Streifzüge, Heft 2/2003
Juni
2003

Mythos Intelligenz

Welchem Interesse dient das Tradieren der Anlage-Umwelt-Kontroverse?

Gibt man in der Internet-Suchmaschine Google die Wortkombination „Intelligenz angeboren“ ein, erhält man Verweise auf mehr als 2400 Websites. Ähnlich hohe Trefferquoten liefert die Suche nach „Intelligenz genetisch bedingt“ oder nach sonstigen Kombinationen von Stichwörtern, mit denen die Fragestellung einzufangen versucht wird, ob die menschliche Intelligenz durch natürliche Anlagen oder durch Umwelteinflüsse verursacht sei. Regelmäßige diesbezügliche „Aufreger“ am Buchmarkt sowie die Häufigkeit, mit der das Thema in Zeitschriften angesprochen wird, zeigen ebenfalls, dass die Anlage-Umwelt-Thematik allgemein, und dabei speziell die Frage nach der genetischen Bedingtheit von Intelligenz, geradezu als ein Dauerbrenner der erziehungswissenschaftlichpsychologischen Forschung bezeichnet werden kann. Auch in allen Ausbildungen für praktische pädagogische Tätigkeiten ist die Frage, ob die unterschiedlich hohe Intelligenz von Menschen primär angeborenen Faktoren und natürlichen Reifungsprozessen oder gesellschaftlichen Umständen und damit korrelierenden Entwicklungsmöglichkeiten geschuldet ist, eines der großen Metathemen.

Und so gibt es wohl keine/n Kindergärtner/in, keine/n Lehrer/in und keine/n Sozialarbeiter/in, die/der in ihrer/seiner Ausbildung nicht umfangreichst mit Theorien und Spekulationen zur angesprochenen Thematik konfrontiert worden wäre. Verschiedentlich wird in den diversen Ausbildungsgängen von den Lehrenden sogar mahnend darauf aufmerksam gemacht, dass die Haltung, die pädagogische Praktiker im Rahmen der Anlage-Umwelt-Kontroverse einnehmen, in hohem Maß für ihr konkretes Handeln gegenüber den ihnen Anvertrauten ausschlaggebend sei. Denn logischerweise könne „positives Denken“ hinsichtlich pädagogischer Maßnahmen nur entwickeln, wer dem „optimistischen“ Erziehungsverständnis der Umwelttheorie anhängt und im Sinne eines „dynamischen Begabungsbegriffs“ daran glaubt, dass eine Förderung der Intelligenz seiner Schützlinge grundsätzlich möglich ist. Wer hingegen das „pessimistische“ Erziehungsverständnis der Anlagetheoretiker vertritt, würde sich bei seinem vorgeblichen Auftrag, “ Anwalt der Lernenden“ zu sein, quasi permanent selbst im Wege stehen, da ihn die Vorstellung paralysiert, dass einer Förderung von Intelligenz sowieso sehr enge Grenzen gesetzt sind.

In einem erstaunlichen Missverhältnis zur Häufigkeit, mit der die Anlage-Umwelt- Thematik angesprochen und ihre herausragende Bedeutung für pädagogisches Verhalten beschworen wird, steht allerdings die Abstinenz, sich mit dem „hinter“ der Fragestellung verborgenen erkenntnisleitenden Interesse zu beschäftigen. Dabei wäre das Hinterfragen der Triebkräfte des seit Jahrzehnten ungebrochenen Interesses an der Ursachenerforschung der Intelligenz durchaus interessant. Tatsächlich geht es bei der vielfach als zentrale pädagogische Kontroverse bezeichneten Argumentation in der Regel ja bloß um Prozentgewichtungen. Denn dass Intelligenz ausschließlich genetisch determiniert wäre und auch durch intensive Förderung nicht mehr beeinflusst werden könnte, wird in der Pädagogik heute sowieso von niemandem ernsthaft behauptet. Und auch die These, dass Intelligenz – völlig unabhängig von genetischen Vorgaben – durch entsprechende Umwelteinflüsse quasi beliebig herstellbar wäre, nimmt gegenwärtig wohl kein pädagogischer Praktiker oder Theoretiker seriös an.

Sowohl die ausschließliche Anlage- als auch die ausschließliche Umwelttheorie stellen in der pädagogischen Szene Extrempositionen dar, zu denen sich heute kaum jemand bekennt; faktisch durchwegs wird die Auffassung des „Sowohl-als- Auch“ vertreten. [1] Die Differenzen zwischen den zu diametral einander gegenüberstehenden Positionierungen hochstilisierten Ansichten liegen somit bloß auf der Ebene der Gewichtung der beiden Einflussfaktoren. Es geht bei der permanent aufgewärmten Anlage-Umwelt-Diskussion einzig um die Frage, ob der eine oder der andere Faktor mehr Einfluss hat – ob jeweils die Gene oder die Umwelt mit 20 Prozent, 50 Prozent, oder vielleicht gar mit 80 Prozent zu Buche schlagen. Die sogenannten Genetiker unterscheiden sich von den Umwelttheoretikern nur darin, dass sie den Erbanlagen – in Relation zur Umwelteinwirkung – ein höheres Gewicht beimessen. Und umgekehrt argumentieren auch Umwelttheoretiker bloß mit einem dominanteren Einfluss der Aufwuchsbedingungen gegenüber den Genen.

Würde man nämlich tatsächlich die Anlage als die finale Ursache geistiger Leistungen annehmen, müsste ja jeder Versuch, Heranwachsenden etwas beibringen zu wollen, von vornherein als absurd abgetan werden. Dementsprechend wird auch von den Anlagetheoretikern immer wieder hervorgestrichen, dass Anlagen eben bloß Optionen seien und für sich allein noch gar nichts entscheiden. Selbstverständlich bedarf es erzieherischer Beachtung und Förderung, damit aus den angelegten Potenzialen feststellbare und vor allem auch solche Leistungen werden, die unter den konkreten ökonomisch-gesellschaftlichen Umständen als relevant gelten. Nur damit lässt sich ja auch erklären, wieso jemand eine genetisch angelegte Hochbegabung annehmen und sich dennoch für spezifische, fördernde schulische Bedingungen für „Hochbegabte“ einsetzen kann. Die Anlagetheoretiker müssen der Umwelt quasi „über die Hintertür“ einen gewissen Einfluss zugestehen. Auch in ihrer Theorie nützen die besten Anlagen nichts, wenn durch die Umwelt deren Entfaltung nicht ausreichend animiert wird.

Umgekehrt kommen aber auch die Umwelttheoretiker für ihre Überzeugung nicht ohne die Annahme eines angeborenen Lernvermögens aus, einer Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen – über bloße Wenn-dann-Reaktionen hinausgehend – sinnbezogen verarbeiten zu können. Denn wäre das Kind anfangs tatsächlich jene „tabula rasa“, als die es von einzelnen Radikalvertretern dieser Theorie verschiedentlich schon bezeichnet wurde, wäre schlichtweg unerklärlich, wieso Einflüsse der Umgebung überhaupt zum Anlass für Lernprozesse werden können. Dass und ob das, was im Umfeld eines Kindes passiert, Ursache für verändertes Handeln wird, setzt nämlich eine „menschliche Begabung zur einsichtigen Veränderung“ voraus. Eine derartige „Anlage“ des Menschen, sich mit den Tatsachen der Welt „vernünftig“ auseinander zu setzen und daraus Handlungspostulate ableiten zu können – womit ja etwas ganz anderes angesprochen wird als eine bloße Adaption – muss selbst von Hardcore-Vertretern der Umwelttheorie vorausgesetzt werden. Für ihre Vorstellung, den Menschen durch Umwelteinflüsse weitgehend formen zu können, brauchen auch sie zumindest eine genetische Anlage – eine angeborene „Plastizität“ des Menschen.

Die Behauptung, dass es in der Pädagogik eine Gen-Umwelt-Kontroverse gebe, in der die Vertreter der Gen- und der Milieutheorie einander unversöhnlich gegenüberstünden und aus der sich so etwas wie eine pädagogische Positionszuschreibung ergebe, kann – im Sinne des von beiden Seiten verkündeten „Sowohl-als-Auch“ – somit durchaus als Mythos bezeichnet werden. Beide vorgeblichen Kontrahenten argumentieren damit, dass Anlage und Umwelt einander quantitativ ergänzen. Was sich jedoch vordergründig wie ein weitgehender Konsens anhört, birgt bei genauerer Betrachtung in sich eine äußerst gravierende, in der Regel allerdings geflissentlich übersehene Gemeinsamkeit der beiden Ansichten. Tatsächlich wird über die Diskussion, in welchem Ausmaß Umwelt und Gene zur Genese geistiger Leistungen beitragen, bloß ein Streit zwischen vorgeblich gesellschaftspolitisch konträren – „links“ beziehungsweise „rechts“ angesiedelten – Positionen suggeriert. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die beiden Theorien gar nicht in einander diametral gegenüberstehenden Lagern verankert sind. Denn nicht nur, dass sie einander bedingen und ohne Rückgriff auf die jeweils andere nicht auskommen, sie sind in letzter Konsequenz sogar desselben Geistes Kind!

Die Fokussierung des Streits auf die Frage, ob die Gene oder die Umwelt prozentuell mehr oder weniger zur Intelligenzausprägung beitragen, offenbart nämlich vor allem, dass beide Theorien fest in der Tradition des das bürgerlich-kapitalistische System begründenden dualistischen Weltbilds verankert sind. Körper und Geist, bzw. Natur und Kultur werden strikt geschieden. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Mensch als „Produkt“ genetischer Ausstattung oder als ein solches der Umwelteinflüsse wahrgenommen wird – von einer Aufspaltung in „passives Rohmaterial“ und „programmierende Instanz“ wird in beiden Fällen ausgegangen. Für die einen ist es die genetische Programmierung, die ein mehr oder weniger rationelles Reagieren auf die dem Menschen äußerlich gedachte Umwelt möglich macht; für die anderen ist dazu die Programmierung durch eine arrangierte Umwelt notwendig. Die Gentheoretiker postulieren ein Programm, das sich aus der evolutionären Entwicklung ableitet, im Menschen somit schon als angelegtes Potenzial schlummert und durch die Umwelt bloß aktualisiert werden muss – selbstverständlich aber nur im programmgemäßen Umfang geweckt werden kann. Die Umweltapologeten sehen im Menschen dagegen eine für nahezu jede Software geeignete Hardware, ihr Hauptaugenmerk richtet sich somit auf die Rahmenbedingungen der Programmierung.

In Form eines Bildes aus der aktuellen Situation am Computermarkt nehmen die Anlagetheoretiker quasi an, dass – in einer ähnlichen Form, wie es PCs und Apple- Computer gibt – auch die „Maschine Mensch“ in unterschiedlichsten Hardwarekonfigurationen „auf den Markt kommt“. Jede Hardwareeinheit kann dementsprechend nur mit den ihr entsprechenden Programmen „zum Funktionieren gebracht“ werden. Die Umwelttheoretiker gehen hingegen davon aus, dass es bloß eine einzige universelle „Hardwarekonfiguration Mensch“ gibt, auf der alle Programme – egal ob Windows, Linux oder Mac – „laufen“. Demgemäß bedarf es eines unbeschränkten Zugangs zu möglichst vielen Programmen und geschickter Programmierer, damit die Maschine zum „brauchbaren Funktionieren“ gebracht werden kann. Das von beiden Gruppen mit unterschiedlicher Gewichtung vorgebrachte „Sowohl-als-Auch“ bezüglich der Ursachen von Intelligenz fußt somit im gleichen Software-Hardware-Dualismus. Beiden Theorien wohnt die Ansicht inne, dass der Mensch eine nach Ursache-Wirkungs- Relationen funktionierende biochemisch- mechanische Einheit darstellt, die kraft einer ihr gegebenen Intelligenz mit einer außerhalb und unabhängig von ihr existierenden Wirklichkeit in Relation tritt.

Die Ansicht einer derartigen, quasi „frei schwebenden“ Intelligenz wird zwischenzeitlich allerdings sogar von jenen Naturwissenschaftern, die an der Entwicklung von sogenannter „künstlicher Intelligenz“ arbeiten, als ein absurdes Konstrukt erkannt. Ihnen wird zunehmend klar, dass es Intelligenz nicht anders als in „verkörperter Erscheinungsform“ geben kann. Mit dem Ansatz, hochkomplexe Maschinen zu entwickeln und diese mit Hilfe ihnen implementierter Programme realitätstüchtig zu machen, die „die Logik der Welt“ in einem Meta-Modell abbilden, sind sie bei den Versuchen, künstliche Intelligenz zu kreieren, nämlich sehr schnell an unüberwindliche Grenzen gestoßen. Am Artifical Intelligence Laboratory am Massachusetts Institute of Technology arbeitet man deshalb neuerdings an der Entwicklung von Robotern, die über vielfältige Sensorsysteme direkt an der „Auseinandersetzung mit der Welt“ lernen, indem sie die unterschiedlichen Folgen ihrer Strategien speichern, ohne die Welt in einem Meta-Modell zu repräsentieren. Die in einem solchen Roboter „verkörperten“ Erfahrungen sind genauso wenig als Programm erfass- und übertragbar wie die Erfahrungen eines Menschen, die sich in der Struktur der Synapsen seines Gehirns einprägen. [2]

Erkennt man allerdings an, dass sich Intelligenz vom (verkörperten) Verhalten nicht trennen lässt, muss man auch akzeptieren, dass es Intelligenz als abstrakte Größe überhaupt nicht gibt. Intelligenz in der Vorstellung einer mehr oder weniger gegebenen Annäherung an ein ideales (Reaktions -)Programm ist eine Chimäre. Was intelligentes Verhalten ist, bestimmt sich einzig über die agierende Person und ihren subjektiven Kontext zur Situation, in der es zu handeln gilt – jede objektive Bewertung ist unmöglich. Selbstverständlich kann davon ausgegangen werden, dass es individuell- genetische Faktoren gibt, die in irgendeiner Form mit den unterschiedlichen Reaktionsweisen von Menschen auf Probleme korrelieren. Im Sinne einer Wenn-dann-Relation daraus allerdings abzuleiten, dass sich darin eine höhere oder niedrigere Intelligenz widerspiegelt, wäre grotesk. Intelligenz ist eben kein objektiv-abstraktes Programm, das – im Sinne von Richtig-Falsch- Maßstäben, die ein „höherer Programmierer“ irgendwann festgelegt hat – Menschen mehr oder weniger adäquat auf die Umwelt reagieren lässt. Sofern der Begriff überhaupt Sinn gibt, kann Intelligenz nur als das Vermögen des Menschen umschrieben werden, in der Auseinandersetzung mit der Umwelt zu eigensinnigen Reaktionen fähig zu sein, zu solchen also, die nicht automatisch einem durch irgendjemand anderen vorhersagbaren Muster folgen. [3]

Wenn mit Intelligenz begrifflich jenes Besondere des Menschen ausgedrückt werden soll, das ihn aus der restlichen Natur heraushebt, darf sie nicht einseitig an rationellem Verhalten orientiert sein. Mit anderen Worten: Intelligenz darf nicht mit Logik gleichgesetzt werden! Der Mensch hat Bewusstsein, er ist somit nicht bloß fähig, sich, wie ein Tier, im Sinne auferlegter Reaktionsweisen – also logisch – zu verhalten. Er kann, auf Basis seiner Fähigkeit zur rationalen Verarbeitung seines Wissens sowie zur Orientierung an jeweils souverän gesetzten Zielen, autonom handeln. Eine Interpretation von Intelligenz, die dieser prinzipiellen Freiheit des Menschen gerecht wird, müsste somit an der Fähigkeit ausgerichtet sein, Wissen selbstbestimmt einsetzen und eigensinnige Antworten auf Fragen finden zu können. Wird Intelligenz jedoch – so wie es in der Anlage-Umwelt-Kontroverse von beiden Parteien gemacht wird – darüber definiert, wieweit den (fremdbestimmten) Vorgaben irgendwelcher Tests entsprochen wird, dient der Begriff per se dazu, Menschen zu instrumentalisieren und ihnen ihre Würde zu nehmen. In diesem Sinn ist die Behauptung, Intelligenz ließe sich in Form einer Zahl dingfest machen, unmittelbarer Ausdruck der Absicht, Menschen hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit zur Erzielung von Gewinn berechenbar zu machen – letztendlich gilt in dieser Logik als intelligent, wer im Verwertungsprozess profitabel einsetzbar ist!

Der Bedeutungsgehalt von Begriffen ist stets ein Korrelat konkreter gesellschaftlich- historischer Bedingungen. Auch Intelligenz ist kein überhistorisches Prinzip, sondern kann nur im Zusammenhang mit den aktuellen politisch-ökonomischen Strukturen begriffen werden. Wer den Begriff Intelligenz unhinterfragt benützt, hat sich allerdings schon auf die Ebene jener Prämissen begeben, durch die das aktuelle System bestimmt wird. Und da ist Intelligenz eben nur in der Bedeutung „instrumenteller Vernunft“ fassbar. In der Marktgesellschaft mündet jede Frage nach Qualität oder Güte stets in Überlegungen nach der ökonomischen Verwertbarkeit. Es ist völlig egal, ob Produkte irgendwelcher Fertigungsprozesse, zwischenmenschliche Handlungen, die Natur oder Menschen bewertet werden, letztendlich geht es immer um die Frage, wieweit sich das „Bewertete“ für die „Verwertung“ eignet; wieweit es also dem Profit-Machen dienstbar gemacht werden kann. Der Tatsache entsprechend, dass in der Marktgesellschaft der Gebrauchswert in allen Bereichen zunehmend vom Tauschwert überlagert wird, tritt als Wert schlussendlich überhaupt nur mehr ins Bewusstsein, was sich in Form von Geld ausdrücken lässt.

Wie schon weiter vorne angesprochen, wird die Haltung zur „Anlage-Umwelt- Kontroverse“ oft als ein Streit zwischen gesellschaftspolitisch „links“ und „rechts“ angesiedelten Positionen interpretiert. In diesem Sinn sind jene, die die Vorstellung eines dynamischen Begabungsbegriffs vertreten, meist auch davon überzeugt, dem gesellschaftlichen Status quo besonders kritisch gegenüberzustehen und das „emanzipatorisch- linke Fähnchen“ hoch zu halten. Tatsächlich wirkt jedoch schon das Aufgreifen des Intelligenzbegriffs immanent antiemanzipatorisch. Auch in der Auseinandersetzung um die Ursachenzuschreibung von Intelligenz zeigt sich – so wie ja bei vielen anderen Fragen -, dass die humanitäre Linke den Boden der grundsätzlichen Akzeptanz des herrschenden Konkurrenzkapitalismus nie verlassen hat. Sie bewegt sich im selben Argumentationskorsett wie die von ihr häufig als „rechts“ gescholtenen Anlagetheoretiker. Gehuldigt wird von beiden Seiten dem Fetisch Markt. Uneins ist man sich bloß darin, ob die geeigneten Konkurrenzmonaden für die verschiedenen Bereiche des Kampfes jede/r gegen jede/n primär durch ein pädagogisch verbrämtes Zurichtungs- oder doch eher durch ein Ausleseverfahren (beziehungsweise in naher Zukunft vielleicht auch durch ein genetisches Optimierungsverfahren) gewonnen werden sollen.

Auch die Umwelttheoretiker wehren sich nicht dagegen, dass die gravierenden Unterschiede in den Lebensbedingungen von Menschen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mittels einer unterschiedlich ausgeprägten Tüchtigkeit (= Fähigkeit, sich den Verwertungsvorgaben anzupassen) schöngeredet werden. [4] Es stört sie bloß, dass Menschen mit dem Argument einer geringeren angeborenen Begabung von vornherein nur eingeschränkt zum Kampf um attraktive gesellschaftliche Positionen zugelassen werden sollen. Ihre Argumentation lässt kaum je erkennen, dass sie etwas gegen eine Gesellschaft hätten, in der jeder und jede dem Markt- und Konkurrenzprinzip unterworfen ist und die gesellschaftliche Hierarchie durch Gewinnen und Verlieren im vorgeblichen Leistungswettbewerb legitimiert wird. Nicht gegen das gesellschaftliche Ausleseprinzip des „survival of the fittest“ treten sie auf; sie wollen bloß nicht anerkennen, dass die Startpositionen im allumfassenden Konkurrenzkampf schon durch die Natur verteilt worden sein sollen. Ihr Ruf nach Chancengleichheit – oder noch entlarvender: nach Chancengerechtigkeit – affirmiert den allgemeinen Verdrängungswettkampf, gefordert werden bloß „gerechte Trainingsbedingungen für alle“. Dem „Windhundrennen“ soll ein fairer Anstrich gegeben werden, indem quasi „ganz am Anfang“ nicht gelten soll, was diese Gesellschaft insgesamt zusammenhält – der Glaube an die Gerechtigkeit des profitökonomisch orientierten Auslesesystems.

Die Prämissen der Argumentation sind bei den Umwelttheoretikern dieselben wie bei den Anlagetheoretikern, auch für sie gibt es keine Welt außerhalb des durch das Verwertungsdiktat vorgegebenen Horizonts und auch sie gehen von einem Bild des Menschen als einem „Konkurrenzwesen“ aus. Indem sie das gesellschaftliche Auslesekriterium Intelligenz anerkennen und sich auf die Diskussion einlassen, wo die Ursachen dafür liegen, dass dieses Merkmal unterschiedlich verteilt ist, haben sie sich argumentativ bereits darauf eingelassen, Menschen auf den Status von Humankapital – einen Buchungsposten in der konkurrenzökonomischen Gewinn-/Verlustrechnung – zu reduzieren. Eigentlich handelt es sich beim angeblichen Grundkonflikt der Pädagogik somit bloß um einen Fraktionskampf innerhalb der Konkurrenzglaubensgemeinschaft. Denn wer immer mit einem Begriff argumentiert, der unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen einzig und allein dafür dient, um die höchst ungleichen Zugangsmöglichkeiten der Menschen zu den vorhandenen Gütern und Lebensmöglichkeiten zu rechtfertigen, hat bereits klammheimlich die Gleichsetzung des sozialen Werts von Menschen mit ihrer ökonomischen Verwertbarkeit akzeptiert. [5]

In letzter Konsequenz macht es keinen Unterschied, ob man sich dem Thema Intelligenz aus der Richtung der Umwelttheorie oder jener der Anlagetheorie annähert. Gelernt soll unter den aktuellen politisch- ökonomischen Bedingungen nicht werden, um sich als „freies Wesen“ zu verwirklichen und derart einen Beitrag zur ewigen Frage zu liefern, was Mensch-Sein bedeutet und in welcher Form sich der Mensch verwirklichen kann. Sowohl das Lernvermögen des Menschen als auch alle gesellschaftlich vermittelten Zielvorgaben organisierten Lernens sind letztendlich an der Frage der Brauchbarkeit im Prozess der Verwandlung von Geld in mehr Geld orientiert. Bildungseinrichtungen haben auch gar keine Chance hier irgendwie auszuscheren, weil sie unter den zwischenzeitlich auch für das Bildungswesen geltenden Marktbedingungen ansonsten sehr schnell vom Markt verdrängt wären. Organisierte Wissensvermittlung ist – obwohl und zugleich weil die meisten Lehrenden subjektiv das Beste für ihre Klientel wollen – nicht dem Ziel der Entfaltung des Mensch- (lich)en untergeordnet. Sie dient dem Umwandeln von Humanressourcen in verwertbares Humankapital. Das von den Umwelttheoretikern für sich monierte emanzipatorische Erkenntnisinteresse stellt einen Selbstbetrug dar; hinter dem Fraktionsstreit der Intelligenzfetischisten lässt sich in jedem Fall nur technisches Erkenntnisinteresse ausmachen.

Über viele Jahre waren die Leitwissenschaften im Prozess der Herstellung verwertbaren Humankapitals eine weitgehend zur Didaktik verkürzte Pädagogik und eine zur Reparaturwissenschaft reduzierte Psychologie. Die willigen Vollstrecker der jeweils neu verkündeten Erkenntnisse hinsichtlich der Zurichtung von Humanressourcen für deren betriebswirtschaftliche Verwertung stellte das „Fußvolk der Humankapitalmechaniker/ innen“ (Kindergärtner/ innen, Lehrer/innen, Erziehungsund Bildungsberater/innen, EB-Trainer/ innen etc. ). Im Sinne der Tatsache, dass bisher alle an der Frage nach den Ursachen unterschiedlicher Verwertbarkeit der Humanressourcen Interessierten die Notwendigkeit effektiver Lernarrangements außer Zweifel gestellt haben, gipfeln die Gen- Umwelt Diskussionen stets in didaktischmanipulativen Vorstellungen: Bringt es etwas, Heranwachsende ihrer „Individuallage“ entsprechend getrennt zu beschulen oder lässt sich auch durch gemeinsamen Unterricht ein lohnender Ertrag erreichen; gibt es Psychotechniken und Unterrichtsformen, die besonders zu einer Steigerung der „Selbstausbeutungsbereitschaft“ beitragen; welche Lehr/Lernarrangements versprechen bei spezifischen Zielgruppen die höchste Effektivität; u. ä. ? Was bei derartigen Fragen jeweils als „besser“ oder „schlechter“ zu gelten hat, entscheidet sich stets anhand ökonomischer Rationalitätskriterien.

Zwischenzeitlich sind allerdings die Versprechungen der Naturwissenschafter unüberhörbar, bald schon in der Lage zu sein, „Dummheit“ ähnlich einer (Erb)Krankheit zu heilen. Derzeit vergeht ja kaum eine Woche, in der nicht verlautbart wird, dass die genetische Ursache für irgendeine menschliche Eigenschaft oder Verhaltensweise erforscht worden sei. Ob es nun asoziales Verhalten ist, das angeblich durch ein Aggressions-Gen [6] verursacht wird, (homo -)sexuelle Vorlieben, Alkoholismus oder die Wahrscheinlichkeit, sich in einer Partnerschaft treu zu verhalten, [7] alles wird neuerdings genetischer Programmierung zugeschrieben. Da konnte es selbstverständlich nicht lange dauern, bis auch „mangelnde intellektuelle Verwertbarkeit“ zu einem genetisch bedingten Defekt erklärt wurde. Und tatsächlich hat der Genforscher James Watson, der vor Jahren die DNA, die Struktur des menschlichen Erbguts entschlüsselt und dafür einen Nobelpreis erhalten hatte, kürzlich auch verkündet, dass „Dummheit eine genetische Krankheit“ darstelle und dementsprechend bald auch „heilbar“ sein werde. [8] Somit kann wohl davon ausgegangen werden, dass bald die nächste Runde der Anlage-Umwelt-Prozentediskussion eingeläutet werden wird. Durchaus möglich wird damit auch, dass den auf pädagogisch-psychologischer Basis arbeitenden Humankapitalmechaniker/innen schon bald ernsthafte Konkurrenz in Form von Gentechniker/innen ins Haus steht. Damit eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten und Gefahren der Manipulation von Menschen. Hinsichtlich dessen, was Intelligenz tatsächlich ist – die Fähigkeit des Menschen sich kraft Vernunft von allen Abhängigkeiten zu befreien und sich selbst als freies Wesen zu kreieren – braucht man sich vor dieser Entwicklung allerdings nicht zu fürchten. Die in Dienst genommene Pädagogik und die Schule haben es in ihren über Jahrhunderte gehenden diesbezüglichen Anstrengungen nicht geschafft, Menschen das kritische Denken auszutreiben. Auch über den Weg gentechnologischer Manipulation wird es nicht zu schaffen sein, den Menschheit ins „Paradies der unbewussten Einheit mit der Natur“ zurückzutreiben. So wie es der Erziehungswissenschafter Wolfgang Fischer einmal formuliert hat, findet Bildung – die Selbstbefreiung des Individuums – zwar tatsächlich nur selten mit Hilfe der Schule, aber dennoch immer wieder trotz ihr statt. [9] Es kann davon ausgegangen werden, dass sich auch durch die Gentechnologie die „zweite Natur“ des Menschen – seine Fähigkeit, die dem „Plusmachen“ verhaftete Nutzendimension zu transzendieren und sein Leben an Kriterien zu orientieren, die er kraft autonomer Erkenntnis als sinnvoll definiert hat – nicht ausmerzen lassen wird!

[1Vgl. dazu die pointierte Darstellung in: Huisken, Freerk: Die Wissenschaft von der Erziehung. Einführung in die Grundlügen der Pädagogik, Teil 1. VSA-Verlag, Hamburg 1991, S. 97ff.

[2Vgl.: Brodbeck, Karl-Heinz: Zur Ethik der Intelligenz. In: Ethik-Letter 4/2001, S. 2-5. In: http://home.t-online.de/home/brodbeck/intellig.htm

[3Den deutlichsten Ausdruck findet diese Sichtweise von Intelligenz in der Fähigkeit des Menschen, bewusst die Unwahrheit zu sagen. Dementsprechend betonen viele Forscher nicht nur, dass Lügen ein essentieller Bestandteil der Intelligenz ist, sie gehen sogar so weit zu folgern, dass der Mensch die im Laufe seiner Evolution stattgefundene Vergrößerung seines Gehirns der Notwendigkeit verdankt, unter den sozial zunehmend komplexer gewordenen Lebensumständen auch immer raffinierter lügen zu müssen. Vgl. : Die Lüge eine intellektuelle Höchstleistung. In: Der Standard, 19. Feb. 2003.

[4Selbstverständlich wird auch behauptet, dass der berufliche Erfolg und somit die soziale Situation von Menschen mit derselben prozentuellen Gewichtung wie die Intelligenz von Erbanlagen bzw. Umwelteinflüssen bestimmt ist. Vgl. : Medical Tribune 5/1978. In: http://www.medical-tribune.de/GSM/bericht/03_02_1978_IQ

[5Die Umwelttheorie nimmt, gepaart mit einer grundsätzlichen Akzeptanz des Konkurrenzsystems, durchaus auch menschenverachtende Züge an. Nicht die grundsätzliche Akzeptanz des Gegenübers als mündiges Wesen leitet dann das Verhalten der Erziehenden an; Erziehung reduziert sich auf den Aspekt einer Technik, mit der eine gewünschte Entwicklung in Bezug auf Nützlichkeit und Brauchbarkeit hervorzubringen versucht wird.

[6So meint z. B. der Direktor des anthropologischen Instituts der Universität Kiel/BRD, Hans Wilhelm Jürgens, dass bestimmte Formen asozialen Verhaltens, wie „parasitäres Verhalten auf Kosten der Öffentlichkeit“ nicht nur durch elterliches Vorbild, sondern auch durch die Erbsubstanz weitergegeben würde. Er befindet sich mit dieser Ansicht im gleichen Lager wie der Humangenetiker Hans-Hilger Ropers, Direktor des Max- Planck-Instituts für Genetik in Berlin, der behauptet, ein so genanntes Aggressions- Gen isoliert zu haben, das sich ausschließlich bei Kriminellen nachweisen ließe. Vgl. : Jungle World, 27. Mai 1998.

[7Beim 10. Internationalen Kongress für Zwillingsforschung in London/UK wurde eine Studie der beiden Forscher Jerskey und Lyon präsentiert, bei der durch einen Vergleich der Heirats- und Scheidungsraten eineiiger Zwillinge mit den entsprechenden Daten nicht-eineiiger Zwillinge eine genetische Beeinflussung von Verehelichungs- und Scheidungsmustern „errechnet“ worden war. Vgl. : New Scientist, 12. Juli 2001.

[8Wes Geistes Kind der hoch dotierte Wissenschafter ist, lässt sich daran ermessen, dass er auch noch darüber nachdenkt, menschliche Hässlichkeit gentechnisch zu „heilen“. Konkret will er den von ihm als „großartig“ charakterisierten Zustand herstellen, dass „alle Frauen schön“ seien. Vgl.: http://www.newscientist.com, sowie: Der Standard, 4. März 2003.

[9Vgl.: Bildung trotz Schule. In: Fischer, Wolfgang: Schule als parapädagogische Organisation. Henn-Verlag, Kastellaun 1978, S. 158ff.

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