FORVM, WWW-Ausgabe
April
2019
Von besonderer Seite

Gegenrede

Dummheit ist lernbar, Jürg Jegges dunkle Seite, Ist Dummheit lernbar?

Die Fußnoten stammen von der Redaktion,
der Name und Adresse des Verfassers bekannt sind.

Nach ca. 50 Jahren habe ich begriffen: Dummheit ist wirklich lernbar! Denn als ich das Buch „Ist Dummheit lernbar?“, herausgegeben von Damian Miller und Jürgen Oelkers, beides Pädagogikprofessoren, gelesen hatte, sagte ich mir: „So ein dummes Buch habe ich wirklich noch nie gelesen“. Ich habe in meinem Leben schon einiges gelesen, aber so etwas Dummes kam mir noch nie in die Finger. [1]

Warum schreibe ich über das Buch „Ist Dummheit lernbar“?

Ich war auch ein Schüler von Jürg Jegge, nein, kein Jegge-Jünger, sondern ein ganz normaler Sonderschüler, obgleich ein Sonderschüler aus Sicht der Gesellschaft eben sonderbar ist. Ich „durch­lief“ die ganze Jegge-Philosophie von der Sonderschule in Embrach bis zur Kleingruppenschule in Lufingen, einschliesslich der sexuellen Erfahrungen. Doch die „Lektüre“ von „Ist Dummheit lernbar?“ löste in mir zunehmen­des Befremden aus. Meine Erlebnisse waren in einem Masse gegenteilig, dass ich mich fragte, ob Markus Zangger in vielen Dingen übertrieb, diese selber erfand oder gar log? Hatte man ihn bei Befragungen gar genötigt zu übertreiben, damit sein Buch, „Jürg Jegges dunkle Seite“, überhaupt erscheinen konnte? Ich fand es schlecht recherchiert (schlechte Arbeit) und nur auf seine Angaben abgestützt.

Ich möchte in mehreren Punkten aufzeigen, wie und was ich erlebte und was insbesondere interessiert: wie die sogenannten sexuellen Übergriffe stattfanden.

Nach einiger Zeit in Jegges Sonderschule wurde ich von ihm angefragt, ob ich ein­verstanden wäre, eine aussergewöhnliche Therapie zu machen und wie diese aus­sehen würde. Ich mochte Jürg Jegge sehr und hatte grosses Vertrauen in ihn (auch heute noch!). Also begannen wir eines Tages mit der „Therapie“. Ich war sehr ge­hemmt, was verständlich war, er fragte mich aber immer zuerst, ob ich mitmachen wolle. Ganz klar war, er war mein Lehrer, dadurch stellte er auch eine Machtperson dar. Habe ich mitgemacht, um ihm zu gefallen, oder brachte mir das wirklich etwas?

Nach über 40 Jahren kann ich das sehr gut beurteilen:

Mein Geschlechtsteil ist immer noch am selben Ort, ich wurde nicht schwul, ich bin ver­heiratet und habe Kinder, die unterdessen auch schon bald erwachsen sind. Sex mit einer Frau ist viel, viel schöner! Aber ob es mir geschadet hat? Da muss ich ausholen.

Damals, als Sonderschüler, sagte ich mir: „Dein Leben ist gelaufen, du wirst nie einen Beruf ergreifen oder eine Familie ernähren können. Du bist und kannst nichts, am besten, du bringst dich gleich jetzt um!“ Das war meine Ausgangslage, als ich zu Jegge in die Schule kam. Wie es dazu kam, also die Vorgeschichte, treibt mir heute noch die Tränen in die Augen, und ich möchte nicht viel darüber reden, nur, dass ich die Schule als reinen Terror von Seiten des Lehrers erlebte. Dasselbe musste ich Jahre später mit meiner ersten Tochter erneut erleben: psychischen Terror. Ein weit verbreiteter Missbrauch. Mein Kind leidet heute noch darunter. Würde man auch diesen Missbrauch strafrechtlich verfolgen, hätten wir Lehrermangel. Aber das interessiert die Professoren und die mit dem Doktortitel im Buch „Ist Dummheit lern­bar?“ natürlich überhaupt nicht. Sie waren buchstäblich eifersüchtig auf den Erfolg, den Jürg Jegges ürsprüngliches Buch „Dummheit ist lernbar“ hatte. Und dass das so ist, nämlich dass Dummheit lernbar ist, tritt im Buch von Miller/Oelkers deutlich zu Tage. Doch jetzt bin ich in meiner Wut abgeschweift!

Haben mir die sexuellen Erlebnisse mit Jegge geschadet?

Ich erlernte zwei Berufe, hatte Erfolg, konnte ohne finanzielle Sorgen eine Familie gründen. Ich lernte durch Jürg Jegge Menschen kennen, die für mein Leben wichtig waren und die ich sonst nie getroffen hätte! Durch viele Gespräche, die ich mit eben diesen Menschen führte, erfuhr ich, dass gebildet sein durchaus lernbar ist, dass die unzähligen kulturellen Anlässe, die ich durch Jegge erlebte, meine Fantasie und meine Intelligenz anregten und ich dadurch auch Bildung erwarb.

Eines war für mich immer klar: Wenn es mir schlecht ging oder Entscheidungen zu fällen waren, also Fragen auftauchten, ich konnte mich an Jegge wenden, Tag und Nacht. Ich sah auch, wie er vielen anderen Menschen beistand. Er hat vielen gehol­fen, neue Wege einzuschlagen und einigen sogar das Leben gerettet! Er kannte auch die Eltern von uns Schülern, besuchte sie gelegentlich und tat dies auch bei mir zuhause, wo man offen über Probleme redete. Die Eltern wussten auch, dass sie sich an Jegge wenden konnten. Es ist mir schleierhaft, wieso Zangger die Tatsachen so verdrehen konnte. Es hat mich enorm erschreckt, als ich im Buch von Miller/Oelkers den Brief von Markus Zangger las. Redet er da von Jürg Jegge?

Markus Zangger, der einst bluffte, dass er in Jürg Jegges Buch „Dummheit ist lernbar“ mitschreiben durfte, und jetzt plötzlich behauptet, Jegge hätte damals seinen Text so verändert, dass es nicht mehr sein ursprünglicher gewesen sei. Ausserdem hätte uns Jegge „kaputte Schüler“ genannt. Es stimmt, wir waren „kaputt“, doch dies hätte Jegge niemals zu uns gesagt. Er sagt, wir seien „kaputt“ gemacht worden, das ist aber ganz etwas anderes! Es gäbe noch einiges zu erwähnen, was nicht übereinstimmte! Z. B. hatte ich auch in einem von Jegges Büchern über meine Geschichte schreiben können, doch das lief ganz anders ab. Jegge fragte mich, ob ich Lust hätte, in einem neuen Buch etwas über mich zu schreiben. Ich war natürlich stolz wie Zangger, dass ich über­haupt gefragt wurde, und gab Jegge meinen handgeschriebenen Text. Dieser sagte dazu, dass er Namen und Wohnort aus Anonymitätsgründen ändern und die Sätze ein wenig „striegeln“ würde. Anschliessend gab er mir den Text nochmals zum Lesen und ich war verblüfft, dass es noch immer mein Text war, aber besser formu­liert! Darum verstehe ich nicht, dass es bei Zangger anders gewesen sein soll, obwohl er in seinem Brief in „Ist Dummheit lernbar?“ von Miller/Oelkes schreibt, er habe seinen Beitrag in Jegges Buch gehasst, und dieses an die Wand geschmissen, weil es nicht mehr sein ursprünglicher Text gewesen sei. Sowohl Zangger wie ich stammen aus der gleichen Schicht, in der man sich nicht mit Psychologie oder Pädagogik befasste. In meiner Familie sicher nicht, da hiess es nur arbeiten und nochmals arbeiten. Gelesen wurde vielleicht die Gemeindezeitung oder sonst ein Heft. Als Jegge sein Buch „Dummheit ist lernbar“ meinen Eltern schenkte, freuten sie sich. Sie stellten es ins sogenannte Bücherregal und dort stand es dann. Jegge ver­diente einiges an Geld mit diesem Buch, doch investierte er das meiste wieder in seine Schüler. Ich weiss dies, weil ich selber davon profitierte, bei weitem aber nicht so viel wie Zangger. Ich bin heute noch dankbar, dass es Jürg Jegge gab und gibt. Er hat nicht nur mein Leben gerettet, sondern lehrte mich, ein Mensch zu sein. Dies hatte zur Folge, dass ich plötzlich mitreden oder Zusammenhänge verstehen konnte. Wenn von Politik die Rede war, wusste ich, welchen Bundesrat man meinte oder für was diese oder jene einstanden; es war mir nicht mehr fremd. Ich erlernte einen Beruf, machte meinen Abschluss in schriftlicher Theorie mit der Note 5,5 d. h. auf Sekundarschulstufe — als Sonderschüler!

Ein anderes Beispiel kommt mir in den Sinn. Als ich die Aufforderung erhielt, mich für die Rekrutenschule zu stellen, lud die Gemeinde zu einer Einführung ein. Ich ging hin und es wurden Fragen gestellt, nach dem Beruf oder ob man noch am Lernen sei. Die meisten der Anwesenden gaben an, dass sie Hilfsarbeiter seien oder in Fabriken arbeiteten. Die wenigsten konnten sagen, dass sie eine Ausbildung absolvierten. Doch ich konnte stolz sagen, dass ich in Ausbildung sei. Viele von den Anwesenden kannten mich von früher als „Tubelischüler“, [2] und als solcher war es damals unmöglich, eine Lehre mit EFZ zu machen. Hat mir oder den anderen Jegges „Therapie“ geschadet? Meines Wissens haben alle damaligen „Opfer“ mehrheitlich einen bis zwei Berufe erlernt. Einige haben Familie, ein eigenes Haus und haben ein gesicher­tes Auskommen.

In einer Hinsicht hatte Zangger recht. Damals in den siebziger Jahren sassen wir nicht mehr in einer Schule, wie man sie vom System her gewohnt war. Doch wir lernten zu leben. Wir bauten Burgen und Seifenkisten und spielten im Schulzimmer Theater. Einen Stundenplan habe ich nie gesehen. Dass dies bei den anderen Lehrern und den Behörden nicht gut ankam, war offensichtlich. Jegge galt von da an als schlechter Lehrer im Embrachertal. Zumindest bis sein Buch „Dummheit ist lernbar“ erschien. Da war er plötzlich anerkannt. Das Buch ist heute noch so aktuell wie damals, denn geändert hat sich nichts. Heute wie damals werden in Schulen immer noch Menschen psychisch missbraucht oder gar gemobbt. Die „Industrie“ von Psycho­logen und Sozialarbeitern blüht wie nie zuvor. Dabei gäbe es einfache Rezepte. Zukünftige Lehrpersonen müssten eine ganz klare Eignung aufweisen, mit Kindern umgehen können, und etwas Menschenkenntnis müsste vorhanden sein. Das Buch „Dummheit ist lernbar“ von Jegge wäre Pflichtlektüre. An den Pädagogischen Hochschulen müsste mehr Pädagogik vermittelt und den späteren Lehrern eine anständige Entschädi­gung ausbezahlt werden. Das wäre meiner Ansicht nach hilfreicher als sich mit dem Buch von Miller/Oelkers zu befassen. Meine Empfeh­lung: Kauft es nicht!!

Was mich in dem Buch „Ist Dummheit lernbar?“ sehr erheiterte und mich zum Lachen brachte, waren die Bilder über die Gurken. Wüsste man nicht, wer diese Bilder interpretierte und was damit bezweckt wurde, könnte man das Ganze als guten Witz betrachten.

Ich kenne Markus Zangger seit der Sonderschule, wo er sich uns gegenüber als der Schönste, Grösste und Gescheiteste darzustellen versuchte und immer wieder betonte, dass er in Jegges Erfolgsbuch mitgeschrieben hätte. Ich kann mir nur eines vorstellen, nämlich, dass er aus den damaligen Geschehnissen auch ein Buch schreiben und auch berühmt werden und Geld damit verdienen wollte. („Jürg Jegges dunkle Seite“ [3]]) Darum musste daraus eine so katastrophale Geschichte gemacht werden, sonst hätte das niemand gekauft. Ich weiss nicht, wie viele sein Buch wirklich erwarben, doch ich glaube, dass er sich getäuscht hat und darum jedem, der sich dafür interessiert, die Sache in einem noch schlimmeren Licht darstellt. Dass Zangger mit Jegge bis zum 27. Altersjahr Sex hatte, zeigt womöglich, dass er das gar nicht so schlecht fand. Von Abhängigkeit kann da nicht die Rede sein, denn Zangger verdiente sein Geld selber und war sehr von sich überzeugt. Ich habe mit 17 Jahren zu Jegge gesagt, ich möchte die „Therapie“ nicht weiter machen, und das wars dann. Wir blieben Freunde bis heute.

Eines will mir nicht in den Kopf: dass die Verfasser und Psychologen von „Ist Dummheit lernbar?“ nicht Nachforschungen anstellten, ob Zanggers Darstellungen, gesamthaft gesehen, der Wirklichkeit entsprachen.

[1Damian Miller / Jürgen Oelkers: Ist Dummheit lernbar? Re-Lektüren eines pädagogischen Bestsellers. Basel (Zytglogge) 2018.

[2„Tubeli“ — von „Tubu“, Depp (Schweizerdeutsch-Wörterbuch des Blogs schweizerdeutsch-lernen.ch); „als tubelischüler“ also: Einer aus der Deppenschule (österreichisch eher: Teppenschule).

[3[Markus Zangger: Jürg Jegges dunkle Seite. Lachen SZ (Wörterseh Verlag) 2018.