Streifzüge, Heft 40
Juni
2007

Notizen aus der Begriffswerkstatt

Mummenschanz, den das demokratische Staatswesen treibt, um gegen die als Sachzwang erscheinende objektive Fatalität des Kapitalverhältnisses, der der gesellschaftliche Prozess gehorcht, einen Anschein von menschlicher Willensfreiheit, von subjektiver Entscheidungsfindung aufrecht zu erhalten. Unbeschadet der offensichtlichen ökonomischen Zwänge, die das politische Handeln derart einschränken und seine Entscheidungskompetenz so sehr reduzieren, dass Politik in der Tat als Spiegelfechterei, eben als Mummenschanz, figuriert, scheint sich immerhin noch ein Moment von Realpolitik, ein originär politischer Inhalt geltend machen zu lassen – die Entscheidung nämlich über die konkrete Relation zwischen Kapitalanspruch und Sozialverbindlichkeit, die Entscheidung darüber mit anderen Worten, in welcher Proportion der für das Kapital konstitutive Anspruch auf akkumulative Verwertung einerseits und das staatsbürgerliche Verlangen nach konsumtiver Beteilung an dem jeweils geschaffenen Mehrwert andererseits zum Tragen kommen sollen. Spiegelung dieses verbliebenen Politikums scheint das mittlerweile für alle kapitalistischen Demokratien typische und wenn nicht de jure, so jedenfalls doch de facto existierende Zweiparteiensystem, bei dem eine ihrem traditionellen Selbstverständnis nach eher dem Kapital verbundene und eine mit der gleichen traditionellen Selbstverständlichkeit eher dem Sozialen verpflichtete Partei um die Regierungsgewalt konkurrieren.

Tatsächlich aber zeigen die Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts, dass beide Parteien in beiden Sätteln gerecht sind und ihr Verhalten weniger von ihrem jeweiligen Programm als davon abhängig ist, ob sie an der Regierung oder in der Opposition sind. Dieser ihrer – aller Programmatik Hohn sprechenden – praktisch-politischen Austauschbarkeit trägt ihre mittlerweile übliche egale Charakterisierung als „Volksparteien“ Rechnung. In ihrem politischen Handeln determiniert zeigen sich die Volksparteien eher durch ihr Rollenspiel als durch programmatische Festlegungen. Die an der Macht befindliche Volkspartei übernimmt dabei im Normalfall die Rolle der die kapitale Verwertung sicherstellenden Realistin, während die in der Opposition befindliche Volkspartei auf die stärkere Berücksichtigung und bessere Befriedigung sozialer Ansprüche dringt. Sinn dieser Rollenteilung scheint es, jeweils die Anpassung der Gesellschaft an die Erfordernisse der Kapitalakkumulation sicherzustellen und dabei stets aber die ebenso scheinbare wie tröstliche Perspektive einer durch einen Regierungswechsel zu erreichenden Neuorientierung und besseren Berücksichtigung sozialer Belange zu erhalten.

So kooperativ und staatsbürgerlich vernünftig das um seinen – im Vergleich mit den andern Weltregionen – relativen Wohlstand besorgte Staatsvolk der kapitalistischen Demokratien aber auch sein mag, angesichts der Regelmäßigkeit, mit der die Hoffnungen, die es in den Regierungswechsel setzt, enttäuscht werden, müsste es eigentlich des abgekarteten politischen Spiels müde werden und, wie seine Hoffnung auf soziale Besserstellung, so seinen Glauben an die suggerierte demokratische Alternative verlieren. Dass es so brav und unverdrossen mitspielt, hat seinen Grund darin, dass das abgekartete Spiel mittlerweile dazu dient, eine Tatsache zu kaschieren, der sich nur schwer ins Augen schauen lässt und von der die Staatsbürger deshalb lieber nichts wissen wollen – der Tatsache, dass wegen des heißlaufenden kapitalistischen Produktionsapparats und der Überschwemmung des Weltmarkts mit Waren es für das jeweilige nationale oder regionale Kapital gar nicht mehr um Akkumulation, die Produktion von Mehrwert, sondern nur noch um die durch wohlfeilere Produktion zu erreichende Unterbietung der internationalen Konkurrenz und Behauptung der eigenen Marktstellung auf dem Weltmarkt geht und es deshalb auch in den einzelnen Volkswirtschaften gar nichts mehr zu verteilen beziehungsweise umzuverteilen gibt, dass vielmehr mittlerweile die einzige politisch-ökonomische Option ein fortlaufender Abbau konkreter sozialstaatlicher Ansprüche zwecks Erhaltung des Sozialstaats als abstrakt solchen ist. Angesichts dieser finsteren Wahrheit erweist sich das politische Rollenspiel zwischen kapitalbestimmter Regierung und sozial gesinnter Opposition als ein wie immer auch – nach Maßgabe seiner Verlogenheit – verzweifelter Versuch, den Ausnahmezustand einer auf den Konkurs zutreibenden ökonomische Dynamik hinter einem vertrauten Genrebild von politischer Normalität zum Verschwinden zu bringen.

Staat

Seiner archaischen Herkunft und vorbürgerlichen Konstitution nach ist der Staat, wie noch die Rede vom „Staat machen“ und vom „sich in Staat werfen“ bezeugt, das Corpus, das die Gesellschaft aus sich heraus und über sich setzt, um in ihm ihre sonntägliche Gestalt anzuschauen, ihr Telos und wahres Selbst, für das sie lebt und wirkt, dem sie die Früchte ihres Wirkens, den von ihr mittels kooperativ-arbeitsteiliger Naturbearbeitung erzeugten Reichtum und Überfluss, übereignet und dessen Größe und Herrlichkeit ihr eigentliches Anliegen ist. Der Grund für diese traditionell fetischistische Besetzung des Staats durch die Gesellschaft ist seine Stellvertretungsfunktion, seine Rolle als Repräsentant einer vom gesellschaftlichen Reichtum und Überfluss auf den Plan gerufenen Macht, die in der Unmittelbarkeit ihres Auftretens Miene macht, das menschliche Dasein und alle seine Hervorbringungen für eitel und nichtig zu erklären. Der Staat steht dafür ein, dass es gelungen ist, diese transzendente Macht in ein das menschliche Dasein und die irdische Welt setzendes und affirmierendes Transzendental, die in der irdischen Welt ihre Domäne findenden und ihr Eigentum gewahrenden Götter, zu verwandeln, und deshalb hat er als Stellvertreter der Götter auf Erden, als ihr Majordomus oder Prokurist, Anspruch auf den von der Gesellschaft erzeugten Reichtum, der ihm zum Lohn für die in ihm Gestalt gewordene Umfunktionierung der Negativität eines die Welt abgründig transzendierenden Unwesens in die Positivität von die Welt transzendental sanktionierenden Gottheiten übereignet wird und durch dessen Entgegennahme er zugleich den Beweis erbringt, dass jene Umfunktionierung wirklich und wahrhaftig gelungen ist.

Das ändert sich mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist das Resultat eines dem kommerziellen Distributions- oder Marktmechanismus, der sich im Schatten des traditionellen Staatswesens und mit dessen wohlwollender Duldung beziehungsweise interessierter Förderung entwickelt, entspringenden Emanzipation der gesellschaftlichen Reichtumproduktion zu einer Art von Selbstzweck oder ebenso eigengesetzlichem wie selbstbestimmtem Prozess. Ohne seinen traditionellen Zweck, die Erhaltung und Erhöhung des Staats, förmlich in Frage oder gar explizit in Abrede zustellen, wird der gesellschaftliche Reichtum dank kommerziellem Mechanismus zu einem Mittel seiner eigenen Vermehrung und in diesem Sinne zum Selbstzweck: Indem er, statt in toto beziehungsweise abzüglich nur des für die Subsistenz der Gesellschaft, die ihn erwirtschaftet, nötigen Teils an den Staat übereignet zu werden, vielmehr zum größeren Teil den Arbeitenden wieder zufließt, damit diese als Gegenleistung neuen und vermehrten Reichtum hervorbringen, löst das einen Akkumulationsprozess aus, der sich, weil die an ihm Beteiligten mit seinem Erfolg ein Eigeninteresse verbinden, zugleich als ein Prozess der Entfaltung der von ihm involvierten Produktionssphäre und Entwicklung der durch ihn mobilisierten Produktivkräfte erweist und als solcher die Eigenständigkeit eines ad infinitum, sprich, ad calendas graecas eines Quantums, dem sich nichts mehr hinzufügen ließe, den unmittelbaren Anspruch des Staates auf ihn, den gesellschaftlichen Reichtum, suspendierenden Vorganges eigenen Gewichts und auch Rechts gewinnt.

Der durch diese Selbstvermittlungsprozedur des gesellschaftlichen Reichtums erst einmal nur reell, nicht formell in seinen Ansprüchen außer Kraft gesetzte Staat macht gute Miene zum bösen Spiel der bürgerlichen Gesellschaft und unterstützt es sogar, weil dank jener kommerziell vorangetriebenen Entfaltung der Produktionssphäre und Entwicklung der Produktivkräfte auch er ökonomisch davon profitiert und, obwohl er nicht mehr den ganzen gesellschaftlichen Reichtum überlassen bekommt, sondern bloß noch mit einem als Fiskus bestimmten Teil von ihm, genauer gesagt, einer Proportion des jeweiligen Zuwachses an gesellschaftlichem Reichtum, abgefunden wird, letztlich besser dasteht und über größere Ressourcen verfügt als zuvor. De facto freilich und dank der Macht des Faktischen schließlich auch de jure wandelt sich damit seine Stellung und Bedeutung: Er wird aus einem Herrn und Souverän, der als gottgegebener Adressat und Nutznießer gesellschaftlicher Reichtumerzeugung quasi unabhängig von seiner praktischen Regierungs- und Verwaltungstätigkeit den Reichtum überlassen bekommt, zu einem Funktionär und Intendanten, der einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums ausdrücklich dafür erhält, dass er die materialen Bedingungen schafft und die sozialen Verhältnisse gewährleistet, die für die zum kommerziellen Akkumulations- und dann industriellen Kapitalisierungsprozess verselbständigte bürgerliche Reichtumproduktion erforderlich sind. Er zeigt sich auf dem Höhepunkt dieser seiner Instrumentalisierung und Abdankung als gesellschaftliches Telos aus der archaischen causa finalis der Gesellschaft in den von der Gesellschaft als notwendiges Übel tolerierten und aber nach Möglichkeit auf ein institutionelles Minimum reduzierten Nachtwächterstaat des neunzehnten Jahrhunderts verwandelt.

Allerdings bleibt er das nur kurze Zeit und gewinnt dann erneut Züge des gesellschaftlichen Telos. Der Grund dafür sind die Konflikte und Krisen, in die die bürgerliche Reichtumproduktion die Gesellschaft zunehmend hineintreibt und die bei Strafe eines der Gesellschaft drohenden Absturzes in Gewalt und Bürgerkrieg den Staat dazu zwingen, sich zum Sachwalter der durch den ökonomischen Prozess benachteiligten beziehungsweise ins Elend gestürzten sozialen Gruppen zu machen und sie unter seine Fittiche zu nehmen. Als Repräsentant beziehungsweise Bevollmächtigter dieser sozialen Gruppen gewinnt der Staat etwas von seiner früheren teleologischen Qualität zurück und gibt dem gesellschaftlichen Reichtumbildungsprozess wieder einen ihn in seinem kapitalen Selbstvermittlungs- oder Selbstzweckcharakter stornierenden subjektiven Adressaten oder menschlichen Nutznießer. Indes findet sich so der Staat in das unaufhebbare Dilemma gestürzt, dass er zur Beschaffung der Mittel zur Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums und Versorgung der durch den kapitalen Reichtumbildungsprozess benachteiligten Gruppen auf eben jenen Prozess angewiesen ist und diesen also, will er seine sozialen Folgen korrigieren, wiederum unterstützen und befördern muss, um die für die Korrektur nötigen materialen Ressourcen zu gewinnen. Er steht also vor dem Paradox, dass er um der Heilung vom Übel willen diesem Vorschub leisten muss. Was Wunder, dass er sich, um nicht an sich irre zu werden, zu böser Letzt faschisiert, sprich, sich rückhaltlos für einen ungehemmten kapitalen Reichtumbildungsprozess stark macht und die sozialen Ansprüche seiner Klientel, der vom Prozess benachteiligten sozialen Gruppen, durch die kriegerische Unterwerfung der benachbarten Staaten und deren Ausbeutung zu befriedigen sucht.

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