Grundrisse, Nummer 27
September
2008
Gabriel Kuhn:

Jenseits von Staat und Individuum

Individualität und autonome Politik

Münster: Unrast Verlag, 168 Seiten, 14 Euro

Seit dem Auftauchen des neuzeitlichen Individuums im 16. Jahrhundert sind die Menschen einem permanenten Prozess der Individualisierung ausgesetzt. Diese Entwicklung bedeutet Befreiung und neue Unterwerfung. Der Neoliberalismus bedeutet zum einen einen weiteren Individualisierungsschub innerhalb dieses geschichtlichen Prozesses und zum anderen den erweiterten Zugriff des Kapitals auf die Individualität und Subjektivität der Menschen. Im Unrast-Verlag ist im vergangenen Jahr ein Buch erschienen, das sich mit den kollektiven politischen Ansprüchen in einer individualisierten und individualistischen Gesellschaft auseinandersetzt. In „Jenseits von Staat und Individuum“ rekonstruiert Gabriel Kuhn den neuzeitlichen Individualismus und das Verhältnis von Staat und Individuum. Gegen den neuzeitlichen Individualismus setzt er auf eine „antiindividualistische Individualität“.

Das Auftauchen des Individuums sollte den Menschen aus den verschiedenen Abhängigkeiten nach und nach befreien, doch diese Sichtweise ist zu einfach. Das neuzeitliche Individuum hat die „Einzelnen eingesperrt, anstatt sie zu befreien, und das, was als ‚Befreiung’ übrig bleibt, ist tatsächlich eine Freisetzung“ (Kuhn 39). Durch diese Freisetzung findet eine Zerstörung sozialer Kollektivität statt. So wird aus dem Individuum eine Gefängnis des Einzelnen oder in den Worten von Foucault, „dass die Macht des Staates … ein zugleich individualisierende und totalisierende Form der Macht ist“ (zitiert nach: Kuhn 47). Individualisierung bedeutet nicht Freiheit und Individualität sondern ist Bedingung staatlicher Totalität. „Individuum und Staat bedingen sich gegenseitig: wo die eine Idee auftaucht, ist die andere nicht fern“ (Kuhn 48). Das Individuum verdammt den Menschen dazu ein isolierter Einzelner zu sein. Der Einzelne wird zu einem vom Staat kontrollierten und verwalteten Individuum. Das Individuum besitzt nicht wie der Einzelne eine freie Individualität, sondern ist das Ergebnis von Individualisierung und Homogenisierung. Der Staat hasst die Heterogenität der Menge, die Multitude, er liebt die Homogenität, er homogenisiert die Multitude zum Volk, das er besser beherrschen kann. So stellt eine unkontrollierte Gruppe eine Bedrohung für den Staat dar, „weil sie für nicht-staatliche Formen sozialer Zusammenhänge steht“ (Kuhn 51). Die Gewerkschaften stellten zu Beginn eine solche Bedrohung dar. Der Staat hat zwei Möglichkeiten: sie zu bekämpfen oder sie zu verstaatlichen. Für die Disziplinierung der ArbeiterInnen hat sich die Verstaatlichung der Gewerkschaft, wie sie in den westlichen Industriestaaten stattgefunden hat, am meisten ausgezahlt. Wenn Gewerkschaften – wie jüngst die Gewerkschaft der LokführerInnen – nicht mehr selber bestimmen können, wie und wofür sie streiken, sondern sich dies von Staat und Kapital vorschreiben lassen, haben sie ihre eigentliche Funktion verloren.

Der Staat hat Angst vor der gelebten Kollektivität: „Gesetze werden verabschiedet, um nicht-kontrollierte Gruppenbildungen zu vermeiden; Demonstrationen werden zerschlagen und kriminalisiert; soziale Zentren werden geschlossen; autonom aufgebaute Lebensräume werden unaufhörlich malträtiert; die harmlosesten individuellen Protestformen werden zum Anlass, eine staatsbedrohende Szene auszumachen und zu verfolgen; Jugendgangs werden zur Bedrohung für die Staatssicherheit hochstilisiert; und selbst Fußballstadien werden zu modernsten Sitzplatzarenen umgebaut, um die unüberschaubaren Fangruppen auf den Stehplätzen loszuwerden“ (Kuhn 52). Gegen diesen Wahnsinn helfen nur zwei Dinge: gelebte Kollektivität und antiindividualistische Individualität. Dies heißt für Kuhn, dass eine konsequente Kritik am neuzeitlichen Individualismus anti-bourgeoise Lebensformen einfordern muss. Mit Foucault gesprochen, müssen wir neue Formen der Subjektivität hervorbringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen. Auch in einer zukünftigen freien Gesellschaft löst sich die Frage der Individualität und ihr Verhältnis zur Gemeinschaft nicht in Luft auf, so bemerkt Kuhn, „dass den Einzelnen in einer kollektiven Lebensgemeinschaft ein Wert zukommen muss, der gerade in ihrer Individualität besteht, und das deshalb eine antiindividualistische Gruppe nicht kein Verständnis von Individualität braucht, sondern ein antiindividualistisches“ (Kuhn 90). Es geht Kuhn um eine Individualität und Kollektivität jenseits von Staat und verstaatlichtem Individuum. Das Ziel muss eine antiindividualistische Kollektivität sein, in der die Individualität des Einzelnen ihren Raum bekommt. So will die antiindividualistische Praxis nach Kuhn „nicht die Befreiung des Individuums vom Staat, sondern sie richtet sich gegen die Erzeugung des Individuums durch den Staat“ (Kuhn 105). Nach der Rekonstruktion des Individuums hat Kuhn die antiindividualistische Individualität skizziert, dabei ist er der Frage nach der Individualpolitik nachgegangen und hat sich auf der Suche nach Kollektivität gemacht, am Ende kommt heraus: „… der Staat bleibt der Feind. Und das Individuum sowieso“ (Kuhn 158)

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