MOZ, Nummer 56
Oktober
1990
Golfkrieg:

Kommen die Araber?

Die archaische Ordnung im arabischen Raum bricht zusammen. Eine politische Neuordnung der Region steht bevor. Der Westen kämpft gegen eine starke arabische Nation.

Ein Hosni Moubarak-Portrait wird verbrannt, Israel
Bild: Contrast

Seit die osteuropäischen Staaten beschlossen haben, Einlaß in den Exklusivclub des Westens zu begehren, hat der früher einer konkreten geographischen Realität entbehrende Begriff „Norden“ eine neue Bedeutung angenommen: Ost und West sind dabei, gegenüber dem Süden auf Konfrontationskurs zu gehen. Ganz offensichtlich hat sich der Norden die Golfkrise zunutze gemacht und seine ganze geballte Macht gegen einen südlichen Unruhestifter geworfen. Die NATO und ihre potentiellen Alliierten haben so eine neue Aufgabe gefunden.

Die Tatsache, daß selbst die Schweiz sich diesmal nicht die sonst übliche Zurückhaltung auferlegt und eiligst die irakischen und kuwaitischen Guthaben eingefroren hat, ist vielsagend: der „zivilisierten Welt“ geht es nicht nur darum, ihre Versorgung mit günstigem Erdöl sicherzustellen, sie will sich auch den Verkaufserlös aneignen und ihn in ihren Banken „in Sicherheit“ bringen.

Ende der 80er Jahre war der Ölpreis (inflationsbereinigt) auf das Niveau von 1973 gesunken, während sich die Kurse der meisten westlichen Basisexportprodukte real mehr als verdoppelt, ja sogar verdreifacht hatten. Wem also kam diese Entwicklung des Ölpreises zugute? Und wer hatte die Rechnung zu begleichen?

Diese Fragen könnten sich zahlreiche nicht-erdölproduzierende Staaten zu Recht stellen, denn sie haben im gleichen Zeitraum eine Verschlechterung ihrer terms of trade hinnehmen müssen. Für die ohnehin bereits verarmte Bevölkerung bedeutete das eine weitere Senkung des Lebensstandards, vor allem auch auf Grund der Sparpolitik, die der Internationale Währungsfonds (IWF) ihr aufzwang.

Das Bewußtsein der Araber, der „Dritten Welt“ anzugehören, wird durch eine ganz spezifische Erfahrung gestärkt: Araber sind nicht nur Zielscheibe der Rassisten im Westen. Seit mehr als einem Jahrhundert behindert der Westen — wo er nur kann — ihre Bemühungen, ins moderne Zeitalter einzutreten, eine echte wirtschaftliche und soziale Entwicklung einzuleiten und ihre nationale Einheit zu verwirklichen.

Schmach und Erniedrigung

Die breite Zustimmung, auf die der irakische Präsident heute in der arabischen Gesellschaft stößt, hat ihre Wurzeln weder in einer Billigung der abenteuerlichen Vergangenheit des Diktators noch in seinen jüngsten Initiativen. Sie ist vielmehr die Folge jahrzehntelanger — genau gesagt seit der Schaffung Israels im Jahr 1948 — erlittener Erniedrigung. Die arabische Nation ist heute Opfer einer historischen Anomalie: im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Befreiung der unterdrückten Völker, mutet man den Arabern zu, die militärische, wirtschaftliche und politische Hegemonie eines Staates zu akzeptieren, der aus einer Siedlungskolonie entstanden ist und in der Region als reine Schöpfung der alten kolonialen Ordnung gilt.

Die fünf großen israelisch-arabischen Kriege haben entweder mit der Niederlage der arabischen Armeen geendet oder sind, wie 1973, in einer militärischen Sackgasse steckengeblieben. Die Weigerung der Israelis, die durch Waffengewalt eroberten Gebiete zurückzugeben, die Entschlossenheit, mit der sie jede Initiative der Nachbarn zum Aufbau wirtschaftlicher oder sozialer Systeme oder einer etwa gleich starken Militärmacht vereiteln, bringt sie dazu, ständig das Völkerrecht zu verletzen. Die „zivilisierte Welt“ regt das weiter nicht auf.

Aber Israel allein ist nicht schuld an den angehäuften Frustrationen. Das Fortbestehen der kolonialen Ordnung in dieser Region ist auch der Aufsplitterung Arabiens während der Kolonialzeit geschuldet. Diese Zersplitterung wurde später durch Abkommen bestätigt, die zum Entstehen von kaum bevölkerten Mini-Staaten führten, deren großer Reichtum das „schwarze Gold“ war. An die Spitze dieser künstlichen Gebilde setzte man Stammesführer, die man mit Titeln wie Scheich, Emir oder König bedachte. Nach Erreichung der formellen Unabhängigkeit blieben diese archaischen Regimes, oft genug gegen den Willen der Bevölkerung, an der Macht. Aufstandsversuche schlugen sie mit Hilfe der von den ehemaligen Kolonialmächten bereitgestellten Streitkräfte nieder.

Die schreiende materielle Ungleichheit zwischen den Einwohnern der Erdölmonarchien und den übrigen, wesentlich bevölkerungsreicheren arabischen Staaten hält die nationalen Frustrationen wach, umso mehr, als die Einkommen in Form von Petrodollars im Westen investiert werden.

Man mag es begreifen oder nicht; es ist eine Tatsache, daß sich der arabische Nationalismus zwischen den Völkern, die die arabische Nation ausmachen, nicht unterscheidet. Seit Jahrtausenden haben sie jene Merkmale gemeinsam, die eine Nation ausmachen: die Sprache, die Kultur, das Rechtssystem, die Geschichte, die psychischen Reaktionen und jüngst auch dieselben Bestrebungen und politischen Kämpfe. Es geht ihnen bloß jenes Element ab, das im kapitalistischen Westen zum Zement der modernen Nationen geworden ist, nämlich ein integriertes Wirtschaftsleben und gemeinsame politische Institutionen.

Pro-Saddam Hussein-Demonstration in Kafr Kana
Bild: Contrast

Das Fehlen demokratischer Verhältnisse in den arabischen Staaten hindert die Bürger daran, sich für eine wirtschaftliche Vereinigung einzusetzten; aber die reichen Scheichtümer perpetuieren die Spaltung und Unterordnung Arabiens unter ausländische Interessen. Ein Vergleich ihrer Haltung mit der Israels drängt sich förmlich auf. Da die Petromonarchien nichts so sehr zu fürchten haben wie eine Einigung der arabischen Welt, die das Ende ihrer Privilegien bedeuten würde, sind sie auf ausländischen Schutz angewiesen.

Auch ihre Auslandsinvestitionen sind von dieser Abhängigkeit geprägt: Wenn Staaten der „Dritten Welt“ in der „Dritten Welt“ investieren wollen, kommen sie um die zentralen Institutionen des Kapitalismus nicht herum und festigen daher seine Herrschaft über Finanzüberschüsse und Empfangsländer. Selbst in den Fällen, wo Erdölstaaten ihre Entwicklungshilfefonds selbst verwalten, halten sie sich doch an die Auswahlkriterien und Methoden der internationalen Finanzinstitutionen und Entwicklungshilfeagenturen.

Dank der Investitionen und Geldüberweisungen der Gastarbeiter ist es im arabischen Raum zu einer Art von wirtschaftlicher Integration gekommen; einer Integration allerdings, die keineswegs einen wirtschaftlichen Zusammenschluß bewirkt, sondern wirtschaftliche und politische Abhängigkeit vom herrschenden System, eine Verstärkung der Ungleichheiten und Vertiefung der inner-arabischen Spaltung.

Die Tatsache, daß der Normalbürger im Golfkonflikt sich unter diesen Bedingungen auf die Seite des irakischen Präsidenten stellt, heißt nicht, daß er die brutale Methode der Annexion befürwortet. Was für ihn zählt, ist der Schlag gegen eine westliche, vor allem amerikanische Machtbastion. Im übrigen schaut er nicht so genau hin. Instinktiv fühlt er, daß das Völkerrecht, solange es selektiv und stets zu seinem Schaden ins Treffen geführt wird, keinerlei moralische Autorität besitzt. Der Illegitimität der Annexion eines arabischen Staates durch einen anderen arabischen Staat hält er die Illegitimität einer politischen und wirtschaftlichen Weltordnung entgegen, die ihm alle Rechte vorenthält und seine Hoffnungen zunichte macht. Die Tatsache, daß es den USA — bei gleichzeitiger Mobilmachung der Land-, See- und Luftstreitkräfte (auch der mancher arabischer Staaten) — so rasch gelungen ist, die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren und die Staatengemeinschaft in den internationalen Foren für das Embargo gegen den Irak zu gewinnen, bekräftigt ihn nur in dieser Haltung ...

Der Zorn der Bevölkerung

Was für ein Gegensatz zwischen diesem hektischen Eifer und der jahrelangen Lethargie der Amerikaner, die im Sicherheitsrat der UNO jede Verurteilung Israels für die Besetzung des Westjordan-Landes, des Gazastreifens, der Golanhöhen und Ostjerusalems durch ihr Veto verhinderten (ganz zu schweigen von den ungesetzlichen israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten und anderen Verletzungen des Völkerrechts). Auch als Saddam Hussein sich bereit erklärte, über das chemische Waffenarsenal des Iraks und über Israels Atomwaffen zu verhandeln, stellten sich die Amerikaner taub. Sie waren nicht bereit anzuerkennen, daß es in beiden Fällen um die gleiche Bedrohung mensch-lichen Lebens geht.

Es ist klar, daß die Aktionen des irakischen Präsidenten der arabischen Einigung nicht gerade förderlich sind, aber die Zwistigkeiten im arabischen Lager sind ja nicht neu. Erst vor kurzem ist von befreundeten arabischen Staaten starker Druck auf die PLO ausgeübt worden; von jenen, die den Irak später verurteilt und sich bereit erklärt haben, die Waffen gegen ihn zu erheben: Diese Staaten haben sich letzten Endes doch bereit gefunden, den von Ägypten in Camp David eröffneten Weg einzuschlagen und so der Intifada einen harten Stoß zu versetzen.

Sieht man von Teilen der Bourgeoisie, der korrumpierten Bürokratie und den Geschäftsleuten, die mit dem Westen zu tun haben, ab, so gibt es in der arabischen Welt nur wenige, die nicht den Eindruck haben, von ihren Regierungen in eine Sackgasse geführt worden zu sein; Regierungen, die sich selbst als solche proklamiert haben und die außerstande sind, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu sichern und für die Achtung ihrer Würde zu sorgen.

Überall hat sich dieses Gefühl der Ungerechtigkeit und der Frustration breitgemacht, unter den Parteigängern der Oppositionsparteien ebenso wie in den pan-arabischen nationalistischen Bewegungen, den verschiedenen islamistischen und fundamentalistischen Gruppen und schließlich auch im ‚einfachen‘, sich nicht als ‚politisiert‘ verstehenden Volk. Der alte Kitt, der die arabische Welt zusammenhielt, beginnt abzubröckeln.

Sollten die Amerikaner einen überwältigenden Sieg erzielen, so wird nichts mehr so sein wie früher. Ein altes, archaisches System der Abhängigkeit ist zusammengebrochen; ein anderes, das es den arabischen Völkern erlaubt, ihre eigene Geschichte zu bestimmen, sollte entstehen. Aber im Augenblick will man nur die Gefahr einer militärischen Konfrontation wahrnehmen.

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