Grundrisse, Nummer 47
Mai
2013

Knapp daneben ist auch vorbei

Ein Rezensionsessay zu Marx und die Philosophie von Urs Lindner

Mit dem Buch Marx und die Philosophie hat Urs Lindner eine umfangreiche Interpretation des gesamten Werks von Karl Marx vorgelegt. Diese genaue und sorgfältige Arbeit enthält eine Fülle interessanter Aspekte und scharfsinniger Überlegungen. Im Detail ist das über 400 Seiten starke Buch oftmals interessant und erhellend. Sehr trefflich finde ich seine Argumente, die Marx aus dem Bannkreis der Philosophie Hegels heraustreten lassen. Lindner zeigt auch überzeugend, dass es Marx letztlich gelungen ist, so etwas wie eine empirisch gestützte Sozialwissenschaft zu entwickeln, deren Elemente und Verfahren sich nicht auf Hegel zurückführen lassen. Ebenso finde ich seine Interpretation der Methodik von Marx im so genannten Manuskript M, einer Arbeit im Kontext der Abfassung der Grundrisse, sehr lesenswert.

Leider, so meine ich, kommt der Autor mit einigen ganz wesentlichen Positionen von Marx nicht wirklich zu recht und vor allem kann er die Aktualität des Denkens von Marx nicht plausibel begründen. Obwohl im Klappentext angesprochen wird nicht klar, warum wir heute mehr denn je mit Marx denken müssen, um die aktuellen Verhältnisse und Prozesse zu verstehen. Das ist schade, da sein Ausgangspunkt sehr vielversprechend klingt. „Je tiefer“ sich der Autor in Marx hineindachte, „desto mehr wurde mir klar, dass nicht nur der ‚Hegelmarxismus‘ sondern auch der von mir favorisierte französische Philosoph“, gemeint ist Althusser, „sich in theoretischen und politischen Sackgassen festgefahren hatte.“ (7) [1] Insofern stimme ich mit Lindner völlig überein, eine angemessene Marxinterpretation kann sich nur jenseits von Hegelmarxismus und der Althusserschule entfalten. Hegelmarxismus definiert Lindner erstmals zutreffend in seinem Glossar folgendermaßen: „Hegelmarxismus: eine Deutung des marxschen Werks, die meint, das Kapital sei der hegelschen Logik nachgebildet, bzw. der Kapitalbegriff eine materialistische Fassung von Hegels ‚Geist‘“ (419)

Wie geht Lindner vor? Der Autor arbeitet im wesentlichen mit zwei Textarten, mit sehr allgemeinen und überblicksartigen Kommentaren und mit sehr akribischen, oftmals all zu sehr am Wort orientierten Interpretationen, wobei er die Marxschen Texte in ihrer chronologischen Entstehung von den Frühschriften bis zu den späten Werken nacheinander diskutiert um so die Entwicklung des Marxschen Denkens dokumentieren zu können. Er schlägt folgende Periodisierung der Entwicklung der Marxschen Philosophie vor:

1841-1844: Junghegelianische Sozialphilosophie
1845/46: Philosophischer Einschnitt und Entstehung einer realistischen Sozialphilosophie
1846-1859: Hochphase des historischen Materialismus
1950-1858 Übergang zur Sozialwissenschaft
1859-1883: Kritik der politischen Ökonomie
1868-1883: Abbau der Geschichtsphilosophie (19)

Interessanterweise geht er nur auf den ersten Band des Kapital ein. Seine Textinterpretationen kann ich nicht im Detail nachzeichnen, aufgefallen ist mir, dass er oftmals über bloße Paraphrasierungen nicht hinauskommt und öfters zu sehr am Wort klebt. Lindner neigt dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. So überrascht es nicht, dass er das Buch des analytisch orientierten Philosophen A.G. Cohen Karl Marx’s Theory of History sehr positiv einschätzt. (205f) Analytische Philosophie mag sich für die Untersuchung einzelner Aussagen oder Gruppen von Aussagen eignen, nicht jedoch für umfassende, komplexe Theorien, da das Nichtgesagte, nicht unmittelbar Ausgesprochene mit dieser Methode nicht untersucht werden kann und doch als bestimmend präsent ist. Lindner kann sich letztlich nicht entscheiden, ob er die Marxsche Philosophie als unabgeschlossenen Torso charakterisieren will – „Nach meiner Lesart ist das marxsche Werk von gegenläufigen Tendenzen durchzogen, die es zeitweise (fast) zerreißen.“ (216) – oder ob zumindest das Spätwerk in einer Sozialwissenschaft terminiert, welche ohne Hegelsche Geschichtsphilosophie auskommt und zudem eine gewisse Geschlossenheit und Systematik aufweist. Das Verhältnis von Bruch und Kontinuität im Marxschen Werk bleibt trotz oder gerade angesichts der Fülle von Aussagen eigentümlich unbestimmt. Fast beiläufig meint er, das Marxsche Werk sei „in einem elementaren Sinn heterogen und unabgeschlossen“ (11). Nun, so heterogen stellt Lindner Marx andererseits wieder nicht dar, so betont er zum Beispiel völlig zu recht, dass es im „Kapital keinen Bruch mit der früheren Entfremdungsthematik“ gäbe. „Vielmehr verteilen sich deren normative Gehalte nun auf ein komplexeres ethisches Begriffsvokabular.“ (346) Aber wie steht es um die Unabgeschlossenheit? Dieser Vorwurf führt uns ins Herz des Verständnisses der Kapitalanalyse. Was, so können wir fragen, wäre den ein Abschluss gewesen? Was hätte Marx schreiben müssen, damit sein Werk als abgeschlossen gelten kann? Die These der Unabgeschlossenheit korrespondiert direkt mit der Fehlinterpretation, Marx hätte im Kapital die kapitalistische Produktionsweise „in ihrem idealen Durchschnitt (MEW 25, 839)“ (216) analysiert. Nun, ein idealer Durchschnitt läst sich hypothetisch vollständig und zutreffend analysieren, aber liegt dem Gegenstand des Kapital tatsächlich ein solcher zugrunde? Bei Marx heißt es überdies, er untersuche die „innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt“. Lindner übersieht gerade hier ganz großzügig den Ausdruck sozusagen.

Im Grunde geht es jedoch nicht um ein Wort, im Grunde geht es um die Frage, ob wir die Analyse des Kapitalverhältnisses von der Geschichte des Kapitalismus abkoppeln können? Marx hat nichts „abgeschlossen“ weil es beim Thema Kapitalverhältnis nichts abzuschließen gibt. Die Geschichte des Kapitalverhältnisses ist kein belangloses Zubehör zur Analyse des „idealen Durchschnitt“, das ist der Punkt. Da Geschichte nicht abgeschlossen ist, ist auch eine Theorie, die sich auf einen geschichtlich-gesellschaftlichen Gegenstand bezieht, nicht abzuschließen. Im Gegenteil, soll Aktualität des Marxschen Werkes eingeklagt werden, so ist der Blick auf die historische Abfolge der Versuche und Methoden der kapitalistischen Herrschaft das Klassenverhältnis durchzusetzen, zu sichern und permanent zu erneuern, unumgänglich. Er selbst wendet in den sehr überzeugenden Passagen zum Wissenschaftsverständnis bei Marx kritisch gegen Althusser ein: „In seiner [Althussers K.R.] Vorstellung von Erkenntnis als Produktion gibt es nämlich keinen eigenständigen Platz für Empirie.“ (243) Aber wo ist der Platz für Empirie in der Rezeption der Kapitalanalyse durch Lindner, wenn es doch angeblich um den idealen Durchschnitt geht?

Nach meiner Auffassung lassen sich bis dato vier Perioden der kapitalistischen Produktionsweise unterscheiden. Zwei davon hat Marx im Kapital untersuchen können, nämlich die Phase der Manufaktur und die darauffolgende Phase der „großen Maschinerie“ (12. und 13. Kapitel im ersten Band). Fordismus und die aktuelle Phase des finanzgetriebenen Kapitalismus können wir nun mit den Begriffen und Analysen von Marx weiter untersuchen und verstehen. Die Marxsche Theorie liegt nach meiner Auffassung in Form vor, die es erlaubt damit zu arbeiten, Erkenntnisse zu gewinnen und Untersuchungen zu führen. Generationen von AutorInnen haben mit der Marxschen Theorie in dieser Weise gearbeitet und werden es weiter tun. Damit ist klarerweise nicht gemeint, Marx hätte jede Frage bis hinter die Kommastelle gelöst, aber wir haben weder einen Theoriesteinbruch noch inkompatible und sich widersprechende Theorieelemente geerbt.

Die Rezeption des Kapital durch Lindner

Die fehlende und unzureichende Begründung für die Aktualität des Marxschen Werkes liegt meiner Ansicht nach unmittelbar in der Lesart des Marxschen Hauptwerks durch Lindner begründet. Seine Darstellung unterstellt zwei Sprachen der Analyse bei Marx. Einerseits die Sprache, in der die eigentliche Kapitalbewegung dargestellt wird. „Auch das Kapital ist ein gegenständliches prozessierendes soziales Verhältnis, in dem diese Bewegung allerdings Selbstzweck ist.“ (307f) Zu der Analyse des prozessierenden Verhältnisses gesellt sich eine zweite Theoriesprache, jene der dichten ethischen Beschreibung. „Die Mehrwertproduktion evaluiert (sic!) Marx dabei mit dem dichten ethischen Begriff der Ausbeutung, dem er in der Untersuchung des Arbeitstages mit einem zugespitzten Metapherngebrauch die Drastik eines Schreckenszenarios verleiht.“ (308) Einerseits gibt es die Analyse der objektiven Kapitalmechanismen, andererseits evaluiert Marx und „verleiht“ den Verhältnissen eine bestimmte ethische Färbung. Nun, die These von den zwei inkompatiblen Sprachen im Kapital wurde vor Jahrzehnten bereits im Kontext der Habermas Schule entwickelt, ich erinnere mich in diesem Zusammenhang gerne an meinen damaligen Dissertationsvater Ludwig Nagl. Lindner kommt ihr jedenfalls sehr nahe, ebenso findet die uralte Unterscheidung zwischen logischen und historischen Passagen bei unserem Autor eine Wiederauferstehung. Die Passagen von Marx zum Kampf um den 10 Stundentag in England kommentiert er nämlich folgendermaßen: Diese Passagen unterbrechen „die mechanismische Erklärungsfolge des Kapitals“ und knüpfen „methodisch an den 18. Brumaire“ an. (308) In das Kapital eingefügt sei eine „historische Narration sozialer Kämpfe“. (307) Die logische Darstellung wird sozusagen durch die historische unvermittelt unterbrochen. Narration bedeutet nichts weiter als Erzählung, es gäbe also einerseits Analysen des „prozessierenden Verhältnisses“ und eben eingestreute Erzählungen. Lindner präsentiert uns letztlich eine zwei Weltentheorie. Einerseits gäbe es die Welt des Kapitals, als prozessierender Selbstzweck, andererseits die Welt der „kontingenten Kräfteverhältnisse, überdeterminierte Konfliktverläufe und normativen Eigendynamiken“ (308), schlichter ausgedrückt, die Welt der sozialen Kämpfe und der Rebellionen, die aber das eigentliche Klassenverhältnis keineswegs konstituieren. Die Welt der Klassenkonflikte wird fein säuberlich aus der Kapitalanalyse ausgegliedert, sie stellt sozusagen eine andere Baustelle dar. Das Immergleiche von Ware Geld, das Durchgängige der Bewegung G – W – G’, kurzum auf die Dimension des „automatischen Subjekts“ steht neben ethisch konnotierten geschichtlichen Erzählungen. Lindner hat sich von Althusser doch nicht so weit entfernt, wie es in manchen Passagen den Anschein hat.

Letztlich präsentiert uns Lindner eine Dichotomie von Kapitalverhältnis einerseits und ethischen Werten und Postulaten andererseits. Ich zitiere dazu eine sehr bemerkenswerte Passage: „Marx nimmt dabei einen positiven Freiheitsbegriff in Anspruch und kommt letztlich auch nicht ohne ein an diesem orientierten Gleichheitsideal aus. (…) Worum es hier geht, sind rudimentäre Ansätze eines Sozialstaates, dem es historisch im 20. Jahrhundert gelungen ist, zumindest vorübergehend und in manchen Regionen der Welt die im Kapital herausgearbeiteten Destruktionstendenzen der kapitalistischen Produktionsweise einzudämmen. Nach Marx müssen solche Regelungen dem Kapitalismus in sozialen Kämpfen abgetrotzt und gewissermaßen ‚von außen‘ aufgezwungen werden.“ (353) Mit dieser Wende ist der Klassenkampf – ein Ausdruck den Linder scheut wie der Teufel das Weihwasser – gewissermaßen aus dem Kapitalverhältnis selbst externalisiert. Nebenbei, Gerechtigkeit ist kein Bezugspunkt für Marx, weil sich aus Gerechtigkeit die Formüberwindung nur sehr umwegig, wenn überhaupt, begründen lässt.

Lindner gewinnt aber dadurch eine theoriestrategische Möglichkeit. Wenn es neben der Kapitalanalyse noch eines philosophischen Diskurses über Ethik und Gerechtigkeit bedarf, dann ist der Weg auch zu Rawls, Habermas und Co, aber auch zum Diskurs um das Politische geebnet. Und tatsächlich kokketiert unser Autor auch ein wenig mit diesen Diskursen. Letztlich, und offenbar vom Wunsch getragen den Anschluss an die neomarxistische Debatte um das Politische nicht zu verlieren, Gott weiß warum, wird die von Marx propagierte Auflösung und Überwindung der Formen des Kapitalverhältnisse, auf Basis der im und durch dieses Kapitalverhältnis geschaffenen emanzipatorischen Gehalten – „wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechende Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.“ (MEW 42; 93) – zu einem „mehr an Politik“ (386) gemodelt. Das sich im Kapitalverhältnis immanent (!) die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft materiell und ideell eröffnet, ist Lindner offenbar sehr fremd.

Indem Lindner die Marxsche Theorie in zwei Bereiche aufteilt, kann er die politischen, ökonomischen, sozialen und emotionalen Formen der Herrschaftssicherung und des Widerstandes dagegen nicht als integraler Bestandteil der Kapitalanalyse erkennen. Der Klassenkampf konstituiert nichts, er ist dem Kapital wohl eingefügt, wie und mit welcher Bedeutung für die Dynamik des Kapitalismus bleibt offen. Dem synchronen, quasi ethisch neutralen Durchschnitt dieser Produktionsweise stellt er die genealogischen (gemeint ist historischen) ethischen Evaluationen und die Erzählungen über soziale Kämpfe entgegen. Wenn das Marxsche Werk derart zerrissen wird, dann ist wohl klar, dass uns Marxsche Kategorien und Begriffe kaum helfen können etwa den Überhang vom Fordismus zum Neoliberalismus zu verstehen. Dem Ökonom Marx wird der Historiker und Ethikphilosoph Marx entgegengestellt.

Verknüpft werden diese unterschiedlichen Theoriewelten mit einer Art Metatheorie: „Für die gemeinsame Komplexitätsorientierung beider Ansätze [salopp gesagt, Ökonomie und Politik, KR] ist nicht entscheidend, dass immer alles behandelt wird, sondern der Umgang mit Komplexität. Da die Welt unendlich vielschichtig ist, kann Wissenschaft ihre Gegenstände nie in deren ganzer verwickelter Vielfalt fassen. Auch für Marx geht es nach 1850 immer darum, die wesentlichen Eigenschaften seiner Objekte sichtbar zu machen – allerdings auf eine Weise, die diese nicht mehr, wie die klassisch-newtonianische Wissenschaft, unter ewige Gesetze subsumiert, sondern indem Zeit, Wandlungsdynamik und strukturierte Kontingenz in den Blick rücken.“ (259) Die „hegemonietheoretische Untersuchung des 18. Brumaire und die marxistische Kritik der politischen Ökonomie in ein und demselben Theorieprogramm zu verorten: einer historischen Sozialwissenschaft.“ (272) Aber diese „historische Sozialwissenschaft“ ist ein bloßer Mantel, der dem überhistorischen „idealen Durchschnitt“ und der kontingenten „hegemonietheoretischen Untersuchung“ übergeworfen wird.

Staat und Politik bei Marx aus der Perspektive des Autors

Ich möchte im Folgenden meine These, Lindner neige dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, anhand einiger Themen näher illustrieren. Ich stelle dem immer eine knappe Skizze meiner Auffassungen als Kontrastfolie voran.

Wenn der Blick für das Wesentliche nicht in Details untergeht so kann doch über das Verhältnis von Staat, Ökonomie und Politik bei Marx folgendes gesagt werden: Marx unterscheidet sehr klar zwischen dem Kern des revolutionären Prozesses, der in der Überwindung des Kapitalverhältnisses und seiner Formen (Ware, Geld, Lohnarbeit, Eigentum an Produktionsmittel usw.) besteht und der sekundären, aber deswegen keineswegs zu ignorierenden Dimension des Sturzes der jeweiligen politischen Herrschaft und der Überwindung des Staates. Wobei, so meine Auffassung, Marx zwischen sozialer Herrschaft und politischer Herrschaft klar unterscheidet. Die politischen Machthaber sind keineswegs mit der Klasse der KapitalbesitzerInnen schlichtweg identisch und umgekehrt. In einer frühen Arbeit bestimmt Marx den Doppelcharakter der Umwälzung recht präzise: „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch.“ (MEW 1, 409) Marx ordnet nun die soziale Revolution der politischen Revolution vor, es kann letztlich nicht um den Wechsel in der politischen Herrschaft, sondern muss um die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst gehen. Diese Position entwickelt Marx nach und nach immer klarer und differenzierter.

Auch wenn diese kleine Skizze nicht akzeptiert wird, so wäre doch eine Alternative dazu angeraten. Lindner hat jedoch keinen Blick für diese theoretischen Zusammengänge, trotz oder gerade wegen einer Flut von Details und für sich stehender interessanter Überlegungen. Immer wieder ertrinkt er geradezu in den Details, wenn ich das so sagen darf. Schon bei seiner Analyse des Kreuznacher Manuskript, gemeint ist die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, schreibt Lindner haarscharf an der Pointe der Marxschen Kritik an Hegel vorbei. Marx kritisiert die von Hegel unterstellte Versöhnung von Staat und Gesellschaft und beharrt auf dem strikten Gegensatz. Dass der Prozess der Emanzipation den Staat überwinden muss, war Marx sehr rasch klar, ebenso, dass die Staatsmacht kein Mittel der Befreiung sein kann. Schreibt Marx 1843 noch davon, dass Emanzipation darauf beruht, dass der „wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt“ und seine „gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt“ (MEW 1; 370) so kann er angesichts der Pariser Commune nach 1871 diese Rücknahme als Ersetzung des Staatsapparates durch eine Rätedemokratie konkretisieren. Diese politische Dimension ist aber, soll sie geschichtsmächtige Dimension besitzen, auf die soziale Umwälzung angewiesen, eben auf die Auflösung der Formen der alten Gesellschaft, konkret die Überwindung der Lohnarbeit, die Überwindung des Eigentums an Produktionsmitteln, die Überwindung des zur Ware werden des Arbeitsproduktes, mithin die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. Lindner hat für diese Doppelbestimmung des revolutionären Prozesses keinerlei Sinn und kommt so zu eigentümlichen Fehldeutungen. Lindner betont zwar die Marxsche Kritik an „staatszentrierter Politikvorstellungen“. Zugleich will er aber die eigentliche Dimension der Befreiung bei Marx, eben die Umwälzung der Verhältnisse und Formen des Kapitalverhältnisses, allen voran die Überwindung der Lohnarbeit und somit der Klassen, in das Prokrustesbett des Politischen pressen und nennt die „Auflösung der alten Gesellschaft“ „Sozio-Politik“. Und so kommt Lindner zu folgender Schlussfolgerung: „Die marxsche Unterscheidung lässt sich auch ohne Probleme in die heutige postmarxistische Debatte um die Differenz zwischen ‚Politik’ und ‚dem Politischen’ übersetzen“. (98) Wie bitte? Die ProtagonistInnen des Politischen wie Mouffe, Laclau oder Marchart, nicht zu reden von Hannah Arendt als erste Stichwortgeberin, kritisieren den Bezug zur Klassenlage als Kontaminierung des Politischen und konzipieren eine Handlungssphäre, in der weder die Formen des Kapitalverhältnisses noch die Klassenposition eine konstitutive Rolle spielen sollen. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, ist es das himmlische Leben im politischen Gemeinwesen (Marx, vergl MEW 1; 355) des citoyen, das zum Begriff des Politischen veredelt wird. Nur wenn der Begriff des Politischen so weit gedehnt wird, so dass alle und jede gesellschaftsverändernde Aktivität darunter fällt, nur dann macht es Sinn, die Auflösung der alten Gesellschaft unter diesen Begriff zu fassen, der dadurch jedoch jegliche Trennschärfe verliert. Um das Wirrwarr noch zu vergrößern behauptet Lindner es gebe eine „Würdigung der parlamentarischen Demokratie“ (396) durch Marx im 18. Brumaire. Nun, wenn die scharfe Unterscheidung von Marx zwischen dem Staatsapparat und der dem Staat entgegengesetzten, an ihre Stelle tretenden Pariser Commune eingeebnet wird, dann lässt es sich auch behaupten, es handle sich in beiden Fällen um eine „Institutionalisierung des Politischen“. (396) Wir lernen somit: ob Staat, Commune, Räte, Vollversammlung, immer institutionalisiert sich das Politische. Und diese Sichtwiese soll mit Marx vereinbar sein?

Entfremdung

Auch bei der Rezeption von komplexen Theorien sind zwei Extreme zu vermeiden. Die Auffassungen und Positionen sollen weder simplifiziert und zu griffigen Formen herabgestuft werden, noch darf das Ausgesagte durch all zu übertriebene Akribie und Differenzierung vernebelt und verdunkelt werden. Dies gilt auch für den Begriff der Entfremdung bei Marx. Lindner kommt erneut nicht auf den Punkt. Basierend auf meiner inzwischen jahrelangen Beschäftigung mit Marx meine ich, dass der Begriff der Entfremdung folgendermaßen charakterisiert werden kann: Entfremdung ist als Prozess zu begreifen, im Gegensatz zum Fetisch, der eine scheinbare Dingeigenschaft anzeigt. Das Wertsein der Ware ist ein Fetisch, ebenso die scheinbare Eigenschaft des Geldkapitals, sich ohne Zutun menschlicher Arbeit zu vermehren. Entfremdung hingegen verweist auf Prozesse, bei denen das Resultat des eigenen Tuns als fremd, unbeherrschbar und feindlich dem tätigen Subjekt entgegentritt. Es lassen sich bei Marx zwei Figuren der Entfremdung unterscheiden: Erstens die klassenübergreifende allgemeine Entfremdung durch das Wertgesetz; welches sich hinter dem Rücken vermittels krisenhafter Phänomene regelnd durchsetzt. Auch wenn es die herrschenden Klassen in der Regel weniger als die beherrschten betrifft, so gilt diese Form der Entfremdung auch für sie. Hingegen ist die entfremdete Arbeit klassenspezifisch. Es ist das Proletariat, das durch Lohnarbeit das Kapital produziert, welches als versachlichte Macht das Klassenverhältnis erneut befestigt und die materiellen Mittel sozialer Herrschaft produziert.

Lindner kommt mit dem Begriff der Entfremdung nicht zurecht. Ich räume gerne ein, dass in dem sehr frühen Werk von Marx, nämlich in seinen Exzerpten zu Mill aus 1843 der Prozesscharakter noch nicht klar hervortritt, im Gegensatz zu den etwas später verfassten Pariser Manuskripten. Im Mill Manuskript verknüpft Marx die Fremdbestimmung durch den Markt mit dem Begriff der Entfremdung. Dort dominiert der Gedanke, dass Arbeit und (deren) Produkt durch „fremde gesellschaftliche Kombination bestimmt wird“. (MEW Erg. Bd., 454) Lindner überschätzt meiner Auffassung nach dieses sehr frühe Manuskript, bereits in den Pariser Manuskripten tritt der Prozesscharakter der Entfremdung deutlich hervor. Lindner kann mit diesem Marxschen Text offenbar nicht viel anfangen, seine Analyse gerinnt zur bloßen Paraphrasierung. Halberkenntnisse wie: „Entfremdung meint dementsprechend die wachsende Kluft zwischen akkumulierten Fähigkeiten und ihrer blockierten Verwirklichung“ (117) helfen uns im Verständnis nicht weiter. Auch folgende Aussage ist nicht schlichtweg falsch, trifft aber den Kern des Entfremdungsbegriffes keineswegs: „Wie schon in den Pariser Manuskripten wird in den Grundrissen unter Entfremdung zunächst selbsterzeugte Ohnmacht und Reflexivitätsblockierung verstanden.“ (254) Statt zu klären wird kräftig vernebelt: „Innerhalb der deutschsprachigen Diskussion sind hier an erster Stelle Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa zu nennen, die Entfremdung als ‚Beziehung der Beziehungslosigkeit‘ bzw. ‚gestörte Aneignungsbeziehung‘ und als Blockierung von ‚Resonanz‘ und ‚Positivität‘ fassen.“ (107) Solche Formeln, die Entfremdung mit einem diffusen Unbehangen an der Welt identifizieren sind wertlos und irreführend. Da Lindner keinen klaren Begriff von Entfremdung entwickelt, identifiziert er damit schlichtweg viele Phänomene, die sich mit Hemmung, Fixierung, Blockierung usw. in Verbindung bringen lassen. So etwa auch die berühmte Passage aus der Deutschen Ideologie, in der Marx über die herrschende Form von Arbeitsteilung spricht, die das Individuum auf bestimmte Tätigkeiten fixiert und uns zwingt Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker zu sein und es bleiben zu müssen. (Verg. 183f) Das ist keineswegs mit Entfremdung gemeint.

Lieber nichts sagen, als etwas Angreifbares formulieren

Vage ist nicht nur seine Rezeption des Entfremdungsbegriffes, sondern auch des Wertbegriffs selbst. Lindner hat offenbar Probleme mit der Zeitbestimmung der Wertgröße bei Marx. Marxens Aussage: „Ökonomie der Zeit, darin löst sich alle Ökonomie auf.“ (MEW 42; 105) ist ihm offenbar nicht geheuer. Anstatt klar zu sagen, wie er den Wertbegriff bei Marx versteht, geht er folgendermaßen vor. Erstmals wird die „Arbeitsmengenlehre“ (283) vollständig mit Ricardo identifiziert. Die entsprechende Kritik von Sraffa und Bortkiewicz treffe daher nicht Marx sondern eben Ricardo. Nun, was Bortkiewicz betrifft, so meine ich dessen Kritik am angeblichen (real nicht existierendem) Transformationsproblem (es geht um die Umwandlung der Werte in Produktionspreise) in meinem Buch Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen des freien Gemeinwesens gründlich zerpflückt zu haben. Lindner passt sich dem Mainstream an und akzeptiert ohne weitere Argumente die angeblich so treffende Kritik an der „Arbeitswertlehre“ von Sraffa und Bortkiewicz bei Marx, leitet diese aber an Ricardo weiter, da es bei Marx so etwas wie eine „Arbeitswertlehre“ gar nicht gäbe. Nun, eine simple Arbeitswertlehre existiert bei Marx in der Tat nicht, die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit nimmt im Kapitalverhältnisse eben die spezifische Wertform an, und diese Form ist wiederum Ausdruck der sozialen Beziehungen. Wir sollten also von einer gesellschaftlich-geschichtlichen Werttheorie bei Marx sprechen, obwohl sich alles letztlich in theoretisch messbaren Zeitquanten auflösen lässt. Ob Zeit messbare Zeit bleibt oder Wertform annimmt, in der die Zeitgröße nicht mehr ersichtlich ist, macht den Unterscheid ums Ganze aus. „Dass die Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich historisch in verschiedenen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, in der sich jene Gesetze durchsetzen.“ (Brief von Marx an Kugelmann vom 11. Juli 1868)

Was behauptet hingegen Lindner? „Wert ist bei ihm gerade nicht Ausdruck einer messbaren Arbeitsmenge, sondern eine qualitative ökonomische Prozesskomponente, für die Wertsummen lediglich als Illustrationen dienen und für die Größen nur als Proportionalitäten relevant werden.“ (282) Was soll jene seltsame qualitative ökonomische Prozesskomponente sein, die durch Wertsummen illustriert werden. Was meint da illustrieren, was wird mit Wertsummen bebildert, warum diese Metapher? Und wieso sind die Größen der Prozesskomponenten für diese nur als Proportionalitäten bedeutsam? Verstehe wer will. In gerade 26 Zeilen schaffe es Lindner jegliche Klarheit bezüglich der Marxschen Werttheorie zu beseitigen und uns letztlich mit einer Formel abzuspeisen, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Im Übrigen ist die gesellschaftlich verfügbare Arbeitszeit selbstverständlich auch als absolute Größe relevant. Es ist keineswegs egal, wie viel Arbeitszeit in einer bestimmten konkreten Situation geleistet werden kann. Gesellschaftliche Aggregatsgrößen, wie die Summe des Mehrwerts, sind nicht relational, sondern absolut. Ebenso ist die Produktivkraft der Arbeit eine objektive Zeitgröße, was denn sonst! Ich kann mir diese Nullaussage nur durch das Bemühen von Lindner erklären, sich ja nicht all zu sehr aus dem Fenster zu lehnen. Ich kann mich des Eindrucks einfach nicht erwehren, dass Lindner vor lauter Vorsicht und Rücksicht klaren und daher auch angreifbaren Formulierungen immer wieder ausweicht und bei heiklen Fragen Formulierungen ohne Botschaft bevorzugt. Zu viel Immunisierungsstrategie schlägt oftmals ins Gegenteil um.

Resümee [2]

Viele detailreiche und interessante Überlegungen ergeben in Summe aber noch kein erhellendes Bild der Marxschen Philosophie. Und jegliche Rezeption beruht auch auf klaren Interpretationsentscheidungen, die nicht durch Materialfülle und bloße Untersuchungsreihen ersetzt werden können.

[1Zahlen in Klammer beziehen sich auf die Seiten seines Buches Marx und die Philosophie, Stuttgart 2013

[2Es gibt Passagen in Büchern, die provozieren. Es ist immer problematisch darauf zu reagieren, zumal die Replik positive Aspekte vernebelt und ein ausgewogenes Urteil verhindert. Aber ich frage mich schon, was sich unser Autor bei folgenden Aussagen gedacht hat. Lindner kritisch gegen Marx: „Für ihn [Marx] ist der Kapitalismus eine historische Notwendigkeit.“ (209) Daher, so die Schlussfolgerung, gäbe es bei Marx herrschaftsaffirmative Aspekte. Um Himmels willen, was soll das für eine Debatte sein? Sollen wir nun grübeln, ob der Kapitalismus doch zu vermeiden gewesen wäre? Und was wer wann und wie zu tun gehabt hätte um ihn zu verhindern? Oder trösten wir uns mit der Versicherung, Geschichte ist offen, also war sie offen. Zu behaupten, wer den Kapitalismus als historisch notwenig erachtet, bejahe Herrschaft, ist doch einigermaßen absurd, da die Gegenthese in reiner Spekulation versanden muss. Doch Lindner legt nach: „Wer heute an Marx anknüpfen will, sollte die Frage, ob es in seinem Denken Seiten gibt, in denen Stalin schlummert, niemals leichtfertig abtun.“ (211) Ich meine viel bescheidener, wer hier und heute ein Buch zu Marx (oder sonst wem) verfasst, sollte dem Druck des universitären, akademischen Milieus gewahr werden und vor allem der vorauseilenden Affirmation selbst der läppischsten Theorieströmungen, bloß weil deren ProtagonistInnen in den Pantheon der Wissenschaft eingegangen sind. Nicht der kleine Stalin in uns ist ein reales Problem, sondern der wachsende Anpassungsdruck. Ja nur keine angreifbaren Aussagen, ja nur kein übereiltes kritisches Wort, ja nur nicht Unsinn Unsinn nennen. Ja nur nicht die Anschlussfähigkeit verpassen. Ja sich nur keine Feinde schaffen und vor allem, immer alles irgendwie gelten lassen. Und bitte keine falsche Bescheidenheit: „Für Fehldeutungen und Schwächen des Buches, die trotz all dieser großartigen Unterstützung geblieben sind, ist natürlich keineswegs niemand anderer als ich selbst verantwortlich“. (8) Aber keineswegs! Wir sind keine Stirnerische Monaden und all unser Tun, insbesondere das Schreiben von Büchern in hoch spezifischen Kontexten ist niemals das Werk einer einzelnen Autorin. Es mag in Grenzfällen wirklich unabhängige Denker geben, etwa Canetti und sein Buch Masse und Macht, aber gerade diesem Buch sieht man an der Nasenspitze an, dass es aus und für ein ganz bestimmtes Theoriemilieu verfasst wurde. Alle Vorzüge und Nachteile dieses Milieus finden sich gerade in diesem Buch geradezu eins zu eins abgebildet. Also lassen wir das mit dem Stalin und reflektieren wir ernsthaft über unsere intellektuellen und sozialen Existenzbedingungen.

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