FORVM, No. 183/I
März
1969

Gezeichnete Klänge

Der Weg zur graphischen Musik als Notwendigkeit: warum?

Die Formulierung setzt das Verhältnis zwischen mir und meinem Schaffen ins falsche Licht. Mein Schaffen, auch wenn man es „graphische Musik“ nennt, ist nicht ein bereits erbauter Tempel, in den ich mir einen Weg gebahnt habe, sondern spiegelt direkt einen Teil meines geistigen Gesichts wider. Es ist nicht ein Weg, den ich gehe und der mich zu etwas schon Abgeschlossenem führt, sondern es ist meine eigene Spur, die ich selber entwickle, forme, ändere oder wiederhole, deute und vielleicht dann umdeute.

Ob da alles notwendig ist und warum ich es mache, weiß ich nicht. Eine gewisse Art von Vergnügen bei dieser Beschäftigung kann ich nicht leugnen. Aber je stärker die Konzentration in der Arbeit, desto weniger kann ich mich dabei beobachten, daher kann ich darüber nichts aussagen: Ich bin eben nur auf meine Gedanken und ihre Darstellung konzentriert: Alle Beobachtungen, die ich mache, sind im nachhinein rekonstruiert, und ich bin überzeugt, daß sie unvollkommen sind, wenn nicht falsch.

Was die Notwendigkeit betrifft, so kommt mir diese Frage wie jene vor, wozu wir da sind. Ich glaube, daß diese Fragen, besonders in der Kunst, zu den unbeantwortbaren Fragen gehören.

Kann man jedes Bild, jede Graphik akustisch interpretieren? Wie verhält sich der Klang zum graphischen Zeichen?

Ich glaube, daß es vier wesentliche Arten gibt, Musik aufzuzeichnen, und dementsprechend sind es vier Arten von „Bildern“, wenn man so will, die Musik beinhalten:

  1. Die physikalischen Bilder, die uns durch technische Medien, wie etwa durch den Oszillographen, die magnetischen Felder des Tonbandes, den Lochstreifen usw., vermittelt werden. Diese Bilder entsprechen nicht unseren graphischen Assoziationen beim Hören von Musik: während wir zum Beispiel Punkte für ganz kurze Töne assoziieren, zeigt uns der Oszillograph auch für die kürzesten Töne Schwingungslinien.
  2. Notationen mit Orientierungssymbolen, wie etwa bei der herkömmlichen Notation, wo die meisten Zeichen nicht in Klang umgesetzt werden, sondern nur orientieren, so zum Beispiel das Fünfliniensystem, die Schlüssel, Hälse, Balken usw., aber auch die Notenköpfe selbst, wenn sie nicht in Verbindung mit dem Liniensystem und den Schlüsseln gebracht werden.
  3. Aufzeichnungen, deren Zeichen assoziativ oder aktionsmäßig in Klang umgesetzt werden. Der Eindruck, daß Klang und Zeichen einander entsprechen, erreicht hier den höchsten Grad.
  4. Aufzeichnungen, die auf das Wesentliche der Musik reduziert sind, aus denen sich die jeweilige Komposition allmählich entwickelt, ohne daß ihr klanglicher Fluß sichtbar gemacht worden ist. Also Bilder, die als eine Art Quelle nur das Strukturelement des klanglichen Flusses beinhalten, nicht aber den Fluß selbst.

Die Bilder außerhalb dieser vier Bereiche lassen sich akustisch nicht interpretieren, es sei, daß man improvisiert, dann ist das Bild nur ein Stimmungserreger, aber keine Aufzeichnung von Musik.

Also ist „Musik im Bilde“ nicht ohne weiteres anzunehmen. Bei meinen Aufzeichnungen handelt es sich nicht um ein System, sondern um ein Medium, das ich mir in langjähriger Arbeit von Beobachtungen und Versuchen erarbeitet habe. Das graphische Endergebnis aber muß derart sein, daß es die klangliche Realisation ermöglicht und darüber hinaus die vorgestellte Komposition vermittelt. Dadurch können einzelne Zeichen als Notationsmittel in neuen Zusammensetzungen vorkommen. Das berechtigt aber nicht, von einem System zu reden. Wenn Mittel und System dasselbe bedeuteten, dann müßte man jede Musik, die herkömmlich notiert wurde, als systemgleich betrachten und empfinden. Natürlich sind jeder Schrift spezifische Möglichkeiten, die aus den Eigentümlichkeiten ihres Bildes erwachsen, inhärent. Eine Notation beeinflußt zwar das musikalische Denken, ihre Möglichkeiten aber lassen die verschiedensten Systeme entstehen.

In meinem Fall handelt es sich um Erfindung und Untersuchung neuer Zeichen auf ihren klanglichen Gehalt, aber vor allem um die Entsprechung und Entwicklung meiner Klangwelt.

In so einem Schaffensprozeß werden Hand in Hand Klangvorstellungen, Handschriften und Notationsbilder entwickelt.

Wean die Ausführenden die Graphik richtig interpretieren, das heißt den Zeichen entsprechend, ist das Ergebnis, erfahrungsgemäß, keine Deformation; denn mir geht es ja um die Mobilität und deren Grade in einer Komposition. Das war auch der Grund, warum ich sogar die für Tonkonstellationen bestimmten Tonsymbole so erfand, daß der Interpret durch seine Freiheit, sie in beliebigen Oktaven spielen zu dürfen, zu verschiedenen Intervallkonstellationen gelenkt wird. Ich sage absichtlich „gelenkt“, da die Grenzen, innerhalb derer er sich zu bewegen hat, trotzdem von mir abgesteckt werden. Und das gilt auch für alle Elemente meiner graphischen Kompositionen und deren gesteuerte Formen, so daß ein und dasselbe Werk, trotz verschiedener Interpretationen, einen spezifischen Charakter erkennen läßt, der sich aus der Polymorphie, der Vielgestaltigkeit aller Aufführungen erschließt.

Kann die Interpretation der graphischen Musik „treu“, „wahr“ usw. sein?

Ich konzentriere mich beim Schaffen ausschließlich auf gestalterische Probleme: sehr oft sind nur klangliche Vorstellungen die Triebfeder meiner Aufzeichnungen, und das Bild selbst entsteht durch Überlegungen, wie ich jenen klanglichen Vorstellungen bildlich gerecht werde, damit sich ihr Charakter, ihr Wesen formal und inhaltlich, trotz variabler Interpretation, herauskristallisiert.

Nun kann man Parallelen zu der Ideenabstraktion oder „eidetischen Reduktion“ der Phänomenologie Husserls finden: Was sich nämlich in der Vielfalt der Variation „invariant“ erhält, wird als das Wesen angesprochen, seien es objektive Formen (auf die ich durch entsprechende Benennung der jeweiligen Komposition hinweise) oder subjektive Strukturen (etwa: wie die einzelnen Zeichen erlebt und interpretiert werden). Das, was ich also mache, ist weder gegen noch für die Rationalität; es beinhaltet einfach Integrationen verschiedenster innerer Momente eines Schaffens-Prozesses, der sich eigentlich zu keiner Denkdisziplin feindlich stellt, sondern eher versucht, meinem Vorstellen, Denken, Fühlen und Wünschen eine Gestalt zu geben, die wiederum ihrerseits das Spezifische jener Vorstellungen, Gedanken usw., trotz der Variationsmöglichkeiten von seiten des Interpreten, festhält und vermittelt.

Gibt es eine strukturelle und ästhetische Definition der graphischen Musik? Gibt es einen Zusammenhang mit der konkreten Poesie, mit der abstrakten Malerei (Jackson Pollock), mit Husserls Intentionalismus?

Die erste Frage setzt voraus, daß graphisch dargestellte Musik eine Stilrichtung und kein Werkzeug ist. Als Werkzeug aber, wie ich schon sagte, hat sie natürlich auch ihre Struktur und ihre ästhetischen Bereiche und bringt schon in sich einen gewissen übergeordneten stilistischen Horizont mit. Das tut aber jede Notenschrift an sich auch, ob Neumen, Mensuralschrift oder die heute übliche. Sie alle ermöglichen die Schaffung verschiedenster Stile. Dessen ungeachtet aber tragen sie in sich, dank und entsprechend ihrer eigenen Beschaffenheit, eine für sie spezifische ästhetische Quelle, deren Färbung aus jedem Werk der jeweiligen Schrift durchschimmert.

Nun aber: Worauf baue ich meine Schrift? Ich habe den Mut, „meine“ zu sagen, da ich mir (abgesehen von der Zeit, die ich für sie verwendet habe und noch verwenden werde) die Probleme und Fragen selbst stelle und selber beantworte und mich in diesem Prozeß vollkommen taub halte gegenüber etwaigen historischen Feststellungen: Ich erhoffe mir dadurch eine hochgradige Objektivierung eines subjektiven Denkprozesses und darüber hinaus eine Klarstellung dessen, was bis jetzt diesbezüglich geschah und was noch durch meine Hand zu geschehen hat.

Die Frage „strukturelle und ästhetische Definition der musikalischen Graphik“ kann ich also nicht so allgemein beantworten, sondern eigentlich nur aus meinem Schaffen heraus; und da ich selbst in der Sache stecke, ist mir die Übersicht verwehrt, Zusammenhänge mit anderen Künsten, etwa mit dem absurden Theater oder mit dem Tachismus (Pollock, Mathieu u.a.), festzustellen. Eher ist die Kritik anderer zuständig, vielleicht der noch nicht Geborenen: Ich weiß nicht, wen noch mein Werk beeinflussen wird und was alles durch diesen Einfluß entstehen kann: aber im Licht der Zukunft legen sich nicht selten auch die historischen Schatten in Richtung der Vergangenheit.

Wie verhält sich die europäische und die amerikanische graphische Musik zueinander?

Ich kann nicht beurteilen, ob es eine amerikanische und eine europäische graphische Musik gibt, aber persönliche Unterschiede und solche von Werk zu Werk sind augenfällig. Die Skala der graphischen Mittel bewegt sich zwischen der Benützung von Elementen der üblichen europäischen Notation bis zur Erfindung neuer Klangzeichen. Auch ihre Setzung und Bedeutung unterliegt dem jeweiligen geistigen Horizont des Komponisten. Man kann von einem einheitlichen Stil der graphischen Musik nicht sprechen. Sie ist, wie ich schon vorhin erwähnte, nur ein Werkzeug, das in den Händen eines Komponisten für Improvisationszwecke gebraucht wird, indem man ihre Deutung dem jeweiligen Interpreten überläßt. Wenn ich die Wahl des Instrumentariums frei lasse (das geschieht übrigens nicht immer), so stelle ich damit das Klangcharakteristisch als wesentlichen Kompositionsinhalt über jede instrumentale Klangfärbung, und dadurch gilt jede Klangfarbe als erwünscht: als Variation des Wesentlichen. Wie die Sache weitergehen wird — da bin ich überfragt.

Aktionssignale

Die Kooptationen gehören zu den kleinformatigen Aufzeichnungen, die aus der Idee entstanden sind, aus einem Minimum an technischem Aufwand ein Maximum an klanglichen Ergebnissen zu erreichen. Sie bestehen aus zwei Flächen: die eine beinhaltet Aktionssignale und Assoziationszeichen; die andere, bestehend aus Tonkonstellationen, umschließt mit verschiedenartigen Trennungslinien, aus denen dynamische Veränderungen zu entnehmen sind, die erste. Dadurch ergeben sich auch zwei Lesarten:

Eine in der eingeschlossenen Fläche, wo der Blick, dem jeweiligen Zeichen folgend, in alle Richtungen wandert.

Eine andere im umschließenden Rahmen, den Tonkonstellationen folgend, im Uhrzeigersinn oder in der entgegengesetzten Richtung. Damit wird eine Doppelschichtigkeit, die im klanglichen Ergebnis hörbar werden soll, sichtbar gemacht.

Die Kooptationen 2-3-4-6 werden also durch Teilung der Instrumente in zwei Gruppen gekennzeichnet. Darüber hinaus kann man diese Gruppen gemäß der jeweiligen Aufzeichnung plaçieren, so daß die Interpreten, welche die Tonkonstellationen zu spielen haben, die andere Gruppe umschließen. Und die Tonkonstellationen werden von Instrument zu Instrument, von Klangfarbe zu Klangfarbe im Kreise weitergereicht. Dies gilt besonders für die Kooptationen 3-4-6.

Die Kooptation 2 läßt die Tonkonstellationsfolge hin und her pendeln. Hier ist auch die andere Interpretengruppe, welche die gleitenden Tonbündel spielt, hinter der die simultanen Klänge interpretierenden Gruppe zu plaçieren.

Während nun bei den Kooptationen 2-3-4-6 der klangliche Fluß in seiner Geschlossenheit bzw. Offenheit und auch sein inneres Gefüge dargestellt wurden, zeigen die 5- und 7-seitigen Kooptationen, die auch den Beinamen „eidetische Reduktionen“ tragen, lediglich den Charakter (bei Kooptation 5 wellenartig, bei 7 seismographisch) aller zu spielenden Töne oder Klänge. Erst aus den Projizierungen dieser Charakterzeichen auf die jeweiligen Seiten des betreffenden Polygons entnimmt man die Registerhöhen bzw. das Gleiten des Klanges, die Klangdauer und die Lautstärken, mit denen der Klangcharakter zu integrieren ist. (Beim 7-seitigen Polygon ist die Lautstärke aus dem Aktionssignal herauszulesen.) Die Divergenzen, die sich hier durch jeden Interpreten und bei jeder Aufführung ergeben, sind in der Konzeption einbezogen: die komponierte Reduktion wird offensichtlich, indem ein Zeichen beim Lesen oder Spielen Abstufungen und Abtönungen der jeweiligen klanglichen Eigenschaft auslöst.

Eine Reduktion bedeutet daher keine Verarmung und keine „Primitivisierung“ einer differenzierten Vorstellung, sondern den Zusammenschluß aller Varianten eines Gedankens. Gleich einem Integral also findet hier die Summe unendlich vieler Differenziale eines klanglichen Parameters ihre „Gleichung“, aus der umgekehrt auch immer wieder die Abstufungen der jeweiligen Klangeigenschaft zu erstellen sind.

Die Fragen wurden Anestis Logothetis von der Redaktion der Prager avantgardistischen Zeitschrift „Sešity“ gestellt. Die abgebildeten Kooptationen sind 1961 entstanden.

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