Streifzüge, Heft 3/2000
Oktober
2000

Kritik statt Habermas, Marx statt Marxismus

Bericht von einem Seminar in Frankfurt am Main

Am 10. Mai dieses Jahres fand in Frankfurt am Main im Rahmen einer Studienreise der Rosa Luxemburg Stiftung ein halbtägiges Seminar mit Mitgliedern der Marx Gesellschaft statt. Die Marx-Gesellschaft mit Sitz in Hamburg ist aus dem 1992/93 in Frankfurt am Main von Hans-Georg Backhaus, Diethard Behrens und Hans-Joachim Blank initiierten Marx- Kolloquium hervorgegengen und gehört zu den interessantesten, wenn auch stark akademisch orientierten Projekten einer undogmatischen Auseinandersetzung mit der Theorie von Marx und mit an Marx anschließender Gesellschaftskritik.

Einleitend informierte Rolf Hecker über die Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe, berichtete über MEGA-Arbeitsgruppen in Japan, den USA, Frankreich und Dänemark und wies darauf hin, daß auf Grund der Aktivitäten einiger notorischer MEGA-Gegner eine Unterstützung der Herausgabe der Schriften von Marx und Engels nach wie vor notwendig sei.

Hans-Joachim Blank beschäftigte sich mit dem Verhältnis der Kritischen Theorie und des heutigen Frankfurter Instituts für Sozialforschung zu Marx. Er wies darauf hin, daß der Begriff „Frankfurter Schule“ problematisch ist, da die zu Adornos und Horkheimers Zeiten am Institut für Sozialforschung Arbeitenden keine einheitlichen Positionen vertrteten haben, was insbesondere bei den Bezügen auf die Marxsche Theorie deutlich werde. Für Horkheimer habe es zwei zentrale Bezugspunkte gegeben: Schopenhauer und Marx. Die Interpretation der Marxschen Theorie sei stark vom Mitleidsbegriff Schopenhauers geprägt gewesen. Nach außen hin habe Horkheimer große Vorsicht walten lassen, sich nicht zu offensichtlich auf Marx zu beziehen. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren sei der öffentliche Bezug auf Schopenhauer stärker geworden, was auch mit einer intensiveren Beschäftigung mit religiösen Motiven einherging. In den Horkheimerschen Notizen werde allerdings deutlich, daß der Bezug auf Marx keineswegs aufgehört habe.

Bei Adorno waren die Bezüge auf Marx in den veröffentlichten Schriften deutlicher als bei Horkheimer. Blank wies aber darauf hin, daß sich die „Kapital“-Rezeption Adornos vor allem auf die ersten 100 Seiten des ersten Bandes beschränkte. Tatsächlich ist bei Adorno in der Regel von der Warengesellschaft und vom Warenfetisch die Rede, wohingegen der entwickelte Kapitalbegriff kaum zur Sprache kommt. Mit Bezug auf Hans-Georg Backhaus betonte Blank jedoch, daß sich in Adornos Werk wichtige Fragestellungen für die Interpretation der Marxschen Kritik finden.

Am heutigen Institut für Sozialforschung gelten Marx und Engles als tote Hunde. Die Kritik der politischen Ökonomie ist dort kein Thema mehr. Einzelne Forscher, die nach wie vor an der Marxschen Kritik interessiert sind und sich auch mit der Marx-Rezeption der Kritischen Theorie auseinandersetzen, vertreten keineswegs den Mainstream am Institut, sondern repräsentieren eine Minderheitenposition. In diesem Zusammenhang wies Blank nachdrücklich darauf hin, daß es sich schlicht um einen Irrtum handelt, jemanden wie Jürgen Habermas zur Kritischen Theorie zu rechnen. Und in der Tat hat die unkritische Theorie des Positivisten Habermas mit den Intentionen Horkheimers und Adornos nichts mehr gemein.

Diethard Behrens skizzierte die Marx- Rezeption in der BRD seit den sechziger Jahren und formulierte vor diesem Hintergrund einige Überlegungen zur Methode und zum Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie. Er verdeutlichte, daß es Marx stets um die Kritik der Totalität kapitalistischer Gesellschaften gegangen ist. Wie ist solch eine Totalität jedoch zu fassen? Die Antwort darauf müsse sich in der Methode finden lassen. Anhand der Einleitung zu den „Grundrissen“ skizzierte Behrens das Verhältnis von Abstraktem und Konkretem, von Einzelnem und Allgemeinem in der Marxschen Methode. Bei Marx geht es in der Regel um ein wechselseitiges Hervorbringen, um die vermittelnde Bewegung zwischen zwei Polen. Besonders deutlich wird dies wiederum in der Einleitung zu den „Grundrissen“, wo Marx unter anderem zeigt, daß Produktion und Konsumtion keineswegs unvermittelt nebeneinander existierende Sphären sind, sondern Elemente einer Einheit: „Das Resultat, wozu wir gelangen, ist nicht, daß Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion identisch sind, sondern daß sie alle Glieder einer Totalität bilden. Unterschiede innerhalb einer Einheit. (...) Es findet Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Momenten statt. Dies der Fall bei jedem organischen Ganzen.“ (MEW. Bd. 42. S. 34) Vor diesem Hintergrund wies Behrens darauf hin, daß bei Marx die Kritik Eingang in die Darstellung gefunden hat und diese Darstellung — wenn auch anders als bei Hegel — dialektisch wird.

In der Diskussion hob Behrens hervor, daß es Marx darum geht, an der Ökonomiekritik deutlich zu machen, was Gesellschaft ist. Blank betonte, daß es Marx im „Kapital“ nicht um eine andere Ökonomie gegangen ist, sondern um die Kritik der ökonomischen Kategorien, die als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse dechiffriert werden sollen. Daraus ergibt sich, daß die von Marx behandelten Kategorien auch keine Allgemeingültigkeit für alle Gesellschaften haben. Allgemeingültigkeit besitzten sie nur in der bürgerlichen Denkungsart. Jede andere Vorstellung würde automatisch auf eine Ontologisierung hinauslaufen. Hecker und Behrens verwiesen in diesem Zusammenhang darauf, daß der Marxismus-Leninismus genau diese Ontologisierung betrieben hat, indem die von Marx kritisierten Kategorien zu überhistorischen Bestimmungen erklärt wurden, während für Marx nur die Tatsache, daß in irgendeiner Form Naturaneignung stattfindet, epochenübergreifend war. Dem ML sei dadurch der Unterschied zwischen klassischer politischer Ökonomie und der Kritik an eben dieser abhanden gekommen.

Nadja Rakowitz referierte Auszüge aus ihrer Dissertation über „Einfache Warenproduktion“, die gerade im Freiburger ça ira-Verlag erschienen ist. Einleitend kritisierte sie die Vorstellung, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie sei einfach die Fortsetzung und Erweiterung der Arbeitswerttheorie Ricardos gewesen. Sie verdeutlichte, daß Ricardo anders als Marx nie nach der Bedingung gefragt hat, wie es überhaupt sein kann, daß Waren einander gleichgesetzt werden. Während sich die klassische politische Ökonomie vor allem mit der Frage nach der Wertgröße beschäftigt hat, wird bei Marx die Frage nach der Wertform zentral, also die Frage, wie es überhaupt möglich ist, daß x Ware a = y Ware b sein kann. Marx sei es nicht einfach um eine bessere Werttheorie gegangen, sondern um Wertkritik, die sich zunächst einen Begriff davon machen muß, was dieses merkwürdige Ding „Wert“ denn eigentlich ist. Rakowitz rekapitulierte die Marxschen Bestimmungen von Gebrauchs- und Tauschwert, von konkreter und abstrakter Arbeit und verdeutlichte, daß es sich bei letzterer um ein denknotwendiges Substrat handelt, um Waren vergleichen zu können.

Rakowitz erläuterte, daß die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit, die die Wertgröße bestimmen soll, bei Marx eine nichtempirische Kategorie ist und daher auch nicht real feststellbar. Das Paradoxe, das die Marxsche Kritik zu fassen versucht, besteht darin, daß Arbeit die Substanz des Werts bildet, Arbeit als diese Substanz nicht fixierbar ist, und dennoch eine Quantifizierung stattfindet. Genau dieses Paradox ist das Ausgangsproblem der Marxschen Wertformanalyse.

Rakowitz kontrastierte die Marxsche Wertformanalyse mit den Vorstellungen Proudhons. Wie Marx wollte Proudhon die Ökonomie des Kapitalismus kritisieren und auch abschaffen. Anders als Marx, dem es um die Kritik des Kapitalverhältnisses und damit um die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Totalität ging, zielte Proudhons Kritik jedoch nur auf einzelne Aspekte dieser Totalität. Er richtete sich gegen den Zins, verteidigte aber den Markt, das Geld und die Warenform. Davon ausgehend charakterisierte Rakowitz den Realsozialismus als eine Art Proudhonismus, der unter anderem die Ideale der Französischen Revolution verwirklichen wollte, die in Wirklichkeit nur vor dem Hintergrund des Kapitalverhältnisses zu verstehen seien und daher, so man dieses abschaffen will, mit diesem aufgehoben werden müßten. Marx erscheint so mit seiner Kritik am Proudonismus als ein weitsichtiger Kritiker des realsozialistischen Gesellschaftsverständnisses.