FORVM, No. 205/206
Januar
1971

Kapitalistisch parfümierte Sowjetunion

II. Teil des Reiseberichtes

Mein sowjetischer Gesprächspartner — seine Vorschläge kommen mir schrecklich technisch vor — redet von Mobilität der Preise, Maßnahmen gegen die Inflation, Steuerpolitik, alles auf eine Weise wie in der Budgetdebatte, sagen wir, des englischen Unterhauses. Gibt es denn keinen Unterschied zwischen der sowjetischen Wirtschaft und der Wirtschaft der kapitalistischen Länder?

Doch, es gibt einen großen Unterschied: Wenn man bei euch in einer Sackgasse landet, muß die Regierung etwas unternehmen, weil sie Angst hat vor der Unzufriedenheit der Arbeiter; bei uns muß die Regierung das nicht.

Ich antworte ihm, daß er unsere Regierungen überschätzt, sie machen niemals Geschenke, um soziale Konflikte zu vermeiden, sie geben dem Druck der Arbeiter nur nach, wenn sie dazu gezwungen werden, und sie tun das nur, weil sie sonst Gefahr laufen, gestürzt zu werden. Aber ich beeindruckte meinen sowjetischen Gesprächspartner damit nicht sehr. Was mich in der Sowjetunion immer wieder erstaunt, ist, daß die offen Oppositionellen wie die schweigenden Kritiker eine sozialistische Gesellschaft akzeptieren, die in Klassen geteilt ist und wo der offenkundige Unterschied im Lebensstandard ganz natürlich und für immer verankert erscheint.

„Sie werfen Ihren Führern vor“, bemerkte ich, „daß sie nicht genügend Reformen verwirklichen und daß sie das Land nicht aus der wirtschaftlichen Stagnation herausführen, aber Sie bestreiten nicht ihren Führungsanspruch als solchen.“

Im Rahmen unseres Systems“,

antwortet mein Gesprächspartner,

können wir in der Tat nur versuchen, unsere politischen Führer zu beeinflussen, indem wir sie für gewisse wirtschaftliche oder soziale Fragen sensibilisieren. Wir haben nicht die Möglichkeit, Streiks zu organisieren oder eine umfangreiche theoretische Debatte über das Wesen unserer Gesellschaft zu eröffnen. Wir müssen die unmittelbarsten Probleme lösen: Wie können wir unsere Arbeiter von dem degradierenden Zwang befreien, sich in der Wirtschaft Nummer zwei zu beschaffen, was es in der Wirtschaft Nummer eins nicht gibt? Wie können wir unsere Produktion ihrem Geschmack und ihren Bedürfnissen anpassen? Wie können wir die gröbsten Irrtümer in der Planung vermeiden? Usw. Das ist schon ein ganzes Programm.

Ich antworte: „Gerade der begrenzte technische Charakter dieses Programms verhindert seine Verwirklichung, denn eine politische Führung macht selten Konzessionen, nur weil ihr Fachleute das raten.“ Er gibt mir nur zur Hälfte recht:

Stoßen Sie sich nicht daran, wenn die Studenten, denen Sie begegnen, Sie nach dem Preis der Kleider in Frankreich fragen und nicht nach revolutionären Bewegungen. Verachten Sie sie nicht, wenn sie Ihnen sagen, daß sie gegen Politik immunisiert sind. Solange die Knappheit auf dem Konsumgütermarkt nicht beseitigt ist, so lange werden unsere Mitbürger von den Konsumgütern, die ihnen abgehen, fasziniert sein. Nun sagen Sie mir, das sei ein Circulus vitiosus: wir werden die Konsumgüter nie erhalten, wenn wir nicht den politischen Kampf aufnehmen. Vielleicht. Aber glauben Sie, es ist leicht, in einem autoritären Land wie dem unseren Politik zu machen? Niemand will das Wenige riskieren, das er hat, ohne nur im geringsten zu wissen, was er vielleicht erreichen kann. Man wartet lieber, und die Regierung sorgt dafür, daß dieser Zustand des Abwartens nicht aufhört.

Gegen elf Uhr nachts verlassen wir das Restaurant. Moskau scheint bereits völlig im Schlaf. Es dauert lang, bis wir ein Taxi finden. Schließlich nimmt mich eines mit, das schon besetzt ist. Der Chauffeur will mich in mein Hotel bringen, sobald er seine Fahrgäste an ihr Ziel gebracht hat: das junge Paar hat dagegen nichts einzuwenden, denn das ist durchaus üblich. Es ist sogar erfreut, mit einem neuen Fahrgast plaudern zu können.

„Sie haben Glück gehabt, daß Sie in diesem Land zur Zeit Stalins lebten“, meint der junge Mann, als ich ihm erkläre, wieso ich Russisch spreche. Da ich eine Provokation wittere, begnüge ich mich mit der Bemerkung, das Leben „zu meiner Zeit“ sei recht hart gewesen.

Sicher, aber daran war der Krieg schuld, nicht Stalin. Im Gegenteil, ohne ihn hätte unser Vaterland den deutschen Invasoren nicht Widerstand leisten können. Vor einigen Wochen hat Felix Tschujew bei einer Lesung sein unveröffentlichtes Gedicht vorgetragen ‚Stalin wird wiederkommen‘. Dort heißt es: ‚Ihr, die ihr seine Denkmäler gestürzt habt, ihr werdet auf Knien jedes Stück einsammeln und das Volk um Verzeihung bitten.‘ Alle Alten, die noch den Krieg miterlebten, weinten, als sie diese Verse hörten. Auch wir Jungen klatschten Beifall, weil wir unter den heutigen Zuständen leiden. Damals war Ordnung.

„Aber heute gibt es doch auch nicht weniger Ordnung als damals“, antworte ich. „Dafür gab es viel mehr Konzentrationslager.“

„Lager, Lager, die gab es gestern, die gibt es heute, die wird es immer geben.“

„Laß doch, Kolja“, sagt plötzlich die junge Frau. „Das ist gar kein Fremder. On pritvorjajetsa.“ („Er tut nur so.“)

Ich konnte noch so sehr beschwören, daß ich wirklich ein Fremder sei. Das Gespräch verstummte. Als sie zu Hause angekommen waren, stiegen die beiden Jungen aus, ohne mir auf Wiedersehen zu sagen. Der Chauffeur, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte, schien verlegen. Aber als wir beim Gebäude des Zentralkomitees vorbeifuhren, nicht weit von meinem Hotel, entschloß er sich, doch zu reden:

Ich bin nicht so wie diese beiden kleinen Schweine, und ich weiß, daß Sie recht haben mit den Lagern und der Unterdrückung zu Stalins Zeiten. Aber was wollen Sie? Schauen Sie sich doch nur dieses Gebäude an: alles ist erloschen, niemand arbeitet mehr. Zur Zeit Stalins brannten hier die Lichter die ganze Nacht. Die Leute bei uns wollen regiert werden, sie wollen wissen, daß sie jemand regiert.

Am nächsten Tag rief ich meinen Freund von einem Automaten aus an, um ihm von diesem Erlebnis zu erzählen. Ich traf ihn dann in einem Gang der Moskauer Metro. Er riet mir, aus diesem isolierten Vorfall keine übertriebenen Schlüsse zu ziehen. Richtig sei allerdings, daß gewisse Intellektuelle in der Sowjetunion bereits so „mit dem Volk uneins“ sind, daß sie überall Stalinismus wittern.

Tatsächlich ist der Fall Stalin sehr kompliziert. Du kennst doch das alte russische Sprichwort: ‚Stschasliw kto vjerujet, tieplo jemu na swietje schit‘ (‚Glücklich der, der glaubt, ihm ist nie kalt im Leben‘). Viele bei uns haben an Stalin geglaubt, und sagen wir es offen: sie brauchten diesen Glauben in einer Welt, die so hart ist wie die unsere. Und dann hat man ihnen von einem Tag auf den anderen diese wenige Wärme genommen, ohne ihnen dafür etwas anderes zu bieten. Sicher, man hat ihnen die Wahrheit gesagt über die Konzentrationslager und die anderen Irrtümer Stalins. Sie haben das alles schon gewußt, aber sie haben geglaubt, daß die Geschichte irgendeinen Sinn hat, daß sie bei aller Grausamkeit zu irgend etwas führen würde. Heute erkennen sie, daß dem nicht so ist, daß sie sich in der Mittelmäßigkeit einrichten müssen, ohne irgend etwas von der Zukunft zu erwarten. Sie leiden darunter, und es stimmt, daß sie weinen, wenn sie ein Gedicht hören wie ‚Stalin wird wiederkommen‘.

Aber die diese Gedichte schreiben, dieser Tschujew zum Beispiel, gehören nicht zu ihnen. Das sind junge Karrieremacher, die auf die Sehnsucht eines Teils der Bevölkerung spekulieren. Sie treten für eine starke Regierungsmacht ein und hoffen, daß sie selbst einmal diese Macht ausüben werden. Sie haben im Grund keinerlei ideologische oder revolutionäre Vision der Welt. Meiner Meinung nach ähneln sie in vielem den Anhängern des Petain-Regimes in Frankreich. Auch sie reden von Vaterland, Arbeit und Familie, sie sind Fremdenhasser (sie hassen die Chinesen) und Antisemiten. Unter dem Vorwand, sich um historische Denkmäler zu kümmern, haben sie einen Verein gegründet, ‚Za Rodinu‘ (‚Für das Vaterland‘), in den nur waschechte Russen aufgenommen werden und wo man großrussische Reden führt, die der zaristischen Ära würdig wären.

Ich fragte ihn, was an den Moskauer Gerüchten wahr sei, daß gewisse Mitglieder des Politbüros von dieser neostalinistischen Strömung zu profitieren suchten. Es gebe nirgends Rauch, wo nicht auch Feuer sei, meinte er. In der UdSSR könnte dieser Prozeß zu Spaltungen in der Partei führen.

Vor einiger Zeit, im Monat Juni, wenn ich mich nicht täusche, hat das Sekretariat der Partei beschlossen, das Wiederaufleben des Stalinismus zu bremsen. Alle verantwortlichen Männer des Presse- und Propagandawesens wurden einberufen. Man verlas eine strenge Warnung gegen Gedichte wie die von Tschujew, gegen Memoiren wie die des Marschalls Goworow sowie gegen den Minister für Außenhandel, Patolitschew, der in einem Interview mit der großen Illustrierten ‚Ogoniok‘ fünfzigmal den Namen Stalin erwähnt hatte. Aber diese Warnung wurde weder veröffentlicht noch den führenden Parteileuten in den Provinzen zur Kenntnis gebracht. Diese können demnach immer sagen, sie kennen dieses Dokument nicht.

Das ist für die gegenwärtigen Methoden sehr charakteristisch: keiner der Männer an der Spitze will sich kompromittieren. Wenn er dennoch dazu gezwungen ist, tut er es lieber nicht schriftlich.

Die ‚Spitze‘ weiß absolut nichts von den wirklichen Gefühlen an der ‚Basis‘. Aber kein politischer Führer ist so verrückt zu glauben, man könne unsere Gesellschaft einigen durch eine neue Ideologie, vergleichbar der Ideologie, die die UdSSR zu Zeiten Stalins einzementierte. Wenn man dies versuchte, müßte man zu massiven Terrormaßnahmen greifen, die keine Schicht unserer sozialen Pyramide schonen würden und die die ‚Begüterten‘ um jeden Preis verhindern wollen.

Aber wie sollen sie anderseits Stalin verleugnen, da er doch der eigentliche Begründer des Systems ist, dessen Nutznießer sie sind?

Schlimmer: Unter Stalin schien der Stalinismus immer nur provisorisch, heute hat er sich stabilisiert, heute stützt er sich auf eine solide Aufstiegsideologie, die alle Ungleichheiten der Gesellschaft rechtfertigt. Heute glaubt er, sich in aller Gemächlichkeit ausbreiten und entwickeln zu können. Er erkauft sich das Schweigen der einen, indem er sie in die privilegierte Wirtschaft Nummer drei aufnimmt. Er behält seinen mächtigen Polizeiapparat, der nicht mehr dazu da ist, einer bestimmten politischen Vision zu dienen, sondern zu verhindern, daß in den Massen irgendeine Form politischen Bewußtseins erwacht. Er hat außerdem eine Armee, die dem Land das Gefühl der Größe gibt.

Wir haben in der Sowjetunion einen ganzen Way of life, an den sich die Leute, ob sie wollen oder nicht, gewöhnt haben und mit dem manche sogar zufrieden sind. Sicher, alles wäre erst vollkommen, wenn mehr für die Wirtschaft Nummer eins geschähe. Aber unsere Führer glauben immer noch an die technisch-wissenschaftliche Revolution, die die Produktivität erhöhen wird. Sie sind begeistert von den Abkommen, die sie mit dem Westen geschlossen haben. Sie hoffen, nächstes Jahr anläßlich des XXIV. Parteikongresses einen sehr verlockenden neunten Fünfjahrplan vorlegen zu können.

„Aber in unserem ideologischen Niedergang liegt doch auch etwas Gesundes“, sagte mir ein anderer sowjetischer Gesprächspartner. „Mir sind Männer, die an nichts glauben, lieber als Fanatiker.“

Nach Meinung dieses Russen wie nach Meinung der meisten seiner Freunde, die er für mich zum Abendessen eingeladen hatte, ist das Sowjetregime noch immer in einer Phase des Übergangs und wird sich nur unter dem Einfluß einer „biologischen Wachablöse“ weiterentwickeln. Nach der letzten Volkszählung ist die Hälfte aller Bewohner der Sowjetunion weniger als 25 Jahre alt und hat daher weder den Krieg noch den „alten“ Stalinismus erlebt.

Unsere Jungen scheinen weniger protestfreudig als die euren, weil sie keine langen Haare tragen, weil sie eine strenge Auslese zu Beginn des Studiums akzeptieren und weil sie sich während der Vorlesungen ruhig verhalten. Aber der Schein trügt. Die Jungen liefern das Material für den ‚Samisdat‘ (die vervielfältigte Untergrundliteratur, die unter der Hand zirkuliert). Die Jungen bilden das Gerüst für die ‚Demokratische Bewegung‘, die einzige oppositionelle Gruppe, die die Unterdrückung überlebt hat. Wenn ihre Zeit einmal gekommen ist, muß sich unser Land notwendigerweise ändern.

Ein anderer Gast zeigte sich weniger optimistisch. Seiner Meinung nach ist der „Samisdat‘“ auch ein kommerzielles Unternehmen, betrieben von Lumpenintellektuellen, die in keiner Weise für den Geisteszustand der Jugend repräsentativ sind.

Darauf folgte eine sehr lebhafte Diskussion. Nach Meinung der einen sind die Jungen hungrig nach Wahrheit und strömen deshalb auf die sogenannten „humanistischen“ Fakultäten mehr als auf die technischen und naturwissenschaftlichen Institute, die früher sehr stark frequentiert waren. Nach Meinung der anderen tun die Jungen das nur deshalb, weil sie erkannt haben, daß angesichts der wirtschaftlichen Quasistagnation die Ingenieurslaufbahn nicht viel Erfolg verspricht, während die Absolventen der humanistischen Fakultäten Posten finden können, in denen sie von der Wirtschaft Nummer drei profitieren.

Ein Romanschriftsteller bemerkte: „Vor der Intervention in der Tschechoslowakei glaubte ich zu sehen, wohin wir gehen. Heute fühle ich mich blind, mir bleibt nichts anderes, als zu warten.“

Er ist nicht der einzige, der von der demoralisierenden Wirkung der Invasion vom August 1968 auf die „liberalen“ Kreise der Sowjetunion spricht. Die Invasion hat das Gefühl der Isolierung verschärft, unter dem diese Kreise leiden, denn die Massen standen der Invasion sehr gleichgültig gegenüber. Die Invasion hat den Intellektuellen gezeigt, wie vergeblich ihre Hoffnung war, von der Führung auf friedliichem Weg Schritt für Schritt demokratische Konzessionen zu erhalten.

Dennoch spricht man schon wieder von einem „Minitauwetter“, das die Wiederaufnahme von Gesprächen mit der Führungsspitze ermöglichen soll. Da man nicht ganz daran glaubt, sagt man immer wieder, man müsse geduldig sein: „In naher Zukunft wird sich in diesem Land nichts ereignen, da die derzeitigen ungeordneten Zustände ein Sicherheitsventil gegen jede wirklich explosive Tendenz bilden. Diese Zustände machen es den Leuten möglich, einen Schein von Freiheit zu genießen, ihr Leben einzurichten und, in gewissem Sinn, Individualisten zu sein.“

Vielleicht wäre ich von so vielen Holzhammerargumenten überzeugt worden; aber während meiner Reise in die Sowjetunion habe ich nicht nur mit Russen gesprochen. Aus beruflicher Pflicht habe ich auch an den Pressekonferenzen und an den Empfängen von Georges Pompidou teilgenommen, der jedesmal aufstrahlte, wenn er von den ungeheuren und unzulänglich ausgeschöpften Bodenschätzen der Sowjetunion sprach, zu deren Erschließung Frankreich und andere westliche Mächte demnächst beitragen würden. Dem fügte er jedesmal hinzu, daß ihn dieses große Unternehmen interessiere, gewiß nicht vom wirtschaftlichen Standpunkt aus (der westliche Kapitalismus ist ja von Natur aus philanthropisch), sondern weil dieser Plan den europäischen Geist fördere und damit Verständigung und Frieden unter den Völkern erleichtere.

Im vergangenen August hatte Willy Brandt in Moskau ähnliche Reden gehalten. Ich nehme an, daß auch die japanischen Minister den „europäischen“ Geist rühmen, wenn sie sich bereit erklären, bei der Erschließung der sowjetischen Bodenschätze mit der Sowjetunion zu kooperieren.

Man könnte sich mit gutem Recht fragen, warum die sowjetischen Führer zu ausländischen Investitionen greifen, wenn sie ohne jede Gefahr weiterhin ruhig ihre Wirtschaft mit eigenen Mitteln weiterentwickeln könnten. Seit den wirtschaftlichen Debatten der zwanziger Jahre kennen sie das Risiko des Versuches, sich in den Markt der hochindustrialisierten Länder einzuschalten, bevor sie dasselbe Produktivitätsniveau erreicht haben. Sie riskieren, wirtschaftlich beherrscht zu werden und sogar ihre Rolle auf der weltpolitischen Szene zu verlieren. Sie sind nicht so naiv, zu glauben, der kapitalistische Westen sei bereit, ihnen ohne Gegenleistung eine Injektion zu verabreichen, damit sie den Westen schneller einholen und überholen können.

In Moskau gibt es Leute mit gutem Gedächtnis, die sich daran erinnern, was die „Prawda“ 1968 schrieb, anläßlich des Eindringens westdeutschen Kapitals in die Tschechoslowakei. „Wir laufen gegenwärtig dieselbe Gefahr“, sagen sie. „Und sogar noch größere, denn die Organisation unserer Industrie ist viel mangelhafter als die der CSSR.“

Und sie zitieren Beispiele, die zu denken geben.

Seit mehreren Jahren kauft die Sowjetunion im Westen vollständige Fabriken, in „schlüsselfertigem“ Zustand. Die bisherigen Erfahrungen scheinen zu beweisen, daß diese Transplantationen in keiner Weise zu den Arbeitsgewohnheiten des Landes passen. Die Fiat-Fabrik in Togliattigrad an der Wolga sollte ihre ersten Wagen zum 50. Jahrestag der russischen Revolution, im November 1967, auf den Markt bringen. Nach drei Jahren sah niemand einen sowjetischen Fiat. Das Mutterunternehmen in Turin verliert bei dieser Verzögerung nichts. Es hat sich in Dollar vorausbezahlen lassen.

Die deutsch-sowjetischen, japanisch-sowjetischen und französisch-sowjetischen Projekte sehen allerdings anders aus. Brandt und Pompidou haben von der Möglichkeit gesprochen, gemeinsame Unternehmungen mit der Sowjetunion zu gründen. Sie wollen sich die investierten Kapitalien in Rohstoff oder sowjetischen Fertigproduktion zurückerstatten lassen. Dies setzt voraus, daß die neuen Unternehmen rentabel sein müssen. Kann man ein solches Resultat von sowjetischen Arbeitern erhoffen, die nach den Lohntabellen der Wirtschaft Nr. 1 bezahlt werden und praktisch gezwungen sind, zusätzlich Lohn durch Schwarzarbeit innerhalb des Systems der Wirtschaft Nr. 2 zu verdienen?

Appelle zur Produktivität erlassen die sowjetischen Führer seit einem guten Dutzend Jahren. Aber dem Anschein nach genügen die gebotenen Produktivitätsprämien nicht, um den Arbeitseifer zu stimulieren. „Es gibt nur ein einziges Mittel, um die sowjetischen Arbeiter aus ihrer Erstarrung zu lösen“, sagte mir ein Moskauer Freund, „man muß sie in Dollar bezahlen. Dann werden sie noch viel leistungsstärker sein als die westlichen Arbeiter. Aber solange man sie in einer Währung zahlt, die nichts wert ist, und solange man sie in der Güterknappheit beläßt, werden sie immer mit einem russischen Sprichwort antworten: ‚Die Arbeit ist kein Wolf, sie flüchtet nicht in den Wald.‘“

Die Arbeiter in den mit ausländischem Kapital errichteten Fabriken müßten also in die Wirtschaft Nr. 3 Eingang finden und ihren Genossen gegenüber zu Privilegierten werden. Aber so groß ist die Indolenz der russischen Arbeiter nicht, daß sie sich mit einer so himmelschreienden Ungerechtigkeit abfinden. Trotz äußerster Diskretion der offiziellen Presse bei der Berichterstattung über soziale Konflikte wissen wir doch genug, um sagen zu können, daß es in der Sowjetunion im Lauf der letzten zwei Jahre wilde, manchmal sogar blutige Streiks gegeben hat. Vor einigen Monaten sprach selbst die „Prawda“ von der beklagenswerten Desorganisation der Produktion im Donezbecken. In Moskau zirkulieren Gerüchte über die „Ereignisse“ von Krasnodar: die Bevölkerung, wütend über Mangel an Konsumgütern und administrative Scherereien, soll die lokale Miliz angegriffen und praktisch die Stadt besetzt haben.

Die mir diese Auskünfte gaben, betonten allerdings stets, daß solche Ereignisse Ausnahmen seien. Die Bewohner von Krasnodar, von denen man glaubte, sie seien in offenem Aufruhr, sollen sich schließlich von selbst zerstreut haben, ohne daß es notwendig gewesen sei, Miliz zur Verstärkung zu holen. In anderen Gegenden sollen Streiks, bei denen die Arbeiter buchstäblich Ingenieure zerstückelten, rasch zu Ende gegangen sein. Die Arbeiter sollen, nach Verrauchen ihres Zorns, ohne Widerrede der Verhaftung angeblicher „Rädelsführer“ zugesehen haben.

Die Situation ist also kompliziert. Es gibt verschiedene Interpretationen: manche Intellektuelle versteifen sich auf die These, daß alle diese Demonstrationen nur den „russischen Volkscharakter“ widerspiegeln. Ich glaube nicht an den „russischen Volkscharakter“. Ich glaube, daß der brutale Charakter gewisser spontaner Konflikte nur das Fehlen einer Organisation an der Basis widerspiegelt und die Schwierigkeit der Arbeiter, unter den repressiven Bedingungen der sowjetischen Gesellschaft zu wirklichem Klassenbewußtsein zu kommen. Aber ein Regime, das solche Phänomene ignorieren und die schon offenkundigen Ungleichheiten noch verschärfen, ja diese Ungleichheiten in die Arbeiterklasse selbst einführen würde, nähme ein großes Risiko auf sich. Und ich zweifle, ob die vorsichtigen Konservativen im Kreml bereit sind zu einem solchen Risiko, es sei denn, sie hätten keine andere Wahl.

Tatsächlich würde auch die Errichtung von Unternehmungen, die durch die laufende Produktion zurückgezahlt würden und nur einen geringen Ertrag abwürfen, keineswegs zu glänzenderen Ergebnissen führen. Sie würde die Sowjetunion zu enormen Zinsenlasten für die gewährten Kredite verurteilen, was die wirtschaftliche Zukunft des Landes sehr belasten würde. Jedenfalls wird es den stolzen russischen Nationalisten nie angenehm sein, auf ihren Fabriken die Firmenzeichen der Farbwerke Hoechst, von Krupp, Daimler oder Siemens zu sehen: die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist noch zu intensiv, als daß man dieses Ärgernis leicht verdaute.

Wenn sie außerdem entdecken, daß sie potentielle Kolonien der großen „philanthropischen“ Wirtschaftstrusts des Westens sind, wie werden sie dann reagieren? Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder führen die so vielgerühmten Abkommen letztlich nur zu einem leichten Ansteigen des sowjetischen Außenhandels, oder sie führen zu wirtschaftlichen Vorgängen größeren Ausmaßes, die eine grundstürzende Änderung der sowjetischen Gesellschaft erfordern. Trotz des äußeren Scheins von Routine befindet sich die Sowjetunion wahrscheinlich an einem Wendepunkt ihrer Geschichte. Auch die sowjetischen Staatsbürger werden sich, bei allem Informationsmangel, sehr rasch dieser Tatsache bewußt werden.

„Wenn man Handelsabkommen mit Frankreich schließt, wird man endlich gute Parfüms bekommen“, sagte mir eine Moskauerin in der Metro. Leider wird das Parfüm, das sie bekommt, kein „Chanel Nr. 5“ sein; es wird schlicht und einfach das Parfüm des Kapitalismus sein, wenn diese Verträge im Geist Pompidous angewendet würden. In Vorwegnahme dieser Realität, die er so sehr herbeiwünscht, hat der französische Präsident immer wieder den unvermeidlichen Triumph dieser „industriellen Gesellschaft“ betont, in Ost wie West. Das aber ist nichts anderes als ein neuer Name für die alte kapitalistische Gesellschaft.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)