FORVM, No. 255
März
1975

Gefährlicher Sozialismus

Über die sokratische Existenz der jugoslawischen Intellektuellen

Auszüge aus der Ansprache des bekannten jugoslawischen Schriftstellers Dobrica Cosić (Partisanenroman „Fern ist die Sonne“) auf dem Symposium der Serbischen Philosophischen Gesellschaft in Divčibara am 9. Februar 1974, veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift Praxis (Nummer 3-5/Mai-Oktober 1974, S. 515 ff).

„Ganz gleich, in wessen Händen die Macht ist — es ist mein menschliches Recht, ihr gegenüber eine kritische Haltung einzunehmen.“ So sprach Maxim Gorki 1917, und hieran glaubte dieser bedeutende und einflußreiche Künder seiner Zeit leidenschaftlich. Aus den uneigennützigsten Gründen blieb er diesem Glauben nicht teu.

Denn „im Namen höherer Ziele und einer glücklichen Zukunft“ duldet die Macht bei ihren Gläubigen nicht den leisesten Zweifel und auch keine individuelle Verschiedenheit ihrer Jünger. Hart und unerbittlich fordert die Macht, daß der Schriftsteller im Sozialismus jede „reine Wahrheit“ den „höheren Zielen“ unterordnet. Der Ruhm eines Vorkämpfers des sozialistischen Realismus lohnte Maxim Gorki für seine Parteilichkeit. Ich weiß nicht, ob noch ein zweites Schicksal in unserer Epoche den Intellektuellen eine so gute Lehre sein kann wie jenes Maxim Gorkis.

Vom Beginn der europäischen Geschichte bis zum heutigen Tag bekämpft die Macht mit Hilfe ihrer Attribute — Ideologie, Politik, Gewalt — erbittert das schöpferische Wesen der Menschen, dieser „Materie, die denkt“.

Seit Menschengedenken wird die Welt von geistigen Nihilisten beherrscht; das sind sie, auch wenn sie sich zuweilen als Mäzene geben: Von der Sintflut an, als der resignierende Gottvater feststellte, daß „des Menschen Gedanken von Anbeginn an böse war“, wie es im Alten Testament heißt, bis zu Stalin, vom ersten König bis zu den bürgerlichen und den sozialistischen Machthabern war des Menschen Gedanke für die Mächtigen stets böse und gefährlich.

Das ist er ja auch, und nicht nur für die Mächtigen. Die tragischen Paradoxa in der Welt nehmen kein Ende; die Geschichte des Opferganges jener, deren Wahrheiten den Mächtigen unangenehm sind, wurde von keiner der bisherigen sozialen Revolutionen beendet. In der europäischen Kultur war dem Denken, dem Gewissen vom Urbeginn an der Schierlingsbecher bestimmt. Es ist die ewig gleiche Tragödie des Geistes und seiner Protagonisten von Sokrates bis Russell, von Dante bis Thomas Mann und Majakowski, von Galilei bis Oppenheimer und Sacharow, in unserem Land von Vuk Karadžić bis zu den „moralisch und politisch nicht geeigneten“ Professoren der Belgrader Universität ... Doch noch keine Niederlage des Menschen hat ihn für immer bekehrt, und das ist kein Zufall. Der Baum der Erkenntnis läßt sich nicht fällen. Sogar angesichts der Gewißheit des Paradieses und der Ungewißheit der Freiheit wird es immer Menschen wie Adam geben, die um jeden Preis die Freiheit wählen und sich ungeachtet der Opfer für das Schöpfertum entscheiden.

Für die Schöpfer kultureller Werte ist die revolutionäre Utopie nichts Unwirkliches. Heute ist die revolutionäre Utopie das geistige und moralische Niveau, durch welches wir uns von Grund auf von jenen unterscheiden, welche die Welt, wie sie ist, akzeptieren. Utopie ist gleichbedeutend mit von höherem Sinn erfüllter Existenz, gleichbedeutend mit Nein zum Tod.

Das: klassische Dilemma — Schöpfertum oder Nihilismus, Egoismus oder Bekenntnis zum Menschen und zum Volk, Gewissen oder Unmoral im Öffentlichen Leben, persönliche Würde oder Untertanengeist, Handeln oder Gleichgültigkeit — hat in unseren Tagen schicksalhafte Bedeutung und tragische Folgen. Unter unseren Bedingungen ein Intellektueller zu sein und für die Kultur, für die Zukunft zu wirken, heißt auch ein Revolutionär zu sein. Bei uns sozialistisch und in Harmonie mit dem eigenen Gewissen zu schaffen, heißt wahrlich „gefährlich“ schaffen.

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