FŒHN, Heft 15
Mai
1991

Nicht wählen!

Wählen ist beschämend primitiv, von entwürdigender Lächerlichkeit, alt und gestrig. In nichts, dem was wir wollen, angemessen. In nichts. Eine elende, niedrige, verrottete, steife Gewohnheit.

Jeder Universitätsprofessor läuft wie ein Trottel zur Wahl. Wählen heißt: seine Stimme abgeben, seine Ansprüche. Wählen heißt resignieren.

Wählen, in dem Sinne, wie sie wählen sagen, ist Sprachquälerei. Wählen ist (hier) zustimmen. Ist zustimmen wählen? Uns vorzumachen, wir könnten nur zwischen vier oder sechs Parteien wählen, ist Manipulation pur! Ganz im Gegenteil ist wählen etwas zwischen diesem gegängelten, bedrängten Leben unter dem Kapitalismus und dem wie wir es uns vorstellen, wenn wir uns trauen.

Die Reduzierung auf diese Stimmzettelwahlen ist schmutzige Propaganda! Auf fix und fertig vorgegebenem Papier, mit Spalten und Linien vollgedruckt, in dafür vorgesehenen Kästchen in vorgeschriebene Kreise ein Kreuz kreuzen zu dürfen, dazu sagt euer Wörterbuch wählen?

Wir haben nichts herzugeben, absolut nichts. Wählen ist ein Ausdruck von Schwäche. Wir können uns keine leisten.

Daß die Mehrheit nichts zu wollen hat in dieser Zeit, stimmt nicht. Was stimmt: In den Wahlen kommt sie dem, was sie will, nicht näher.

Der Mensch soll immer Zweck der Handlung sein, nicht Mittel, schallt es von der Sonntagsplatte. Ist die Hausfrau der Zweck, weswegen OMO hergestellt wird? Oder ist die Hausfrau das Mittel zum Verkauf von OMO und das der ganze Zweck? Wie auch unser Geld-Staat nicht zum Zwecke des Menschen da ist, sondern der Mensch zum Zwecke des Geld-Staates, so ist schon im Wahlprozeß nicht der zu Wählende das Mittel, sondern der Wähler. Daher wird wochenlang auf die Wähler eingebrüllt. Die Kommu­nikation ist auch in dieser aktivsten Phase eine Einbahnstraße (vom Politiker zum Volke). Wo doch wir ihnen für vier Jahre zu sagen hätten, was zu tun ist. Das zeigt ja, daß nicht wir jemanden abordnen, daß nicht wir die Politiker brauchen, sondern sie uns. Schon von Anfang an auf den Kopf gestellt: Statt daß wir um gute Vertreter unserer Interessen würben, wird von vorgegeben Vertretern um uns geworben, nein, nicht um uns, nur um unsere Stimme, wie die Waschmittelindustrie auch nicht um die Hausfrau wirbt, sondern nur um ihr Geld. Das „Wahl-Recht“ ist ein Mittel zur Machtgewinnung des Staates (und seiner Organe).

Die Wahlen sind manipuliert. Eine Werbefirma dreht uns außer der SPÖ noch Agfa und Tampax an, eine andere außer Möbel-Leiner-Möbeln noch die ÖVP. Vor einer „Volksabstimmung“ in der Schweiz wurde herausge­funden, daß 70% der Menschen die Vorlage ablehnen würden. Der führende Werbemann Europas wurde engagiert. Seine Maßnahmen führten dazu, daß 70% der Vorlage zustimmten. „Gebt mir genügend Geld“, sagte dieser Geschäftsmann einmal, „und ich mache aus einem Sack Kartoffeln einen Minister!“ Eine große politische US-Werbeagentur hat von fünfundsiebzig geführten Wahlkampagnen siebzig gewonnen. Die Chefin dieses Unternehmens auf die Frage, ob sie ihren Rekord auch erreicht haben würde, wenn sie für die andere Seite gearbeitet hätte: „Ich bin überzeugt, wir hätten fast jede davon gewonnen.“

Die Werbemittel, mit denen auf uns losgegangen wird, wurden bereits ge­gen andere eingesetzt. Die deutsche Werbeagentur Mannstein hat (nicht nur) den ÖVP-Affen aus einer CDU-Kampagne mitgebracht, und die französische Werbeagentur von Jacques Seguela hat mit dem Trick Vranitzky bereits in Frankreich Erfolg gehabt. Dort kam kürzlich auf, daß ein französischer SP-Minister lauter gekaufte Leute (ca. 700 Schilling pro Kopf) in einer groß aufgezogenen Parteiveranstaltung sitzen hatte (Kurier, 6.7.90). Und auch bei Vranitzkys großer Stadthallen-Show (11.9.90) ging der Trug bis ins Detail: „Da laufen (von vier Seiten) auch schon 100 Kinder auf Vranitzky zu“, hieß es im Regie-Papier des Wahlkampfmanagers. Und: „Aus dem Publikum werden Vranitzky unzählige Blumensträuße überreicht.“

Die FPÖ fragt nicht die Bevölkerung, sondern läßt eine Agentur ihre Kandidaten aussuchen. Riegler hat nach der Wahl eine Schweizer Management-Firma eingeschaltet statt jetzt, endlich jetzt, die Parteibasis einzuschalten.

Die Wahlen sind manipuliert. Weil die Wähler manipuliert sind.

Trotz allen Aufwands, trotz aller Maßnahmen gegen den Wählerschwund (Wahlpflicht, fliegende Wahlkommissionen, Verlängerung der Öffnungszeiten der Wahllokale, Festsetzung der Wahlen auf Herbst- oder Frühjahrssonntage, Senkung des Wahlalters, Wahlrecht für Auslands-Österreicher usw.), trotz großangelegter Wählermanipulation weitet sich der Wählerstreik massiv aus. Da nutzt auch die Hatz auf Nichtwähler nicht mehr, etwa wenn die FPÖ, ausgerechnet die Partei des Messerwetzers!, wie 1989 in Tirol, mit der Parole „Sie sind Demokrat. Wählen Sie.“ zu schrecken versucht. Wird einerseits über die Medien das Nichtwählen verbal verfolgt — „bedenklich“ (TT), „schlimm“ (Presse), „bestürzend“ (Kurier), „nicht im Sinne einer funktionierenden Demokratie“ (Industrie), „ein Armutszeugnis für unsere Demokratie“ (Krone), so tut man dort andererseits alles, um mit knalligen Aufmachern, bunten Serien und Gewinnspielen zum Gang ins Wahllokal zu bewegen. Um nur einen Blick auf die Massenblätter des Krone-Kurier-WAZ-Konzerns zu werfen: Was dem Profil sein „profil-Wahltoto“, ist dem Trend sein „trend-Wahl-Lotto“. Und was der Kurier durch Beigabe von Schnapser-Spielkarten mit Politiker-Karikaturen an Interesse keilen will („Mischen Sie mit!“), versucht die Krone mit einer „Wahl-Wette 90“ („Gewinnen Sie ein Abgeordnetengehalt für ein ganzes Jahr — 1 Million brutto“) noch zu überbieten. Während der Kurier mit einer großangelegten Serie schon viele Wochen vor der Wahl sich abmüht, eine spannende Entscheidung vorzutäuschen („So wählt Österreich — ... und wie wählen Sie?“), wirft sich die Krone mit einem Extra-Aufmacher am Wahltag („Wahl der Rekorde“) nocheinmal extrem ins Zeug, um den Niedergang der Wahlbeteiligung etwas zu bremsen.

Der VP-Generalsekretär K. vor der Wahl: „Der Wahlkampf verspricht ein spannendes, nach wie vor offenes Rennen zu werden.“ (TT, 7.9.90) Der VP-Generalsekretär K. nach der Wahl: „Ich hätte ja schlecht sagen können, daß wir keine Chance haben.“ (Salzburger Nachrichten, 22.11.90)

Aber es nutzt alles nix. Mehr als 1,2 Millionen Österreicherinnen und Österreicher haben bei der NR-Wahl 1990 nicht gewählt. Nicht­wählen heißt, nicht akzeptieren, daß die wichtigsten Entscheidungen gar nicht zur Wahl stehen. Nichtwählen ist ein Zeichen von politischer Reife, nicht — wie die Zeitungen höhnen — von politischer Unreife. 70.000 Tirolerinnen und Tiroler haben der Wahl, die von oben her angesetzt worden ist, zuletzt ihre Anerkennung verweigert, durch Fernbleiben oder durch einen Strich durch die Rechnung. In Innsbruck ist die Zahl der Streiker größer als die Zahl der ÖVP- oder SPÖ-Wähler! Auch in Salzburg! Auch in Wien! Dort hat die zuständige Magistratsabteilung noch in teuren Zeitungsinseraten Druck auszuüben versucht: „Selber Entscheidungen treffen, statt andere für sich entscheiden lassen. Das ist das Wesen der Demokratie. Zum Glück haben wir eine und können uns frei entscheiden.“

Diese Anspielung auf Länder ohne kapitalistische Demokratie, jahrzehntelang Parade-Argument jeder Verteidigung der hiesigen Wahltheater, verstehen wir und wollen daher einen Seitenblick auf das neue Glück in den neukapitalistischen osteuropäischen Staaten werfen.

Beispiel DDR: Im März 1990 bei der Volkskammerwahl wählten noch 93 Prozent, im Mai bei den Gemeindewahlen waren es noch 75 Prozent, und im Oktober bei den Landtagswahlen nur noch 70 Prozent.

Beispiel Polen: An der ersten Runde der sog. ersten freien Präsidentenwahlen 1990 beteiligten sich 60 Prozent der Bevölkerung, bei der Stich­wahl waren es 53 Prozent. Zu den ersten freien Wahlen auf Gemeindeebene im Mai des Vorjahres gingen ganze 42 Prozent hin.

Beispiel Ungarn: „Nur wenige Autostunden von uns entfernt“, hat die Österreichische Industrie-Zeitung einmal geschrieben, „würden hunderttausende Menschen liebend gerne sogar auf Knien zu einer freien, geheimen und demokratischen Abstimmung gehen.“ (April 1979) Wirklich? Zur sog. ersten freien Wahl zur Nationalversammlung gingen beim ersten Durchgang im März des Vorjahres 35 Prozent nicht hin, beim zweiten im April 55 Prozent nicht. Bei den sog. ersten freien landesweiten Gemeindewahlen (September 1990) war die Wahlverweigerung mit durchschnittlich 64 Prozent zum Teil so hoch, daß eine Wiederholungswahl angesetzt werden mußte, zu der dann (Oktober 1990) mehr als 70 Prozent nicht hingingen.

Die Parteien im Osten, mit der Hilfe westlicher Parteien gegründet, voran die mit Westkapital ausgehaltenen Regierungen (Antall, Mazowiecki/Bielecki, Calfa u.a.m.) sind allesamt ganz schnell durchgesaust. Und trotzdem sind sie durch Wahlen nicht mehr wegzubringen.

In Rumänien wurde im Winter 1989/90 eine Clique durch eine andere abgelöst. Da die Mächtigen sehr schnell erkannt haben, daß die im Kapitalismus gehandelte Art von Demokratie kein Mittel ist, mit einem verhaßten System abzufahren, gab die Nationale Front im Mai Wahlen (USA: „Nach unserer Ansicht war es eine ordentliche Wahl.“), bei denen sie „bestätigt“ wurde. Für das Volk hat sich nichts geändert.

So haben sich auch in Österreich im Machtvakuum nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus Parteien an die Spitze gesetzt, die durch keine Wahl mehr wegzubringen sind. Werden die Menschen in Osteuropa mit Sprüchen vom goldenen Kapitalismus zu ködern versucht, so haben sie seinerzeit die Österreicherinnen und Österreicher nach dem Erleiden von dessen schlimmster Ausgeburt, dem Faschismus, mit Verheißungen einer neuen humaneren gesellschaftlichen Ordnung kassiert. Renner (SPÖ): „Daß die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist unfraglich und bedarf keiner Betonung.“ (15.4.45) Figl: „Das Österreich von morgen wird ein neues, ein revolutionäres Österreich sein.“ (21.4.45)

Wahlen bewirken nichts. Die Konsum-Kassierin: Kann sie wählen? Kann sie mehr Lohn wählen? Weniger verschleißende Arbeit? Eine billigere Garconniere? (Oder nur, wer zwischen halb acht und zehn vor acht öfter aus dem Fernseher herausschaut?) In den Negerländern sind Wahlen — sagen sie — oft nur eine Farce. Was sind sie bei uns? Wir können wählen, aber wir können nichts entscheiden. Das schwer erkämpfte Wahlrecht für die Frauen zeigt, daß sich damit an der Minderwertigkeit der Frau im Kapitalismus nichts geändert hat. Für 51 Prozent Frauen sitzen acht Prozent Frauen im Parlament. Nicht im Iran, in Österreich! Die Mehrheit der Frauen will nicht Kuli bleiben und hat doch keine Möglichkeit, das durch Wahlen zu ändern.

Der Austrofaschismus ist durch Wahlen an die Macht gekommen. Er hat Österreich in den Abgrund getreten. Der Nationalsozialismus ist durch Wahlen an die Macht gekommen. Auschwitz sind freie kapitalistische Wahlen vorausgegangen. Die USA haben in einem fort „vom Volk gewählte“ verbrecherische Regierungen!

Wir können wählen, aber wir können uns nicht gegen den in Tirol ausgetragenen internationalen Verkehrs-Krieg entscheiden. Wir können wählen, aber wir können uns nicht gegen die Zertrümmerung der Neutralität entscheiden. Wir können uns nicht gegen den Ausverkauf von Grund und Boden und von Handels- und Industriebetrieben entscheiden, aber wir können wählen. Wir können uns nicht gegen die Wirtschaftsdiktatur entscheiden, aber wir können wählen. (Wählen ist halt doch das falsche Wort.) Das allgemeine Stimmrecht ist im heutigen Staat nicht imstande, den Willen der Mehrheit zum Ausdruck zu bringen oder gar durchzusetzen. 72 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher (Fessel/Ifes 1989) sehen das ganz klar: „Leute wie ich haben keinen Einfluß auf das, was die Regierung tut.“ (Profil, 27.8.90) Auf das, was „die gewählte Regierung“ tut.

Wahlen sind nicht der Weg zu einer besseren Welt.

Trotzdem wählen wir. Immer wieder. Verhalten uns wie abgerichtete Zirkustiere. Warum? Weil wir uns unsere Machtlosigkeit nicht eingestehen wollen. Weil wir dazu erzogen sind. Weil wir immer schon gewählt haben. Weil alle wählen. Weil es auch nix nutzt, nicht zu wählen. Weil die Medien antreiben. Weil es Pflicht ist. Weil man ja auch sonst nix zu wollen hat.

Entscheidungen fallen woanders. Nie wird ein Abgeordneter eingestehen, daß er nichts zu melden hat. Er würde sich damit um seinen Posten reden. Aber: Wo wir wählen, fallen keine Entscheidungen. Im Parlament. Und: Wo entschieden wird, wählen wir nicht. Oberhalb. Die österreichische Bevölkerung, die in ihrer Mehrheit gegen den Anschluss an die EG ist, hat ein Parlament gewählt, das eine Entscheidung für diesen Anschluß, die außerhalb des Parlaments getroffen worden ist, mit 95-Prozent-Mehrheit sanktioniert hat. „Demokratie“ ist ein Wort aus einem Werbespot. (s. Demokratie)

In Österreich herrscht ja nicht deswegen die Industriellenvereinigung, weil so eine Regierung im Amt ist, sondern so eine Regierung ist im Amt, weil die Industriellenvereinigung herrscht. Die ÖVP hatte nach der jüngsten Wahl-Abfuhr nicht den Hauch einer Chance nicht in die sogenannte Große Koalition zu gehen. Industriellenvereinigung und Bundeswirtschaftskammer wiesen ihr den Weg. Dieses Beispiel zeigt die Ohnmacht der Wähler, der Parteien — und die Dominanz des Kapitals. (Die Firma Henkel in Düsseldorf hat viel mehr zu sagen in Österreich als die zehntausend Leser dieses FOEHN-Heftes zusammengenommen, obwohl sie bei den Wahlen keine Stimme hat.) Die, die eine Stimmzettel-Stimme haben, haben nichts zu sagen. Die das Sagen haben, brauchen keine solche Stimme. Vom deutschen Kanzler Adenauer stammt das treffende Wort: „Bevor wir etwas für die Wirtschaft tun können, müssen uns die Arbeiter erst einmal wählen.“ (Wirtschaftswoche, 2.7.71)

Das heißt, die Wähler sind dazu da, das, was fürs Kapital getan werden muß, zu legitimieren.

Wer wählt, macht sich schuldig. Wer wählt, anerkennt das als Demokratie, das als Wählen. Hingehn wählen, gleich was, heißt ja sagen zu diesem Wahlsystem und den staatlichen Institutionen. Heißt dem Bluff zustimmen gehn und noch dankesagen gehn fürs Bescheißen. Wenn wir wählen, wählen wir überhaupt nix, sondern bestätigen was ist. Das System, unter dem wir leiden (siehe Kapitalismus). Geben wir unsere Zustimmung zum Weitermachen.

Transit-Opfer wählen, wenn sie wählen, Transitzuwächse, Frauen, wenn sie wählen, wählen Unterdrückung, Tierversuchsgegner, die wählen, wählen Tierversuche, wählende Anti-Rassisten wählen Ausländerbekämpfung. Hier wählen heißt doch, einverstanden zu sein mit Wohnen als Ware, mit Gesundheit als Ware, mit Arbeitskraft als Ware. Wahlgänge dieser Art sind dazu da, anderswo und vor uns getroffene Entscheidungen durch uns gutheißen zu lassen.

Aber wir können der Regierung nicht dienen dabei, noch mehr Verkehr durch unser Land zu schleußen, die Souveränität unserer Heimat um die Ecke zu bringen, noch mehr Gift in die Natur zu kippen, zu schütten, zu blasen.

Wählen, egal was, hieße die Mitverantwortung für die in den Indu­strie-Hauptquartieren in Wien und Bonn und Brüssel vorgegebene Politik zu übernehmen. Für eine, die allein in Österreich achthunderttausend Arme produziert, die jetzt auch noch zur Ausplünderung Osteuropas eilt, die zigtausend unserer Bauern den Garaus macht.

Wir würden ja, hätten wir zu wählen, nicht zulassen, z.B. daß am Tiroler Inn zwölf neue Kraftwerke gebaut werden, z.B. daß tausende Ausländer mitten in Österreich wie Viecher gehalten werden, z.B. daß Menschen am Atmen sterben. Und doch hat nicht das Parlament diese Verbrechen zu verantworten, sondern wir: wenn wir wählen.

Der wirkliche Zweck der Wahlen: Sind Wahlen, wie sie sagen, in den Diktaturen eine Farce, so sind sie in unserer kapitalistischen Demokratie eine blutige Notwendigkeit. Die Wahlzeiten dienen dazu, die wahren Machtverhältnisse immer wieder frisch zu tarnen, die Administrationsebene/Regierungsebene als Entscheidungsebene darzustellen. Weil die tatsächliche Politik den Glauben an eine Volksregierung täglich Lügen straft (s. 19.30 FS 1 und FS 2), sind immer wiederkehrende Wahlinszenierungen so zwingend.

Die hundertemillionenteuren Schauspiele haben nicht den Zweck, vier oder sechs oder zehn Mandate einer Partei wegzunehmen und einer anderen dazuzugeben, sondern den, die Illusion der Bevölkerung, eine Demokratie zu haben, neu anzufachen.

Wahlkämpfe dienen dazu, die Regierten aufzuspalten, Gruppen gegeneinander auszuspielen, ihre Solidarität gegenüber den Herrschenden zu zerschlagen, Widersprüche zuzudecken: Daniel Swarovski und sein letzter Schleifstaubschlucker haben je eine Stimme. Klassengegensätze werden in Parteienzank umgeleitet. Den Besitzenden und den Habenichts, die eben noch eine Welt getrennt hat, trennt nun nur noch die Hinneigung des einen zu Vranitzky und des anderen zu Riegler. Die gegen uns aufgebotenen Parteien streiten sich zu diesem Zwecke im Schutze ihrer Immunität vorzüglich, heißen einander „Taschlzieher“, „Gauner“, „Lügner“, gar „kriminell“. (Uns stockt fast der Atem vor soviel Unversöhnlichkeit.)

Ein Wahlkampf ist ein Kampf gegen den Wähler. Es gilt, seine in vier Jahren gewonnene Einsicht zu trüben, ihn hinsichtlich seiner Möglichkeiten zu desorientieren, ihn von Konsequenzen abzuhalten. Wahlen sind das Einschreiten dagegen, daß die Menschen ihren Interessen selbst nachkommen. (Hier liegt die machterhaltende Funktion der Naturschützer-Partei.) Wahlen dienen der Abwehr der Eigeninitiative. Wahlen sollen Verwirrung stiften, den Blick auf den Ausweg verstellen. Die am Gift der Lastwagenkolonnen Erstickenden von der Straße zurückholen. Die Wahlen sind daher mit 500 Millionen Schilling nicht zu teuer. Wahlen sind gerade das Mittel, das Volk von der Politik fernzuhalten. Hier von einem Wahlrecht zu sprechen, ist möglicherweise in gewisser Hinsicht vielleicht ein bißchen durchtrieben.

Der ganze (finanzielle, mediale, personelle) Wahl-Einsatz hat die Aufgabe, das bei dir und mir schnell entstehende Gefühl, nichts zu melden zu haben oder gar die Bildung des schon politischen Bewußtseins, sich damit nicht mehr abzufinden zu müssen, immer wieder abzuwürgen. Alle paar Jahre wieder auf Null zu bringen. Die Wahlen sind nicht dazu da, politisches Engagement zu entfachen, sondern es auszulöschen. Die Mobilisierung, zu der alle Medien trommeln, ist eine Demobilisierung. Die betriebene Aktivierung des Wählers ist nur auf das Zustimmen, auf Machtdelegation gerichtet — Nichtwähler und Ungültigwähler sind sozusagen das Wasser, das bei dieser Prozedur verschüttet geht —, der dann auch der Rückfall des Wählers am Tag nach der Wahl in Apathie folgen soll. Wenn die Wahl-Ware wie eine Konsum-Ware angeboten wird, ist das die Einladung, die Politik zu konsumieren, Objekt des Geschehens zu sein. Wahlen haben die dringende Funktion, die Menschen, die sich aus der Rolle des Objekts der Politik herausarbeiten, wieder in diese zurückzustoßen. Fünfhundert Millionen sind dafür kein zu hoher Preis.

Die Wahl ist eine einfache Erfindung nach dem Prinzip Finger in den Mund stecken, mit deren Hilfe die Menschen um ihre politische Angefres­senheit erleichtert werden. Der Wahlkampf selber dient der Massierung jener Körperregion, wo die Frustrationen sitzen. Damit der Schuß aber nicht nach hinten losgeht, hat der Wahlkampf die wachgekitzelten gegen die Mächtigen gerichteten Emotionen so zu lenken, daß sie von der Macht vereinnahmt und sogar gegen die Ohnmächtigsten gekehrt werden können: Die Umpolung der Aggressionen gegen oben in solche z.B. gegen Ausländer findet in jedem Wahlkampf statt.

Wahlen sind auch dazu da, den rechtmäßigen Aufstandsbewegungen aller Art, wie es sie im ganzen Land gibt, die Gesetzlichkeit des Parlaments entgegenzusetzen, z.B. dem berechtigten Widerstand der Lechtaler gegen Kraftwerksbauten die Legalität des Tiroler Landtages. Hier tut die Partei der Naturschützer allein schon durch ihr Hineinsitzen in die Abgeordneten­reihen große Dienste, sie untergräbt moralisch die Daseinsberechtigung der lokalen Initiativen. Mit Hilfe der Wahlpflicht — bei Strafe! — will das auf diese Art zustandegekommene Parlament die freien Bewegungen ins Unrecht zu setzen.

Von unten hinaufwählen! Es ist trottelhaft in ein Meer seinen Tropfen zu tropfen und darauf zu warten, daß es sich verfärbt.

Reden wir von später: Die Tiroler Bauern sind alle miteinander gegen den sie vernichtenden EG-Einschluß Österreichs. Der Wahlkampf verführt sie dazu, einen ganz oben zu wählen, dem es nicht um ihre Interessen zu tun ist, statt immer nur einen unter sich auszusuchen, der ihre Entscheidung vertritt. Es wäre ja so einfach: Von unten hinaufwählen! Kleine Einheiten wählen sich eine Vertreterin, einen Vertreter, diese Vertreterinnen und Vertreter der kleinen Einheiten wählen unter sich wieder eine Vertreterin, einen Vertreter ... und so fort. Bis die letzten zehn Vertreterinnen und Vertreter, wenn es das braucht, eine Landesvertreterin, einen Landesvertreter wählen. Immer nur aus dem eigenen Kreis wählen, nie einen Stellvertreter woanders her (wie heute, wie pervers: einen aus der ÖVP, einen aus der SPÖ!). Unsere, entschuldigen Sie hier den Ausdruck, Demokratie ist mit Berechnung so angelegt, daß der Wille der Basis immer ausgedrückt wird im Sinne von ausgemerzt. Wenn die Menschen in ihrem engsten Bereich selbst entscheiden können, geht es vielen Problemen bevor sie groß werden an den Kragen. Z.B. die Schönberger und die Vomper entscheiden sich gegen den EG-Schwerlasterverkehr durch ihre Dörfer, „Jawohl, das ist die Mehrheit!“, und sind ihn damit los. Aber hier heißt das Demokratie, wenn sie sich zwischen Riegler und Vranitzky entscheiden.

Wahlen haben zu verhindern, daß Menschen mit ihren hautnahen Bedürf­nissen durchkommen, sie werden alle zusammengeworfen und dann verarscht in einer Politik entfremdeter Interessen. (Als rührte der jahrelange Lucona-Schaukampf an unsere wirklichen Bedürfnisse! Zum Beispiel.)

Die Sache, die hier gelöst werden kann, muß hier gelöst werden: im Wohnblock, in der Straße, im Ortsteil, im Dorf usw. Wir brauchen keine fernen Politiker anzustellen! Der Schuldirektor, die Schuldirektorin, wenn es solche braucht, werden in der Schule gewählt. Die Entscheidungen, die die Gruppe betreffen, werden in dieser Gruppe gefällt, die die Abteilung betreffen, in der Abteilung, die den Betrieb betreffen, im Betrieb, nirgends sonst. Die Wohnstraße ist nur im Viertel, nicht im Stadtgemeinderat, wo andere Interessen dominieren, durchzusetzen. (Warum sollen wir, denen hier Wohnungen fehlen, uns auseinanderspalten lassen in eher Voggenhuber-Wähler und eher Dimpflhuber-Wähler!)

Was uns angeht, entscheiden wir selbst. Den Standpunkt unseres Ortsteils vertritt der Helmut, nicht ein angedienerter Parteidiener Lanner oder Müller. Wer als Vertreter unserer Haltung seiner Aufgabe nicht nachkommt, ist schon nicht mehr unser Vertreter. Es ist jeden Tag kontrollierbar, wie unsere Interessen durchgesetzt werden. Jeden Tag kann Neuwahl sein, jeden Tag Abwahl.

(Was böte uns eine nicht im Dienste unserer Beherrschung stehende Tech­nik für großartige Formen, zu jeder Stunde wirklich demokratische Entscheidungen, das ganze Land betreffend, zu finden! Welches Niveau von Demokratie wäre — etwa über ein empfänger- und senderfähiges Fernsehen — möglich, wenn diese Apparatur nicht in den Fängen jener wäre, die mit allen Mitteln Demokratie verhindern! Mit Licht-Test, mit Telefonanruf schon könnte über wichtige Fragen (EG-Anschluß, Neutralität usw.) abgestimmt werden. Eingesetzt wird dieses Mittel dafür, uns am Samstagabend darüber befinden zu lassen, ob in der TV-Show der Charles Aznavour-Nachäffer den Charles Aznavour oder die Gitte-Nachäfferin die Gitte besser nachgeäfft hat.)

Aber, wir haben schon von später geredet. Von der Zeit nach der drückenden Wirtschaftsdiktatur.

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