FORVM, No. 222
Juni
1972

Männerbeschimpfung

Antwort auf Briefe zum Interview im NF Feb. 1972

Nach meinem Gespräch mit Alice Schwarzer (Simone de Beauvoir: Heraus aus der Ehe, NF Februar 1972) bekam ich viele Briefe, darunter von Frauen, die sich durch Mutterschaft und Haushalt ausgefüllt erklärten; aber sie schrieben mir dies auf so aggressive, zänkische und beleidigende Art, daß ich zweifle, ob sie so glücklich sind, wie sie behaupten. In gemäßigtem Ton wurde mir von anderen vorgeworfen, ich hielte Mutterschaft für Sklaverei: aber im heutigen Frankreich ist sie dies. Ich verstehe, daß sich Frauen ein Kind wünschen, und ich weiß, wieviel Freude ein Kind bereiten kann. Aber ich zum Beispiel wollte keines, ich wollte ein Werk vollenden; für mich war es ein Glück, kinderlos zu sein. Ich will meine Art zu leben keineswegs allen Frauen aufzwingen, im Gegenteil, ich kämpfe für ihre Freiheit: freie Mutterschaft, freie Empfängnisverhütung, freie Abtreibung. Die Fanatikerinnen sind jene Hausfrauen und Mütter, die niemandem zugestehen wollen, anders zu leben als sie.

Manche Briefschreiberinnen beschuldigten mich, für ledige Mütter nichts übrig zu haben. Das ist unrichtig. Ich habe mehrfach für bessere Lebensbedingungen junger, lediger Mütter in Pariser Vororten gekämpft. Ich achte eine Frau, die Mutter wird, ohne sich an einen Mann zu binden. In Frankreich ist es schwierig, ledige Mutter oder lediges Kind zu sein. Daher verstehe ich, daß eine Frau den scheinbar sicheren Weg der Heirat wählt. Aber oft ist ein Kind ohne Vater glücklicher als ein Kind mit streitenden Eltern. Ich bin für die Trennung von Mutterschaft und Ehe, das heißt für die Abschaffung der Familie. Das hat viele Briefschreiberinnen schockiert. Von ihnen kam der mir schon vertraute Einwand, wie ich über die Familie urteilen könne, da ich doch selber Junggesellin und kinderlos sei. Aber jede Wissenschaft wäre unmöglich, beschränkte man sich bloß auf die eigene Erfahrung.

Erziehung ist ein Problem. Man lügt, wenn man zu wissen behauptet, daß sich Kinder nirgendwo besser entfalten könnten als im Schoße der eigenen Familie. Die Eltern ziehen die Kinder in ihre sadomasochistischen Spiele, zwingen ihnen ihre falschen Vorstellungen und Zwangsneurosen auf. Die Familie ist ungeheuer krank. Sprechen wir hier nicht von Kindesmißhandlungen. [1] Die Zahl der neurotischen Kinder in unserer Gesellschaft ist enorm. Die Familie ist überdies Vermittler der patriarchalischen Welt, die die Frau ausbeutet und Jahr für Jahr Milliarden unsichtbarer Arbeitsstunden von ihr erpreßt. 1955 standen in Frankreich 43 Milliarden bezahlte Arbeitsstunden in den Betrieben 45 Milliarden unbezahlten Arbeitsstunden im Haushalt gegenüber.

Aber, so wird gesagt, ist bezahlte Arbeit nicht gleichfalls entfremdete Arbeit? In unserer Gesellschaft ganz sicher. Sie erlaubt jedoch der Frau wenigstens, ihrer ehelichen Abhängigkeit zu entkommen. Ich erhielt ungezählte Briefe verheirateter Frauen, voll Verbitterung, daß sie sich ihr Leben nicht selber verdienen können. Sie wollen sie selber sein. Die Arbeit gibt der Frau Autonomie: in der Fabrik, im Büro kann sie für die Veränderung der Gesellschaft kämpfen.

In meinem Interview machte ich eine Bemerkung, die voreilig war und die ich zurücknehmen möchte. Ich sprach von verheirateten Frauen über 35, Mütter mehrerer Kinder, ohne berufliche Qualifikation, und sagte: „Ich sehe nicht ganz, was sie machen könnten, um sich zu befreien.“ Ich erhielt mehrere Briefe von Frauen, die trotz dieser Situation begonnen hatten, sich ein Berufsleben aufzubauen und ihre Kinder zu erziehen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich.

Warum muß die Stellung der Frau in dieser Gesellschaft verändert werden? Warum nicht auf den Sozialismus warten? fragten mich einige Frauen. Ich habe mich mit dieser Frage bereits in meinem Buch „Das andere Geschlecht“ auseinanderzusetzen versucht, und in meinem Interview beantwortete ich sie nochmals: Der Sozialismus hat bisher den Frauen nichts oder fast nichts gebracht. Wenn man mich darauf hinweist, daß der wahre Sozialismus bisher noch nicht realisiert wurde, stimme ich zu: bis zu diesem Augenblick ist der wirkliche Sozialismus, die absolute Gleichheit, noch immer eine Utopie. Aber die Frauen aus Fleisch und Blut sind eine Realität. Sie haben keine Zeit, auf ein besseres Morgen zu warten.

Ein typischer Phallokrat ist der Kolumnist des „Nouvel Observateur“, Maurice Clavel, mit dem ich ansonsten in vielem übereinstimme. Entsetzt las ich vor einiger Zeit, daß er den Papst zum Verbot der Pille beglückwünschte. Clavel schreibt, es sei ja niemand gezwungen, Katholik zu sein. Aber er weiß doch, daß der Katholizismus allen Völkern Lateinamerikas gewaltsam auferlegt wurde; der Papst zwingt sie zur Fortpflanzung und damit zum Hungertod. Daß ein Mann dies übersieht, der ansonst Gefühl für menschliches Unglück hat, erklärt sich aus dem Enthusiasmus, der Clavel ergriffen hat, weil der Papst die Sexualität schuldig sprach.

Clavel lehnt die „sexuelle Leichtfertigkeit“ und das „gute sexuelle Gewissen“ ab. Er verbindet sie mit der entfremdeten und entfremdenden Konsumgesellschaft. Aber das ist willkürlich, denn sexuelle Freizügigkeit findet man in vielen anderen Gesellschaften auch. Er meint zwar nicht, daß Freude und Tod unlösbar miteinander verbunden seien, aber er deklariert seine Verachtung für „Sperma ohne Risiko“. Aber wessen Risiko ist das Sperma? Nur das der Frau. Er findet es normal, seiner Partnerin das Risiko einer nichtgewollten Schwangerschaft aufzubürden, das Risiko einer Abtreibung, und das heißt unter den gegebenen Umständen: das Risiko des Todes — das alles, um seinen männlichen Hirngespinsten Befriedigung zu verschaffen. Das ist in Wahrheit „gutes sexuelles Gewissen“: sich mit voller Verantwortungslosigkeit als männlicher Potentat zu etablieren, die Frau herunterzudrücken auf die Stufe des bloßen Lustobjektes.

Der Respekt Clavels vor den Frauen ist mir a priori suspekt. Respekt hat er bloß vor jenen Frauen, die den maskulinen Mythen und Wünschen willfahren. „Man muß verschieden sein um sich zu lieben“, erklärt er. Und wie steht’s mit der homosexuellen Liebe? Clavel fordert, daß die Frau den Unterschied zu kultivieren habe. Er vergißt, daß diese Forderung die ökonomische und soziale Unterlegenheit der Frau zur Folge hat und daß es im Interesse der Frauen liegen muß, dies zu verweigern. Sein Interesse ist es, daß die Frau sich fügt; deswegen glaubt er, daß sie sich fügen muß.

Das ermutigt ihn zu der absurden Frage: Sind Frauenrechtlerinnen überhaupt noch Frauen? Wenn für ihn nur die Nicht-Frauenrechtlerin Frau ist: eine solche Frau will die Frauenrechtlerin tatsächlich nicht sein. Also ist sie ihrer Bestimmung untreu, folgert Clavel. Er glaubt, die Frau sei durch „einen profunden qualitativen Unterschied“ definiert. Glaubt er, daß die Seelen von Mann und Frau verschieden sind? In Wahrheit ist der Unterschied der Geschlechter in keiner Weise. festgelegt. Der genetische, endokrine und anatomische Unterschied zwischen Mann und Frau genügen nicht für eine klare Definition von Maskulinität und Femininität. Vielmehr ist der Unterschied eine kulturelle Konstruktion; das beweisen alle modernen Erkenntnisse der Kinderheilkunde, Pädagogik und Psychologie. Ich bekam viele Briefe von Psychologen und Lehrern, die darauf verweisen, daß die Befreiung der Frau von einer fundamentalen Änderung ihrer Erziehung abhängt, am besten von der Wiege weg. Daß es wirklich so ist, zeigen sehr interessante Versuche der Harvard-Universität, wo von 1966 bis 1968 Rosenthal und seine Mitarbeiter bewiesen, daß in jeder Lehrzeit — ob bei Ratten, Schülern oder Studenten — die Eigenschaften des Lehrers eine dominante Rolle für die Entwicklung des Lehrlings haben: der Lehrer erhält das, was er erwartet. Und die Eltern erwarten von ihren Töchtern etwas anderes als von ihren Söhnen und sie erziehen sie danach. „Die Mütter liebkosen und behandeln Söhne und Töchter durchaus verschieden“, schreibt der amerikanische Psychoanalytiker Robert J. Staller. [2] Er verwehrt sich energisch gegen die „diskreditierende Idee, Maskulinität und Feminität seien von Anfang an biologisch bedingt; sie sind vielmehr Ergebnis der Lehrzeit, die bei der Geburt beginnt. Der größte Teil der sexuellen Identität wird auf diese Weise bestimmt. Wahl des Vornamens, Farbe und Stil der Kleider, die Art, wie das Kind auf den Arm genommen wird, Nähe und Distanz — das alles und vieles andere beeinflussen das Kind seit seiner Geburt.“

Die Erziehung des kleinen Mädchens bestimmt es bereits zur Sklavin des Mannes. So wie das Mädchen die Buben nicht nachahmen darf, ist es auch für den Buben unmöglich, so zu sein wie ein Mädchen. Was fehlt, ist die Symmetrie. Die Gesellschaft schreibt der Frau eine andere Rolle vor als dem Mann; eine inferiore Rolle, die beim Mann Überlegenheit erzeugen muß.

Gegen diese Ungleichheit erhebt sich die Feministin. Es ist nicht wahr, daß sie „alle Privilegien der Männer an sich reißen will, ohne eines der ihren zu verlieren“. Sie fordert nicht „Gleichheit“, im Gegenteil. Sie möchte nur dieselben Möglichkeiten wie die Männer, möchte heraus aus der Ausbeutung und Unterdrückung, die ihr Los ist. Diese Forderungen machen Maurice Clavel verrückt. Wenn die Frau von Gleichheit spricht, argwöhnt er, sie sei heimlich auf Überlegenheit aus. Einmal im Arbeitsprozeß, werde sie den Numerus clausus einführen, und zwar zu ihren Gunsten. Hat er nicht die Fernsehsendung über Frauenarbeit gesehen, in der man unter anderem von der Ausschreibung einer staatlichen Behörde erfahren hat, bei der von 600 Stellen den Frauen 50 eingeräumt wurden? Die Gleichberechtigung ist wahrlich noch zu fern, als daß man den Frauen vorwerfen könnte, sie wollten die Männer majorisieren.

Wenn eine Frau, dank ihrer Fähigkeiten, ihrer Aktivität, sich genauso durchsetzt wie ein Mann, dann werde sie ihm überlegen, protestierte Clavel, denn sie habe überdies die Fähigkeit der „Mitwirkung an der Schöpfung“. Clavel wird plötzlich recht bescheiden: spielt der Mann keine Rolle bei der Fortpflanzung? Er nimmt an, daß Schwangerschaft und Geburt „Mitwirkung an der Schöpfung“ seien; aber dieser Vorteil wird doch weitgehend aufgewogen durch die damit verknüpften Mühen und Schmerzen. Ganz zu schweigen von der Abtreibung, der kaum eine Frau im Lauf ihres Lebens entrinnen kann. Welcher Mann wünschte sich um solchen Preis den Vorteil der „Mitwirkung an der Schöpfung“?

Clavel verurteilt die Hysterie der feministischen „Megären“, da bekommt er Schaum vor dem Mund, jedes Argument ist ihm gut genug: „Was wird aus den häßlichen Frauen nach der sexuellen Revolution?“ fragt er. Und was wird vor der Revolution aus ihnen? Ihre Chancen werden danach sicher besser sein, in einer Welt, die nicht mehr dem Kult der Frau als Objekt huldigt.

Clavel flieht in flache Behauptungen: die Frauenrechtlerinnen wollten nichts weiter als sich in eine Gesellschaft integrieren, die es aber doch zu zerstören gelte. Er wirft ihnen vor: Ihr fordert das Recht auf Erfolg, und Erfolg ist ein schreckliches Wort. Stimmt, aber er gebraucht es ja. Wenn die Arbeiter sich gegen die Unterdrückung und Ausbeutung erheben, ist Clavel der erste, der ihnen zustimmt; ihnen wirft er nicht vor, daß sie „Erfolg“ haben wollen. Die Frau aber ist doppelt ausgebeutet und unterdrückt. Es ist doch einfach „machismo“, wenn er die Frauen auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie beläßt, unter dem Vorwand, daß ohnehin alle Hierarchie ungerecht sei.

„Ihr wollt bIoß Reformen, wo doch alles neu geschaffen werden muß“, ruft Clavel uns zu. Aber viele Feministinnen stellen sich ohnehin auf den Boden des Klassenkampfes. Sie fordern eine Welt ohne Klassen, ohne Unterschiede der Geschlechter. Ich begreife nicht, warum ein Mann wie Clavel, der sich als Linker versteht, sich nicht mit diesen Frauen solidarisiert. Er kann kein triftiges ideologisches Argument für seine Haltung nennen. Seine Motivationen sind, ebenso wie die fast aller anderen Antifeministen, psychologischer, sexueller und rein egoistischer Art. Sie zu enthüllen, wäre leicht, aber es ist mir zu langweilig.

Übersetzung Brigitte Kirchhoff
Vignetten Eva Gruber

Frauenbewegung im NF

  • 343 Französinnen: Ich habe abgetrieben. Ein Aufruf. April/Mai 1971.
  • Germaine Greer: Warum hassen uns die Männer? Aug./Sept. 1971.
  • Günther Nenning: Wir Männer sind Schweine. Männergesellschaft und Frauenbewegung. Aug./Sept. 1971.
  • Heidi Pataki: Katalog der schicken Ideen. Marginalien zu G. N.s „Wir Männer sind Schweine“. Aug./Sept. 1971.
  • Trautl Brandstaller: Zigtausend Jahre Männerherrschaft. Zur Geschichte und Literatur der Frauenbewegung. Aug./Sept. 1971.
  • O. F. Gmelin: Ehe als Ausbeutung. Zur politischen Ökonomie der Hauswirtschaft, Sept./Okt. 1971.
  • Norman Mailer: Vagina : Klitoris 1 : 0. Versuch gegen die Frauenbewegung. Sept,/Okt. 1971.
  • Simone de Beauvoir: Heraus aus der Ehe. Gespräch mit Alice Schwarzer (Paris), Feb. 1972.

[1In Frankreich verhandeln die Gerichte jährlich über 2500 Fälle von Kindesmißhandlung; die Dunkelziffer dürfte beträchtlich höher sein.

[2„Nouvelle Revue de Psychoanalyse“, Nr. 4, Herbst 1971.

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