Streifzüge, Heft 59
Oktober
2013

Mensch und Tier

Anmerkungen zur Zivilisationstragik

Das berühmte Fragment „Mensch und Tier“ von Horkheimer und Adorno, das ins Textkompendium aufgenommen worden ist, welches ihr epochales Werk „Dialektik der Aufklärung“ beschließt, beginnt mit einem Paukenschlag von aphoristischer Prägnanz: „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, dass er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört.“ (Horkheimer/Adorno, S. 277)

Zu korrigieren wäre daran lediglich, dass sich nicht nur die europäische Geschichte dieser rigorosen Unterscheidung verschrieben hat, sondern die gesamte westliche bzw. – wenn schon eine regionale Unterteilung vorgenommen werden soll – die gesamte Sphäre, die dem Einfluss der großen monotheistischen Religionen unterlag, Weltreligionen, deren Wirkmächtigkeit weit mehr als nur „den Westen“ umfasste und wesentlich prägte.

Der biblische Mythos

Schon zu Beginn des biblischen Mythos werden alle am Sündenfall Beteiligten von Gott verflucht: Die Schlange, tierische Protagonistin der Verführung, verstößt er „aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde“ und verurteilt sie, in alle Ewigkeit auf ihrem Bauche zu kriechen. Dem Weib verheißt er die leidvolle Mühsal der Schwangerschaft – „unter Mühen sollst du Kinder gebären“ – und die Superiorität des Mannes ihr gegenüber. Bezeichnend ist dann die Verfluchung des Mannes; sie vollzieht sich über die Verfluchung des Ackers, den er von nun an wird bearbeiten müssen. Nur mit Mühsal soll er sich ein Leben lang von ihm ernähren – im Schweiße seines Angesichts soll er sein Brot essen. (Mose I, 3, 14–19) Aber vorher schon, vor dem Sündenfall und der durch ihn gezeitigten Vertreibung aus dem Paradies, segnet Gott den Menschen, nachdem er ihn erschaffen hat, mit den Worten: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ (Mose I, 1, 28)

Das Gebot der Beherrschung der Natur durch den Menschen ist also, dem biblischen Mythos zufolge, nicht nur das Resultat eines zivilisatorisch generierten Zwangs, nachdem der versündigte Mensch von Gott zum Tode und zu mühevoller Arbeit als Voraussetzung seiner (gesellschaftlichen) Reproduktion im Leben verflucht worden ist, sondern wird von Gott, noch vor dem schicksalsträchtigen Bestrafungsakt, als natürlich gesetzte, a priori hierarchisch verstandene Ordnung der Dinge postuliert. Die Ideologie der Naturbeherrschung, mithin die Beherrschung der Tiere durch den Menschen, ist also dem Monotheismus als gottgewollte von Anbeginn, und zwar bereits in den Anfangsversen seiner heiligen Gründungsschrift eingeschrieben. Der gläubige Mensch in den drei großen Weltreligionen braucht, so besehen, das zivilisatorische Verhältnis von Mensch und Tier gar nicht erst zu reflektieren; es ist ihm gleichsam göttlich vorgegeben, ja vorgeschrieben.

Naturbeherrschung als Zivilisationszwang

Freilich ist der religiöse Mythos die zwar äußerst wirkmächtige, in ihrer Funktion aber eben doch abstrakte Ideologie einer Praxis, die sich zivilisatorisch aus religiös indifferenter Notwendigkeit ergibt. Denn Zivilisation ohne Naturbeherrschung ist schlechterdings undenkbar. Um zu überleben, mithin sich gesellschaftlich zu reproduzieren, muss sich der Mensch der Natur bedienen; und je weiter sich seine gesellschaftliche Konstitution im Sinne einer arbeitsteiligen Kollektivordnung ausbildet, desto rigoroser schlägt die überlebensnotwendige Bearbeitung und Kultivierung der Natur in deren rücksichtslose Beherrschung um. Herrschaft erweist sich dabei als transhistorisches Antriebsmoment des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Die Anfangszeilen der „Dialektik der Aufklärung“ formulieren diesen Grundumstand in apodiktischer Weise: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Horkheimer/Adorno, S. 25) Das dem „fortschreitenden Denken“ verschwisterte Fortschrittsdenken wird also als Beherrschungsstrategie gedeutet, die die Überwindung der Furcht des Menschen vor der Natur, mithin seine Befreiung vom Naturzwang zum Zweck hat. Das Unheilvolle daran manifestiert sich für Horkheimer und Adorno im schieren Herrschaftsparadigma, das die Zivilisationsgeschichte durchzieht: Die Beherrschung der äußeren Natur geht zwangsläufig mit der Beherrschung der inneren einher, was wiederum die determinierende Grundlage für die soziale Herrschaft des Menschen über den Menschen generiert.

Diese dreiteilige Zentralthese der „Dialektik der Aufklärung“ kann nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden. An ihr macht sich fest, was für den hier erörterten Zusammenhang von essentieller Bedeutung ist: Die Beherrschung der Natur durch den Menschen wird zivilisationsgeschichtlich für notwendig erachtet, weil der reale Verlauf der Zivilisationsgeschichte kein anderes Bild von der gesellschaftlichen Genese des Menschen als die nun mal so gewordene zulässt, mithin die Phylogenese als zwangsläufig an die Entfremdung von der Natur und deren Verdinglichung geknüpft gesehen wird. Die Hypothese, derzufolge die Menschheitsgeschichte hätte anders verlaufen können (oder gar sollen), spielt, gemessen daran, wie sie de facto verlaufen ist, eine nichtige Rolle. So besehen ist allein schon das dem Menschen exklusiv zugeschriebene Denkvermögen der Ausgangspunkt einer Dialektik der Individuation, die sich einerseits am zivilisatorisch fortschreitenden Anspruch des Menschen, sich eigenbestimmt selbst zu setzen, andererseits an der unumgehbaren Objektivierung der geistfernen Natur, mithin an der zunehmenden Entfremdung von ihr erweist. Das menschliche Individuum, Ideal aller fortschrittlichen Aufklärung, ist somit strukturell in die Repressionsgeschichte des Verhältnisses des Menschen zur Natur, zum Menschengeschlecht, letztlich auch zu sich selbst als eigenbestimmt sich dünkendes Subjekt eingezwängt.

Fundamentalmangel und Leiderfahrung

Diese verstörende Einsicht findet sich bereits im Denken bedeutender Gesellschafts- und Kulturtheoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts, so grundlegend sich ihr emanzipatorisches Pathos und ihre historiosophisch geprägten Zukunftprognosen im übrigen unterscheiden mochten. Rousseau, Toqueville, Marx und Nietzsche (letztlich alle großen Denker jener Epoche) befassten sich in je eigener Art und Weise mit der immanenten Repressionsdialektik aller Emanzipation. Eines war ihnen gleichwohl allen gemeinsam: Sie waren noch vom Bewusstsein geleitet, dass die Grundversorgung des Menschen, die Befriedigung seiner elementaren materiellen Bedürfnisse den Bedingungen eines strukturell nicht überwundenen Fundamentalmangels unterworfen seien. Hunger galt ihnen zwar als ein prinzipiell lösbares Problem, sofern sie sich fortschrittsgläubigen Vorstellungen von der Menschenbefreiung verpflichtet sahen, zunächst noch aber mit keinem unmittelbar verwirklichbaren, real umsetzbaren Lösungsangebot verbunden. Selbst Marx formulierte seine Emanzipationsvision letztlich in konditionalen Kategorien. Der Mensch, gesellschaftlichen Strukturen des „Reichs der Notwendigkeit“ ausgesetzt, hatte sich geschichtlich noch nicht dem Naturzwang entwunden; die realen historischen Möglichkeiten – allen voran der adäquate Entwicklungsstand der Produktionsmittel – standen ihm dafür noch nicht zur Verfügung.

Was hier aber als das allgemeine Verhältnis des Menschen zur Natur angeführt wird, gewinnt ein gesondertes Gewicht im spezifischen Kontext seines Verhältnisses zum Tier. Der biblische Mythos legt die hierarchische Ordnung auch zwischen Fauna und Flora fest: Alle Samen bringenden Pflanzen und Früchte tragenden Bäume werden von Gott bereits bei der Welterschaffung zur Speisung des Menschen, alles „grüne Kraut“ als Nahrung der Tiere, der Vögel und des Gewürms bestimmt. (Mose I, 1, 29–30) Bezeichnend ist darüber hinaus, dass die gesamte Tierwelt nach ihrer Erschaffung von Gott dem Menschen vorgeführt wird, auf dass er, der Mensch, den Tieren ihren Namen gebe. (Mose I, 2, 19–20) Dem Menschen selbst gibt Gott seinen Namen. Zwar wird dies nicht ausdrücklich ausgesprochen, und doch kann man davon ausgehen, dass sich diese Hierarchie aus dem Begriff des Lebens, wie ihn der biblische Text im Falle des Menschen explizit hervorhebt, ableitet: „Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ (Mose I, 2, 7) Fügt man der Kategorie des schieren Lebens die der Quälbarkeit des lebendigen Körpers bzw. die seiner Leidensfähigkeit hinzu, erweist sich die bereits biblisch festgelegte Ordnung als eine vom Menschen über die Fauna bis zur Flora verlaufende Hierarchie, wobei das Tier durch das Attribut des Lebens und der mit dieser einhergehenden Leidensfähigkeit kategorial in die Nähe des Menschen gerückt wird. Spätere Versuche des philosophischen Abendlandes, das Tier vom Menschen wieder diskursiv abzugrenzen, verweisen darauf, dass die Begründung einer solchen Absetzung gerade deshalb dringlicher erscheinen mochte, weil der dem Tier von Gott offenbar auch eingeblasene Odem es als lebendes Geschöpf in „bedrohliche“ Nähe des Menschen rückte. Die Kategorien der Vernunft, der Seele und der Emotion als vermeintlich triftige Begründung der Unterscheidung vom Tiere, mithin der Rechtfertigung seiner Unterdrückung durch den Menschen, waren, so besehen, primär ideologischen Charakters. Nichts verleiht dem beredteren Ausdruck als Horkheimers und Adornos eingangs zitiertes Diktum: Um eine Idee des Menschen ging es eben – um eine Konstruktion also –, eine Idee, die sich in erster Linie ex negativo bildete, als Absetzung „des Menschen“ vom Unmenschlichen des Tieres.

Zeitalter des Spätkapitalismus

Bemerkenswert war dabei, dass, insofern sich die Ideologie der gegen die Tiere verübten Gewalt (auch die religiös begründete) bis in die späte Moderne hinein aus der unabweisbaren Realität einer unter fundamentalem Versorgungsmangel leidenden Gesellschaft erklärte, dieses ökonomische Strukturmoment spätestens im Zeitalter des Spätkapitalismus, zumindest in der westlichen Welt, überwunden wurde, und doch zeitigte dies keinen wesentlichen Wandel im allgemeinen Mensch-Tier-Verhältnis. Im Gegenteil, gerade im Zeitalter, in dem der gewaltdurchwirkten Ausbeutung von Tieren die reale Grundlage ihrer historisch gewachsenen Notwendigkeitsideologie objektiv abhanden zu kommen begann, ging diese jahrtausendealte Ausbeutung durch fortschreitende Industrialisierung in die brutale Phase ihres rabiatesten, systematisch durchorganisierten Exzesses über. Horkheimers berühmt gewordene Metapher, in der er die Gesellschaft einem Wolkenkratzer verglich, dessen Dach einer Kathedrale, sein Keller aber einem Schlachthof gleichgesetzt wird (Horkheimer, S. 379f.), hat, so besehen, einen prononciert modernen Gegenstand zum Inhalt, nämlich den des monopolistischen Kapitalismus. Dass dabei die Ausbeutungskette zugunsten der Bewohner der oberen Stockwerke bis in die tiefsten Etagen des Gebäudes reicht, die private Aneignung gesellschaftlicher Arbeit also Not und Elend weltweit millionenweise krepierender Ausgebeuteten in den unsichtbaren Niederungen der Gesellschaft zur Voraussetzung hat, steht noch in bester Marxscher Tradition. Neu ist aber, dass Horkheimer mit dem Schlachthofmotiv die Tiere mit in die Kette der Ausgebeuteten einbezieht.

Was diesem Erkenntniszusatz zugrunde liegt, ist nicht nur humane Empathie für die geschundene Kreatur, nicht nur moralische Entrüstung über die ausbeutende Quälerei von Tieren, sondern etwas, das sich der Einsicht in die zivilisationskritische Logik der „Dialektik der Aufklärung“ verdankt. Denn wenn die Herrschaft des Menschen über den Menschen der Beherrschung der inneren wie der äußeren Natur verschwistert ist, dann unterliegt die Ausbeutung des Menschen und des Tieres derselben Strukturlogik, wie die industrielle Verwertung der Tiere mit derselben Logik korrespondiert, die den alljährlichen Hungertod von Millionen Menschen in einer Welt ermöglicht, in der objektiv – gemessen am Entwicklungsstand der Produktionsmittel – kein einziger Mensch mehr Hungers zu sterben bräuchte. Dass dies für den Menschen „hinnehmbar“ geworden ist, ist der Raison d’être des Kapitalismus immanent, der des globalisierten allemal. Als effizienter mentaler Helfershelfer dieser Strukturlogik mag das von Adorno so benannte „verdinglichte Bewusstsein“ fungieren, dessen historischen Kulminationspunkt Adorno in Auschwitz ausmachte: Menschen, die sich selbst den Dingen gleichgemacht hatten, machten, wenn es ihnen möglich wurde, die anderen den Dingen gleich. (Adorno, S. 89) Das von den heteronomen Impulsen der instrumentellen Vernunft in den Exzess getriebene verdinglichte Bewusstsein ist aber welthistorisch noch lange nicht überwunden, sondern liegt vielmehr in der zivilisatorischen Gesamttendenz, die in Auschwitz zur industriell betriebenen, bürokratisch verwalteten Ausrottungspraxis gerann und im gegenwärtigen „Normalzustand“ den alljährlichen millionenfachen Hungertod als hinnehmbares Epiphänomen, das das System nun mal mitproduziert, wie selbstverständlich verbucht. Und wenn dies für den Menschen „begründbar“ werden konnte, bedurfte es schon gar keiner weiteren Anstrengung der Kritik für die fortwährende, industriell verrichtete, warenförmig betriebene Massenvernichtung von Nutztieren. Denn nicht nur hatte man die Apologie ihrer Verwertungsverdinglichung über Jahrtausende – durch den Fundamentalmangel gerechtfertigt und religiös abgesegnet – einzuüben gelernt, es bedurfte ihrer nicht einmal mehr: Zu unleugbar hat das 20. Jahrhundert erwiesen, dass sich selbst die Unterscheidung des Menschen vom Tier als konstitutives Moment der Idee des Menschen sich ihres Geltungsanspruches begeben hat.

Literatur

  • Max Horkheimer und Theodor Adorno: Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt/M 1987.
  • Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Band 2, Frankfurt/M 1987.
  • Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M 1971.
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