tugend der ‚Disziplin‘, d.h. des passiven Gehorsams, zur Pflicht gemacht wird“ (Luxemburg 1906: 165). Insofern kann auch hier von einem Edukationismus von oben gesprochen werden.

Neben einigen abgehobenen Theoriezirkeln oder sich als trotzkistisch oder leninistisch verstehenden Kadergruppen, deren edukationistische Praxis relativ offensichtlich ist, [5] stehen Obigem Teile der Linken entgegen, die im Sinne der Antiautoritären um 1968 oder den in den 80er Jahren entstehenden Autonomen eine andere Tendenz einschlagen. Gewerkschaften und Parteien werden in linksradikaler Manier oftmals rein als angepasste und systemintegrative Organisationen gesehen. Im Anschluss daran wird versucht, eine strikt außerinstitutionelle Politik zu machen. Als kennzeichnend für ein solches Denken soll folgendes Zitat von Herbert Marcuse stehen:

So drohen in einer repressiven Gesellschaft selbst fortschrittliche Bewegungen in dem Maße in ihr Gegenteil umzuschlagen, wie sie die Spielregeln hinnehmen. Um einen höchst kontroversen Fall anzuführen: die Ausübung politischer Rechte (wie das der Wahl, das Schreiben von Briefen an die Presse, an Senatoren usw., Protestdemonstrationen, die von vornherein auf Gegengewalt verzichten) in einer Gesellschaft totaler Verwaltung dient dazu, diese Verwaltung zu stärken, indem sie das Vorhandensein demokratischer Freiheiten bezeugt, die in Wirklichkeit jedoch längst ihren Inhalt geändert und ihre Wirksamkeit verloren haben. (Marcuse 1965: 95)

Marcuse wendet diesen Befund einige Zeilen weiter, indem er sagt: „Und doch […] bleiben das Vorhandensein und die Ausübung dieser Freiheiten eine Vorbedingung für das Wiederherstellen ihrer ursprünglichen oppositionellen Funktion […]“ (ebd.: 95f.). Insofern unterscheidet sich Marcuse sicherlich von Teilen der Linken, die – im Sinne einer spezifischen Auffassung linksradikaler Politik – diese Wendung nicht mitgehen. Für sie gibt es kein zurück zu einem Kampf innerhalb dieser ’Freiheiten’ und Spielregeln. Daraus folgt dann entweder eine Szene- und Nischenpolitik, die sich vom Anspruch, die Gesellschaft zu verändern, gänzlich verabschiedet hat, oder aber – wenn dies nicht der Fall ist – Versuche der Intervention von außen. [6] Letztere können vielfältiger Natur sein. Sie können in Anti-AKW-Protesten bestehen, Antifa-Aktionen oder dem Versuch eines Aushöhlen des Systems durch kulturelle Subversion (vgl. FelS 2011: 7). [7] Eine derartige Position schottet sich ab gegenüber den Menschen und deren Alltagskämpfen um verbesserte Lebensumstände, weil sie deren Spielregeln nicht reproduzieren will. Andererseits versucht eine solche linksradikale Praxis, diese Spielregeln – die Verwaltung, staatliche Politik, dominante Kultur etc. – aus ihrer Szene heraus durch die angesprochenen Interventionen von außen zu verändern. Damit gibt sie die inneren Widersprüche und Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenen Bereiche der Gesellschaft auf und betreibt ihre Politik in einem einseitigen pädagogischen Verhältnis, indem sie statt breiten gesellschaftlichen Akteuren isolierte ‚revolutionäre Bewusstseinsgruppen‘ zum politischen Subjekt erklärt (vgl. Kalmring 2012: 204, f.). Damit will ich nicht linksradikale Politik als ganze als edukationisitisch verurteilen. Statt dessen möchte ich zeigen, dass auch antiinstitutionelle Politik – trotz ihres antiautoritären Anspruchs – zu einem eindimensionalen politisch-pädagogischen Verhältnis einer isolierten Gruppe in Bezug auf die ‚repressive Gesellschaft‘ führen kann. Insofern kann man diese Art der Politik als einen Edukationismus von außen bezeichnen. Mit diesem Beispiel einer spezifischen linksradikalen Politik sollte gezeigt werden, dass Edukationismus nicht notwendigerweise ein institutionalisiertes autoritäres Verhältnis von oben bedeuten muss. Vielmehr kann er sich gerade in Abwesenheit von Institutionalisierung aus der Gestalt isolierter politischer Organisierung bei gleichzeitigem Anspruch, immer wieder in die Gesellschaft zu intervenieren, ergeben. Am Ende steht die Frage, wie eine Linke trotz dieser Gefahren noch politische Aktivität entfalten kann, denn Politik bedeutet immer ein pädagogisches Verhältnis.

Rosa Luxemburg und die politische Tat

In ihrem historischen Kontext stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Führung und Basis für Luxemburg als die Frage nach der Art und Weise der Arbeit der sozialdemokratischen Partei in der breiten lohnabhängigen Bevölkerung. Auch wenn Luxemburg oft von Agitation und Aufklärung als Aufgabe der Sozialdemokratie spricht, bildet sich für sie politisches Bewusstsein doch vorwiegend in der politischen Praxis heraus (vgl. Luxemburg 1906: 112, f.). Gegen Ende ihres Lebens betont sie, entgegen dem in der Sozialdemokratie zunehmend verbreiteten bürokratischen Denken, dass die Massen geschult werden, „[…] indem sie zur Tat greifen“ (Luxemburg 1918/19: 512). Damit will sie nicht sagen, dass Theoriearbeit und Schulung unnötig wären, doch dass diese im Zusammenhang mit der eigenständigen Initiative der Massen stehen müssen. Sie wehrt sich gegen die „[…] Kautskysche Theorie des starren Gegensatzes zwischen der organisierten Vorhut und der übrigen Masse des Proletariats […]“ (Luxemburg 1912/13: 309). Auch betont sie die kollektiven Lernprozesse, die das Proletariat nur in eigenständiger politischer Aktivität erlangen kann und durch die die Arbeiterklasse aus einer ökonomischen Kategorie erst zum politischen Subjekt wird (vgl. Luxemburg 1904/05: 486). Daher muss sich – für Luxemburg – die Einheitlichkeit und der Zentralismus der sozialdemokratischen Bewegung auch von unten her entwickeln. Letzterer kann insofern auch nichts anderes als die „[…] Zusammenfassung des Willens der aufgeklärten und kämpfenden Vorhut der Arbeiterschaft ihren einzelnen Gruppen und Individuen gegenüber sein, es ist dies sozusagen ein ‚Selbstzentralismus‘ der führenden Schicht des Proletariats […]“ (vgl. Luxemburg 1903/04: 429). Das bedeutet einerseits, dass „[…] die sozialdemokratische Zentralisation nicht auf blindem Gehorsam, nicht auf der mechanischen Unterordnung der Parteikämpfer unter ihre Zentralgewalt basieren kann und daß andererseits zwischen dem bereits in feste Parteikader organisierten Kern des klassenbewußten Proletariats und der vom Klassenkampf bereits ergriffenen, im Prozeß der Klassenaufklärung befindlichen umliegenden Schicht nie eine absolute Scheidewand aufgerichtet werden kann“ (ebenda). Nach Luxemburg darf die sozialdemokratische Bewegung daher auch nie als eine Bewegung einer Minderheit, sondern muss immer als Bewegung der Lohnabhängigen selbst gesehen werden. Die Führung entwächst im Prozess der politischen Aktivität der Basis und besteht aus einem Teil der ArbeiterInnen selbst. Daher besteht das Wesen der sozialdemokratischen Bewegung auch darin, dass „die proletarische Masse keine ‚Führer‘ im bürgerlichen Sinne braucht, daß sie sich selbst Führer ist“ (Luxemburg 1911: 42). Die freie Initiative der Massen muss daher von der Sozialdemokratie unterstützt und befördert und darf niemals gehemmt oder gemaßregelt werden. Insofern sich Luxemburg für eine Politik einsetzt, in der die Führung nicht isoliert existiert und die Massen lenkt, sondern die Sozialdemokratie aus der freien Initiative der Massen stetig entstehen muss, von dieser nicht getrennt sein darf und sich somit in einem ständigen organischen Verhältnis mit ihrem Umfeld befindet, entwirft sie einen nicht-edukationistische Politikansatz.

Die von Luxemburg so betonte Initiative der Massen mag heute anachronistisch anmuten. Sie bleibt jedoch Voraussetzung für ihre Vorstellung der sozialdemokratischen Politik. Bedingungen, unter denen breite Teile der Bevölkerung als selbstbewusstes politisches Subjekt auf die Bühne der Politik treten und dem Parlament die Definitionsmacht über die enge Form ‚des Politischen‘ und ‚des Möglichen‘ nehmen, stehen – trotz Protesten gegen die neoliberale Sparpolitik – in den meisten europäischen Ländern heute nicht auf der Tagesordnung. Die heutige Situation entbehrt also der Möglichkeit für die Linke, sich – nach dem Vorbild Luxemburgs – aus der eigenständigen Initiative der Massen heraus zu entwickeln. Zu schnell wird die Mehrheit der Bevölkerung als völlig unaufgeschlossen gegenüber emanzipatorischer Politik gedacht, als politisches Subjekt überhaupt verworfen und schließlich wieder zu einer aufklärerischen Manier der Rede über die verblendeten Massen zurückgegangen. Eine Trennung in die systemtragenden Massen einerseits und systemkritische linke Grüppchen andererseits wäre dann die Folge. Im Widerspruch zwischen „[…] Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung […]“ (Luxemburg 1903/04: 442) hätte man sich zugunsten der Sekte entschieden. Dagegen möchte ich im Folgenden mit Antonio Gramsci versuchen, die Menschen in ihrem Alltag, in der Arbeit etc. als politische Akteure, als Intellektuelle und Philosophen zu begreifen.

Antonio Gramsci: Philosophie und Praxis

Für Gramsci ist der Mensch immer „[…] Konformist irgendeines Konformismus, man ist immer Masse-Mensch oder Kollektivmensch“ (Gramsci: H11, §12: 1376). [8] Besser gesagt, wir sind stets KonformistInnen einer Vielzahl von Konformismen und TeilnehmerInnen vieler Kollektive. Philosophien und Ideologien verschiedenster Art durchdringen unser Bewusstsein. Insofern betont Gramsci auch, dass alle Menschen PhilosophInnen sind (vgl. ebenda: 1375). Das Denken der meisten Menschen ist aufgrund gesellschaftlicher Widersprüche in irgendeiner Hinsicht oppositionell. Gleichzeitig bleibt aber auch oppositionelles Denken in sich widersprüchlich. Es kann alten Mythen und wirren Erklärungsmustern folgen. Ziel politischer Akteure muss immer die Arbeit an diesen Widersprüchen im Alltagsverstand sein. Dabei wird versucht, diesen in eine bestimmte Richtung kohärent zu machen, eine bestimmte Philosophie zu vergesellschaften (vgl. ebenda: 1376, f.). Das bedeutet nicht, die Menschen von außen zu belehren, sondern daran teilzuhaben, dass die Menschen ihre eigene Stellung in der Gesellschaft interpretieren, dass sie beginnen, „[…] die eigene Weltauffassung bewußt und kritisch auszuarbeiten und folglich, im Zusammenhang mit dieser Anstrengung des eigenen Gehirns, die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein […]“ (ebenda: 1375). Das selbständige Denken findet jedoch nie isoliert statt, sondern stets im Kontext. In diesem Kontext zu arbeiten, ist folglich Aufgabe der Linken. Gramsci macht so den Einzelnen zum bewussten Subjekt einer neuen Philosophie. Er macht die Menschen, die in einer edukationistischen Manier als die zu Belehrenden behandelt werden, zu AutorInnen ihrer Weltanschauung, ohne dabei den wichtigen Einfluss des Denkens anderer zu vernachlässigen. Insofern kann er sagen: „Alle Menschen sind Intellektuelle“ (H12, §1: 1500). Gleichzeitig darf die Vergesellschaftung einer Philosophie keine eindimensionale Überzeugungsarbeit von einer Weltanschauung sein, vielmehr ist hier von einer politischen Kultur die Rede, in der „[…] jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer ist“ (H10 II, §44: 1335).

Das bedeutet jedoch weder, dass Politik nur eine Frage der Überzeugung ist, noch, dass es in der Politik keine Arbeitsteilung gibt. Es sind zwar für Gramsci einerseits alle Menschen Intellektuelle, aber nicht alle Menschen nehmen die Funktion von Intellektuellen ein (vgl. ebenda). Diese haben Menschen dann inne, wenn sie organisierend wirken, die Verbreitung einer Weltanschauung befördern, ‚dauerhaft Überzeugende‘ sind (vgl. H12, §3: 1531, f.). Diese Intellektuellen in ihren verschiedensten Abstufungen müssen für Gramsci stets organisch mit der gesellschaftlichen Klasse verbunden sein (vgl. H12, §1: 1497, 1502). Eine Abtrennung einer intellektuellen Elite von der Basis wäre das Ende einer gesellschaftlichen Bewegung. Diese Einheit bildet eine Kultur, die, wie gesagt, keine einseitig erzieherische, sondern eine wechselseitige ist. Diese neue Kultur ist mitnichten eine allein geistige, sondern beinhaltet auch ein ‚neues moralisches Leben‘, neuen Sinn im Leben, eine ‚neue kulturelle Welt‘ in ‚menschlicher Leidenschaft und Wärme‘ (vgl. H23, §6: 2111). Dies darf aber nicht zu einem oberflächlichen äußerlichen Kult und einer Ausgrenzung anderer Lebensstile – als zum Beispiel bürgerlich – verkommen, was eine Bewegung isolieren würde und autoritär werden ließe. Vielmehr darf eine neue Kultur nicht von außen entstehen, „[…] sondern von innen, weil sich der ganze Mensch ändert, insofern sich seine Gefühle, seine Auffassungen und die Verhältnisse ändern, deren notwendiger Ausdruck der Mensch ist“ (H21, §1: 2037). So bildet eine politische Bewegung eine ‚kulturelle Front‘ (H10 I, §7: 1239) und in diesen alternativen kulturellen Räumen eine Einheit von Philosophie, Politik und Leben. Diese kulturelle Front wird nicht an die Menschen herangetragen, sondern entwickelt sich aus den vielfältigen politischen Auseinandersetzungen.

Bedingungen für die Auflösung des Widerspruchs zwischen Politik und Pädagogik

Dem Edukationismus zu entgehen, Politik nicht als Aufklärung von außen oder von oben zu begreifen, darf nicht dazu führen, Politik auf die individualistische Arbeit an sich selbst zu beschränken und sich ins Private zurückzuziehen. Andererseits ist Politik und die Auseinandersetzungen um Hegemonie immer auch pädagogisch, da sie auf das Denken der verschiedenen Subjekte wirken. Politik und Pädagogik bleiben stets ineinander verwoben (vgl. HKWM 1997). Um in diesem pädagogischen Verhältnis die beiden Seiten nicht – wie bei Lenin – in Lehrende und zu Belehrende zu trennen, muss die breite Bevölkerung als politisch tätiges Subjekt in eigener Initiative respektiert werden. Jeder Mensch entfaltet – laut Gramsci – „[…] außerhalb seines Berufs irgendeine intellektuelle Tätigkeit, ist also ein ‚Philosoph‘, ein Künstler, ein Mensch mit Geschmack, hat Teil an einer Weltauffassung, hält sich an eine bewußte moralische Richtschnur, trägt folglich dazu bei, eine Weltauffassung zu stützen oder zu verändern, das heißt, neue Denkweisen hervorzurufen“ (H12, §2: 1531). Insofern agiert jeder Mensch, da er an der Gesellschaft teilnimmt, politisch. Die Widersprüche vielseitiger Herrschaftsverhältnisse durchziehen dabei unser Denken, wodurch die meisten Menschen in irgendeiner Weise oppositionell sind. Diese Widersprüche sind entscheidend für linke Praxis. Andererseits ist politisches Wissen wesentlich ein Begreifen des eigenen Lebens in den eigenen Lebensverhältnissen. Dieses Begreifen findet im Alltag, in der Kultur, auf der Arbeit etc. immer schon statt, ist also kein Monopol, sondern allgemeine Lebenspraxis. Als dieses Begreifen des eigenen Lebens setzt es keine spezielle Ausbildung voraus, wie zum Beispiel die Fähigkeit einen Softwarefehler zu beheben, sondern beginnt mit dem Leben selbst. Emanzipation ist an diese Lernprozesse gebunden, sollen die Menschen selbst ihre eigenen Lebensverhältnisse verwalten. Dies ist kein absurder Gedanke. Menschen kennen ihr eigenes Lebensumfeld in der Regel am besten und eine emanzipatorische Perspektive muss daran anknüpfend versuchen, diese Bereiche zu demokratisieren. Politisches Bewusstsein kann nicht als Monopol einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe gedacht werden. Eigenständige politische Initiative wird eine notwendig treibende Kraft der Bewegung. Wenn Luxemburg Recht hat und die Menschen vor allem in eigener gesellschaftlicher Aktivität ein Bewusstsein ihrer Rolle im Ganzen erlangen und sich als politisches Subjekt konstituieren, dann müssen sie sich ihre ‚Philosophie der Praxis‘ (Gramsci) selbst aneignen. Das heißt nicht, dass Theorie auf hohem Niveau verzichtbar wäre. Offene kritische theoretische Arbeit bei gleichzeitig verständlichen und plausiblen Erläuterungen aktueller Probleme, das Ausarbeiten einer ‚Philosophie der Praxis‘, ist unerlässlich. Die politische Organisierung, die obigem Anspruch gerecht werden will, zielt nicht darauf, von einem Zentrum aus eine politische Einheitlichkeit zu erzeugen, sondern ist ‚Zentralisation als Tendenz‘ (vgl. Luxemburg 1903/04: 431). Sie versucht, mit einer Philosophie und Kultur der eigenständigen Praxis kohärentes Bewusstsein und eigenständige Initiative von unten zu fördern. Schließlich würde sie sich an Luxemburgs Diktum orientieren:

Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten ‚Zentralkomitees‘.

(Luxemburg 1903/04: 444)

*) Mit Dank an Fabian Brettel für die Anregungen und Kritik.

Literatur

  • FelS 2011: Heinz Schenk Debatte.Texte zur Kritik an den Autonomen – Organisationsdebatte – Gründung der Gruppe ‚Für eine linke Strömung‘. Zu finden unter: http://fels.nadir.org/de/ heinz-schenk (Zugriff: 11.09.2013).
  • Gramsci, Antonio 1929 – 1935: Gefängnishefte. In: Bochmann, Klaus/Haug, Fritz Wolfgang et al. 1991, ff.: Antonio Gramsci. Gefängnishefte. Kritische Ausgabe. Band 1 – 10. Argument Verlag. Hamburg.
  • HKWM 1997: Stichwort: Edukationismus. In: Haug, Wolfgang Fritz: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 3. Argument Verlag. Hamburg.
  • Kalmring, Stefan 2012: Die Lust zur Kritik. Ein Plädoyer für utopisches Denken. Dietz Verlag Berlin.
  • Lenin, W. I. 1902 a: Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben. In: Lenin Werke. Band 6. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. 1959. Dietz Verlag. Berlin. 2. Aufl. S. 223 – 244.
  • ders. 1902 b: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung. In: Lenin Werke. Band 5. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. 1959. Dietz Verlag. Berlin. 2. Aufl. S. 355 – 580.
  • ders. 1917: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. In: Lenin Werke. Band 25. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. 1960. Dietz Verlag. Berlin. 1. Aufl. S. 393 – 507.
  • Marcuse, Herbert 1965: Repressive Toleranz. In: Wolff, Robert Paul/Moore, Barrington/Marcuse Herbert 1966: Kritik der reinen Toleranz. Suhrkamp. Frankfurt am Main. S. 91 – 128.
  • Marx, Karl 1845: Thesen über Feuerbach. In: Marx Engels Werke. Band 3. 1969. Dietz Verlag Berlin. S. 5 – 7.
  • Marx, Karl 1875: Kritik des Gothaer Programms. In: Marx Engels Werke. Band 19. 1969. Dietz Verlag Berlin. S. 11 – 32.
  • Luxemburg, Rosa 1903/04: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Dietz, Berlin 1970–1975. Band 1/2. S. 422 – 444.
  • dies. 1904/05: Nach dem ersten Akt. In: siehe oben. Band 1/2. S. 485 – 490.
  • dies. 1906: Massenstreik, Partei und Gewerkschaft. In: siehe oben. Band 2 S. 91 – 170.
  • dies. 1911: Wieder Masse und Führer. In: siehe oben. Band 3. S. 37 – 42.
  • dies. 1912/13: Das Offiziösentum der Theorie. In: siehe oben. Band 3. S. 300 – 321.
  • dies. 1918/19: Gründungsparteitag der KPD 1918/19. In: siehe oben. Band 4. S. 481 – 513.
  • Wallat, Hendrik 2012: Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik. Edition Assemblage. Münster.

[1In seiner 1917 ausgearbeiteten Schrift Staat und Revolution heißt es zum Beispiel: „Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie.“ (Lenin 1917: 416, f. – Hervorh. im Original)

[2Kautsky hier zitiert nach Lenin 1902 b: 395.

[3Laut Hendrik Wallat wendet sich selbst der frühe Trotzki gegen die leninistischen, am Jakobinismus orientierten Prinzipien, da sie „[…] das Ziel: die Schaffung eines selbstständigen und selbstbewussten Proletariats als Voraussetzung der Selbstbefreiung konterkarieren“ (Wallat 2012: 68).

[4Hier beziehe ich mich auf den sehr lesenswerten kurzen Artikel zu Edukationismus in Band 3 des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM).

[5Erstere insofern sie in den meisten Menschen verblendete oder im Fetisch befangene, reibungslos funktionierende Subjekte sehen, die über ihre Situation aufzuklären sind. Letztere insofern sie einem klassischen Avantgarde-Ansatz anhängen.

[6Die Heinz Schenk Debatte, die in Westdeutschland Anfang der 90er Jahre geführt wurde (vgl. FelS 2011), macht den Konflikt zwischen Nischenpolitik und dem Anspruch der Gesellschaftsveränderung besonders gut deutlich.

[7Selbst wenn die politische Praxis in der Gründung einer Kommune besteht, bleibt oftmals die Hoffnung einer Zurückwirkung auf die Gesellschaft, als sie die Möglichkeit einer für besser gehaltenen Lebensweise aufzeigen und ein prägendes Beispiel geben will.

[8Im folgenden werden Gramscis Gefängnishefte 1929 – 1935 stets in der Form Heftnummer, Paragraph: Seitenzahl nach der von Klaus Bochmann et al. im Argumentverlag herausgegebenen kritische Gesamtausgabe der Gefängnishefte zitiert (vgl. Literaturverzeichnis).

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