Heft 7-8/2000
Juni
2000

Oh wunderbare Menschenrechte!

Die Europäische Menschenrechtskonvention auf dem Prüfstand

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist im Unterschied zur von der UNO verabschiedeten allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geltendes Recht, mit einem Instanzenzug bis zum Gerichtshof in Straßburg.

Die EMRK hat in Österreich Verfassungsrang. Ihre Wertschätzung beruht vermutlich auf ihrer Unkenntnis; eine halbwegs nüchterne Lektüre sollte einige Illusionen kurieren.

Artikel 2 — Recht auf Leben

1. Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden.

Das Leben, die physische Existenz ist keine Selbstverständlichkeit. Ein „Recht auf Leben“ bedeutet, die Obrigkeit macht sich zuständig für das Leben der Untertanen, sie legt es sich als Frage vor, in der einseitig der Souverän, die politische Herrschaft entscheidet. Wie will der Staat es mit dem Leben der Bürger halten? Das „Recht auf“ impliziert, daß es einen Herrn über das Leben gibt; die politische Macht macht sich zur Bedingung für die individuelle Existenz. Jeder, der leben will, ist auf ihre Zustimmung angewiesen, darauf, daß es ihm erlaubt wird. Ohne staatliche Erlaubnis läuft nichts — nicht einmal das Leben und Überleben.

Recht ist übrigens immer das Recht des Stärkeren. Es gibt kein anderes Recht. Im Inneren des Staates ist der Stärkere der Stärkste überhaupt, er erhebt den Anspruch auf das Monopol auf Gewalt und duldet damit keine anderen Starken neben sich — ausgenommen sie sind von ihm lizenziert. Ein Philosoph: „Macht ohne Recht führt zur Tyrannei. Recht ohne Macht zur Lächerlichkeit.“ Abgesehen vom guten Tip an Tyrannen — ein Gesetzbuch schreiben lassen, Herr Tyrann! — gilt das natürlich auch für das Recht auf Leben und andere Menschenrechte: Die Verleihung, die Zuerkennung unterstellt die in Form der Todesstrafe explizite Verfügung darüber, sonst wäre die Gewährung eine Lächerlichkeit, eine Anmaßung ohne Grundlage.

Es ist üblich, aus diesem und anderen Rechten ein Kompliment an den Staat zu machen. Das Recht auf Leben, also die Macht der öffentlichen Gewalt über das Leben als positiv nachzuempfinden, das geht nur, wenn die Drohung — man hat das Recht auf Leben, obwohl der Staat anders könnte — zur Kenntnis genommen und mitbedacht wurde. Damit Dankbarkeit herauskommt, muß die Möglichkeit mitschwingen, wonach der Staat anders könnte. Wenn er einem ohnehin nichts anhaben könnte, wäre das positive Vermerken dieser Unterlassung gegenstandslos.

Dieses Anerkennung — „Immerhin darf man leben!“ — läuft also nur über den Vergleich mit Gegenden, wo der Staatsterror üblich ist: Immerhin, der österreichische Staat handelt nicht so wie der israelische oder der in Guatemala — sollte einem nicht eher angst und bange werden, weil er das doch können will, der hiesige Souverän? Sollte man nicht wenigstens fragen, warum der Staat so scharf auf die Macht über das Leben ist? Kaum zu glauben, daß die politische Gewalt die Macht über das Leben braucht, um das Leben zu schützen; daß die erste Bedingung für den Schutz des Lebens die Möglichkeit ist, es zu nehmen?

Das Bekenntnis zu den Menschenrechten und das Umlegen von Menschen geht notwendig zusammen, warum, steht in Abs. 2 Art. 2 MRK. Daraus ergibt sich, daß staatliches Töten zwar den Menschen umbringt, aber nicht immer sein Menschenrecht auf Leben verletzt:

2. Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:
a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;
b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;
c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.

Gewalt ist unbedingt erforderlich, wenn „rechtswidrig“, also von Unbefugten Gewalt angewandt wird — damit wird, jenseits der allfälligen Beschädigung des Opfers, das Gewaltmonopol verletzt und daher ohne Rücksicht auf das Leben des Verletzers wiederhergestellt. Gewalt ist weiters unbedingt erforderlich, wenn sich jemand dem befugten, daher „ordnungsgemäßen“ Zugriff oder Zuschlagen des Staates widersetzt. Gewalt ist außerdem unbedingt erforderlich, wenn jemand gegen den Staat vorgeht. Geschützt ist also das Leben vom diesbezüglichen Recht sehr bedingt — Art. 2 gilt vielmehr dem Schutz des Gewaltmonopols.

„Recht auf Leben“ bedeutet, der Staat hat das rechtliche Monopol aufs Töten. Die EMRK kennt Fälle, in denen das Leben mißbraucht wird: Sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen oder gegen den Staat vorzugehen ist so ein Mißbrauch. Die Tötung von Staats wegen ist dann kein Verstoß gegen das Recht auf Leben.

Dieses Recht ist auch kein Schutz vor privaten Übergriffen, davor, daß ein Bürger den anderen umbringt. Geschützt ist nicht das Leben, sondern das Recht darauf, d.h. der Staat verfolgt und bestraft das unbefugte Töten als Rechtsbruch, als Verstoß gegen sein Gewaltmonopol. Verhindert wird dadurch kein Mord und kein Totschlag.Das „Recht auf Leben“ ist kein Recht auf Lebensmittel. Es gibt auch kein Recht auf Geld oder auf Einkommen oder auf brauchbares Zeug. Diese Interessen fallen außerhalb dieses Rechts.

Clinton hat das amerikanische Volk u.a. mit der Behauptung auf den Krieg gegen Jugoslawien eingestimmt, daß Milosevic sonst glatt eine „Lizenz zum Töten“ überlassen würde. Artikel 2 EMRK ist diese Lizenz; der Staat und nur der Staat darf töten. Wenn die USA Milosevic diese „Lizenz“ verweigern, dann erkennen sie den Staat nicht mehr an, aber das kann unmöglich an dieser „Lizenz“ liegen. Die NATO nimmt diese Lizenz schließlich selbst in Anspruch. Es konnte also nicht um das Töten als solches gehen, sondern um die Frage, wer darf und wer nicht. Der schlichte Tatbestand, daß eine Regierung gewalttätig gegen ihr Volk vorgeht, ist menschenrechtskonform. Wenn die Opfer von „Schurkenstaaten“ als rechtswidrig hergestellte Opfer gelten, liegt das daran, daß die USA die inneren Gegner eines solchen Staates als ihre 5. Kolonne betrachten, und deswegen dieser Opposition gegen die Staatsmacht Recht geben. Das sollte man nicht damit verwechseln, daß Amnesty International eine mächtige Unterstützung bekommen hätte.

Artikel 5 — Recht auf Freiheit und Sicherheit

1. Jedermann hat ein Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf einem Menschen nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) wenn er rechtmäßig nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht in Haft gehalten wird;
b) wenn er rechtmäßig festgenommen worden ist oder in Haft gehalten wird wegen Nichtbefolgung eines rechtmäßigen Gerichtsbeschlusses oder zur Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung;
c) wenn er rechtmäßig festgenommen worden ist oder in Haft gehalten wird zum Zwecke seiner Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, sofern hinreichender Verdacht dafür besteht, daß der Betreffende eine strafbare Handlung begangen hat, oder begründeter Anlaß zu der Annahme besteht, daß es notwendig ist, den Betreffenden an der Begehung einer strafbaren Handlung oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
d) wenn es sich um die rechtmäßige Haft eines Minderjährigen handelt, die zum Zwecke überwachter Erziehung angeordnet ist, oder um die rechtmäßige Haft eines solchen, die zum Zwecke seiner Vorführung vor die zuständige Behörde verhängt ist;
e) wenn er sich in rechtmäßiger Haft befindet, weil er eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten bildet, oder weil er geisteskrank, Alkoholiker, rauschgiftsüchtig oder Landstreicher ist;
f) wenn er rechtmäßig festgenommen worden ist oder in Haft gehalten wird, um ihn daran zu hindern, unberechtigt in das Staatsgebiet einzudringen oder weil er von einem gegen ihn schwebenden Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren betroffen ist.

  1. ... die Gründe seiner Festnahme und über ... Beschuldigungen unterrichtet werden.
  2. ... unverzüglich einem Richter ... vorgeführt werden. ... Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist.
  3. ... ein Verfahren zu beantragen, ... raschmöglichst über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden wird ...
  4. ... Anspruch auf Schadenersatz.

Für „Freiheit und Sicherheit“ ist mit der größten Selbstverständlichkeit wieder die politische Macht zuständig. Der Bürger ist frei, was das heißt, definiert der Staat, dann ist er dementsprechend und genau so frei. Obige Definition hat im Vergleich zu philosophischen Reflexionen über Freiheit einen Vorzug: Sie ist praktisch gültig, sie wird mit Gewalt gültig gemacht. Freiheit ist ein Verhältnis zum Staat: Es ist dem Menschen die Verfolgung seiner Anliegen, Interessen, Zwecke ausdrücklich gestattet — er muß bloß aufpassen, daß er bei der Betätigung der Freiheit nichts unternimmt, wofür deren Entzug vorgesehen ist. Die Logik ist wie beim Recht auf Leben: Nach der Gewährung der Freiheit kommt die Auflistung der Gründe, aus denen sie kassiert wird.

Für rechtmäßige Freiheitsberaubung gibt es eine Menge Gründe. Die Festlegung der Anlässe, aus denen „rechtmäßig festgenommen“ oder „rechtmäßig verurteilt“ wird, obliegt einseitig dem Gesetzgeber. Nüchtern betrachtet ist die Freiheit eine Festlegung — nicht so, daß dem Bürger vorgeschrieben ist, was er zu tun hat, sondern so, daß er sich Zwecke setzen darf, Interessen haben darf, in deren Verfolgung muß er sich halt am Erlaubten und Verbotenen orientieren. Sein Sollen kommt dem Bürger als ein Dürfen entgegen. Seine Rechte sind die Art und Weise, in der er auf das Staatsinteresse festgelegt wird.

Im Art. 5 ist eine Ideologie über die Menschenrechte enthalten, nämlich die Ideologie von der Beschränkung, die Ideologie, daß das Recht über der Macht stünde und eine Schranke für diese sei bzw. für deren Willkür: Diese Ideologie ist das Wort „nur“ — „nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ darf Freiheit entzogen werden. Das ist geschwindelt, weil so getan wird, als sei das Einsperren auch noch in anderen Fällen vorgesehen, und als seien jene anderen Fälle ausgeschlossen bzw. sei das Einsperren auf die aufgezählten Fälle reduziert. Aber diese zusätzlichen Fälle sind ohnehin im Moment nicht vorgesehen — solange bis sie aktuell werden, in Form einer Gesetzesnovelle. Eine Einschränkung liegt nur gegenüber der Fiktion vor, daß das Einsperren das generelle Anliegen des Staates sei, so als sollten Leute immer und überall und grundlos eingeknastet werden, als sei es ein staatliches Hauptanliegen, Menschen zu verhaften — und nur wenn man diese Friktion mitmacht, werden die aufgelisteten Fälle zur „Einschränkung“. Wenn die Macht „eigentlich“ kriterienlos, willkürlich und immer zuschlagen möchte, dann wird aus dem berechneten, kalkulierten Freiheitsentzug eine staatliche Einschränkung! Als würde der Staat auch Leute festnehmen wollen, die nichts verbrochen haben — und darauf würde er dann doch verzichten.

Das Recht ist eben kein Gegensatz zur Macht und auch keine Einschränkung, sondern ihr Mittel; als Recht wird die Gewalt zweckmäßig und zielgerichtet eingesetzt. Die Bürger werden durch die Verbote zu den erwünschten Verhaltensweisen erpreßt. Das Recht ist keine Korrektur der Macht, sondern ihr kalkulierter Verlauf, ihr zielgerichteter Einsatz. Sie ist nicht der Lust und Laune von Polizisten und Politikern überlassen, sie existiert unabhängig von der Amtsperson, allein gemäß der im Gesetz gegebenen Zweckmäßigkeit!

Artikel 10 — Freiheit der Meinungsäußerung

1. Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.

Großartig! Etwas, das unvermeidbar ist, etwas, das schlechterdings jeder hat und jeder macht — ist doch tatsächlich erlaubt! Der staatliche Ausgangspunkt ist wieder völlig klar: So etwas banales — jemand denkt und teilt das Ergebnis auch noch anderen mit — kann unmöglich denen überlassen bleiben, die Meinungen haben. Auch hier ist selbstverständlich die öffentliche Gewalt zuständig, die sich natürlich selbst die Frage vorlegt, wie sie es denn mit den Meinungen der Bürger halten will. Und wer nicht nur eine Meinung hat, wer auch gleich auf die Meinungsfreiheit angewiesen ist, weil der Staat das Meinen als Materie seines Rechts behandelt, der kriegt reingesemmelt, daß er sich damit „Pflichten und Verantwortung“ einhandelt, weil das vom Staat vorgesehen ist. Auch in der Demokratie wird zwischen erwünschtem und abträglichem Gedankengut unterschieden, und die Liste der Kriterien ist so lang wie langweilig:

2. Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer notwendig sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.

Konzediert wird übrigens ausdrücklich die Freiheit der Meinung. Das ist die normale Form, in der ein Bürger seiner in Abs. 2 erwähnten Verantwortung nachkommt: Eine Meinung ist eine theoretische Position, die ihre eigene Belanglosigkeit immer gleich selbst formuliert bzw. die sich ihrer Belanglosigkeit bewußt ist. Meinung, das ist die institutionalisierte Trennung von Denken und Handeln; im Handeln hat man sich nach dem zu richten, was man darf bzw. nicht darf — und dazu darf man sich sogar folgenlos seinen kritischen Teil denken! Meinung heißt, daß der Mensch mit einer Meinung auch immer weiß, daß sie völlig unmaßgeblich ist, unverbindlich, im Grunde belanglos. Was er für richtig hält, zählt nicht, außer für ihn, und gegenüber dem Rest der Welt besteht er nicht auf ihrem Inhalt, sondern darauf, daß er sie haben darf, weil er ein Recht darauf hat! Das Recht auf eine auch kritische Meinung ist das Recht auf wirkungsloses Meckern; wenn man praktisch alles das mitmacht, womit man unzufrieden ist, dann darf man deswegen unzufrieden sein — in Gedanken. Solange man sich an das hält, was erlaubt ist (Art. 5), darf man „theoretisch“ der Meinung anhängen, alles mögliche sollte anders laufen. Art. 10 Abs. 2 ist die Ankündigung, daß der Staat im Bedarfsfall nicht mit Argumenten in einen Meinungsstreit mit seinen Bürgern einzugreifen gedenkt, sondern mit den ihm angemessenen Mitteln: Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen und Strafandrohungen.

Artikel 15 — Außerkraftsetzung im Notstandsfall

  1. Im Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht, kann jeder der Hohen Vertragschließenden Teile Maßnahmen ergreifen, welche die in der Konvention vorgesehenen Verpflichtungen in dem Umfang, den die Lage unbedingt erfordert, und unter der Bedingung außer Kraft setzen, daß diese Maßnahmen nicht in Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen.
  2. Die vorstehende Bestimmung gestattet kein Außerkraftsetzung des Artikels 2 außer bei Todesfällen, die auf rechtmäßige Kriegshandlungen zurückzuführen sind, ...
  3. Jeder Hohe Vertragschließende Teil, der dieses Recht der Außerkraftsetzung ausübt, hat den Generalsekretär des Europarates eingehend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe zu unterrichten. Er muß den Generalsekretär des Europarates auch über den Zeitpunkt in Kenntnis setzen, in dem diese Maßnahmen außer Kraft getreten sind und die Vorschriften der Konvention wieder volle Anwendung finden.

Demokratien unterhalten ein Militär und führen Krieg, um die Menschenrechte, die Menschenwürde und die Freiheit zu schützen. Deswegen müssen diese Rechte im Krieg, der wegen ihnen geführt wird, auch außer Kraft gesetzt werden — aber nicht erst vom Feind, sondern vom Beschützer der Rechte. Sogar auf die Abschaffung der Menschenrechte hat der Mensch also ein Recht. Die Staaten wissen Anlässe, aus denen sie das zivile Leben umkrempeln und die Geschäftsordnung der Nation ändern — wenn es um die gewaltsame Durchsetzung gegen einen anderen nationalen Hüter von Rechten geht. Die Bürger werden zwangsweise dienstverpflichtet, ihr Eigentum wird eventuell beschlagnahmt — es wird offenkundig, daß die menschenberechtigten Menschen das Material des Staates sind; und in so einer Lage kündigt der Staat seine zivilen Umgangsformen auf. Auch das ist bei Einhaltung der Formalitäten menschenrechtskonform: Rechtzeitig den Brief an den „Generalsekretär des Europarates“ abschicken!

Menschenrechte sind Herrschaftsprinzipien

Rechte sind Richtlinien, leitende Gesichtspunkte für die Ausübung von Gewalt. Menschenrechte sind der Beschluß der Staatsmacht, sich für den Menschen zuständig zu machen: Alles, was ein Mensch macht oder will, ist von der Entscheidung und (bedingten) Zustimmung des Souveräns abhängig. Die Inanspruchnahme des Menschen gerät sehr absolut und total. Jede Betätigung und vor ihr die Voraussetzung — das Leben — hat die Grundlage in der politischen Macht, alles ist genehmigungsbedürftig und hat seine Grenzen dort, wo die Macht sie setzt. Von den Anliegen, die Menschen haben mögen oder auch nicht, bleibt nichts ausgelassen: Leben (Art. 2), Freiheit (Art. 5), Privatleben (Art. 8), Wohnung (Art. 8), Familie (Art. 8 bzw. 12), Religion (Art. 9), Versammlungen und Vereine (Art. 11), Meinung (Art. 10). Es gibt nichts, worüber nicht die politische Macht zu entscheiden hat.

Geschützt ist von den einschlägigen Paragraphen zuvörderst der Staat. Jeder Artikel unterstellt, daß von einer Interessensidentität zwischen Staat und Bürger keine Rede sein kann, daß die Menschen von sich aus keinen Grund haben, ihr Leben, ihre Meinung, ihre Betätigungen mit den staatlichen Gesichtspunkten in Übereinstimmung zu bringen — und jeder Paragraph läßt keine Zweifel daran, wer sich zu relativieren hat. Man kann sich die Logik auch ohne den Text der Paragraphen, ohne die Einteilung in Ober- und Unterhaus durchdenken: Wenn alles von einer Bewilligung abhängt, dann muß der Bewilliger auch die absolute Instanz sein, sonst wird sein Recht „lächerlich“. Auch ohne nähere Untersuchung ist klar, daß der Mißbrauch der Rechte und Freiheiten gegeben ist, wenn der Mensch sich gegen den Staat wendet.

Wenn die politische Gewalt das erste und unverzichtbare Lebensmittel ist, einfach weil sie die Bedingung ist, ohne die der Günstling der Menschenrechte nicht existieren kann — weil erst der Staat den Menschen zum existenzberechtigten Menschen macht — dann ist der Schutz des Staates das, was der Mensch am nötigsten braucht. Wenn der Mensch ohne Staat aufgeschmissen ist, ist die Existenz des Gewährers und Ermöglichers oberste Priorität, dann muß der Staat vor Beeinträchtigungen von Seiten des Menschen bewahrt werden. Das hat diese Konvention in allen ihren Artikeln vorgesehen. Der Mißbrauch jeder Erlaubnis beginnt, wenn der Mensch gegen den Staat vorgehen will — er vergreift sich da quasi an seiner eigenen Existenzbedingung.

Die Menschenrechte kodifizieren die Klassengesellschaft

Der Grund für den Wandel zum menschenberechtigten Bürger liegt in einer Sache, die in den Artikeln der
EMRK nicht erwähnt wird: Voraussetzung ist eine Produktionsweise, in der sich der Mensch lohnt. Was den bürgerlichen Staat, der die Grundrechte festschreibt, zum bürgerlichen Staat macht, ist sein Einsatz für die kapitalistische Produktionsweise. In dieser Produktionsweise steht der Mensch im Mittelpunkt: Seine Benützung schafft Reichtum. Es ist für den Staat nützlich, die Bedingungen menschlicher Existenz zu kodifizieren, deswegen ist der moderne Mensch gesetzlich geschützt; es gibt ein positives Interesse am Menschen und seinem Leben. Dieses positive Interesse drückt sich weniger in einer Hilfe bei Schwierigkeiten aus, nicht in Lebensmitteln und Wohnungen, sondern gilt seiner Brauchbarkeit, gebietet also Beaufsichtigung. Die bedingte Zulassung von Tätigkeiten und Interessen erklärt sich nicht aus einer staatliche „Liberalität“ — wenigstens solange der Mensch unauffällig ordentlich lebt, solange er den Staat respektiert, solange hat er seine Ruhe — sondern umgekehrt: Weil sicher ist, daß der Mensch sich nützlich machen muß, ob er will oder nicht. Diese Nützlichkeit liegt an einigen Sachzwängen, die darüber entscheiden, was aus dem Leben jenseits der Rechtsprinzipien wird.

Diese Sachzwänge ergeben sich aus den Lebensmitteln: Wer sein Recht auf Leben ausüben will, kommt um das Geld nicht herum, alle Lebensmittel sind Waren mit einem Preis. Für die Geldversorgung — das Menschenrecht auf Geld wurde aus dem ursprünglichen Entwurf der EMRK wieder gestrichen — gibt es die bekannten Elementarformen: Geld arbeiten lassen oder selbst arbeiten. Egal wie, jeder beteiligt sich dadurch an der Geldvermehrung, am kapitalistischen Wachstum, am Steigern des Bruttosozialprodukts, am Steueraufkommen etc. Die Freiheit besteht darin, diesem Sachzwang nach eigenem Gutdünken nachzukommen und illegale Wege des Gelderwerbs zu unterlassen. Ob und wie man Gelegenheit dazu hat, das liegt in der Freiheit anderer — genannt „die Wirtschaft“ — das geht den Staat nichts an.

Die Menschenrechte auf der Welt

Dort, wo der Mensch weniger nützlich ist, schaut die „Rücksichtnahme“ anders aus. Bill Clinton hat sich beim Volk von Guatemala entschuldigt, dafür, daß dort mit Unterstützung der USA „Menschenrechtsverletzungen“ gröberen Kalibers begangen wurden: Massaker der Streitkräfte an der Landbevölkerung und an allen, die dort irgendwie links sind bzw. waren. Das Widerliche an solchen Vergangenheitsbewältigungen besteht darin: Im nachhinein, wenn der Terror erfolgreich war, wenn Ruhe und Ordnung wieder gegeben ist, wenn das Ergebnis der Gemetzel vorliegt, wird durch die Entschuldigung so getan, als seien die Gemetzel eigentlich überflüssige Übergriffe gewesen, als stünden sie in Gegensatz zu dem, was der Staat in Guatemala mit US-Hilfe zu erledigen hätte. Der guatemaltekische Staatsterror hat, wie auch in Argentinien und Chile, erfolgreich die Voraussetzungen für die Rückkehr zur Demokratie geschaffen. Die Menschenrechte leben in diesen Ländern von der Erinnerung an die letzte Militärdiktatur, indem die Bauern, die Intellektuellen und die Arbeiterbewegung es nicht zu bunt treiben mögen mit Ansprüchen und Forderungen.

Massaker, Folterungen, Vertreibungen sind an der Tagesordnung, begangen von Unterzeichnern der UN-Menschenrechtsdeklaration. Der Grund für diese Umgangsformen liegt nicht an einer anderen Stellung zu den Menschenrechten, sondern in der Skepsis des Staates in Guatemala gegenüber den dortigen Menschen. Sie sind nicht automatisch nützlich in allem, was sie tun. Dort existiert kein erfolgreicher, flächendeckender Kapitalismus auf Basis der menschlichen Arbeitskraft — und der Kapitalismus, den es dort gibt, ist ein Angriff auf die Lebensbedingungen der Leute: Lebensmittel werden zur Ware mit einem Preis, aber die Arbeitskraft ist nicht gefragt. Es gedeiht Hunger und Elend, und da wird der Staat kritisch — er hält jeden, der nicht in Freiheit hungert und verhungert, für einen potentieller Störfaktor. Wer dort anständig leben will, wer überleben will, muß mit ziemlicher Sicherheit gegen die Ordnung antreten — egal ob als krimineller oder als politischer Störenfried. Die UNO selbst hat auf ihren Konferenzen hochoffiziell einen Teil der menschenrechtsberechtigten Menschheit für überflüssig erklärt. Es gibt etliche hundert Millionen, für die ist amtlich kein Platz auf der Welt bzw. in der Weltwirtschaftsordnung. Der überflüssige, der unnütze Mensch ist ein Problem — und deswegen werden mit Unterstützung aus den USA und Europa jede Menge Menschen verletzt. Hierzulande wäre das Hinmetzeln von ein paar tausend Leuten, das Verwüsten einiger Landstriche in jeder Hinsicht kontraproduktiv — der Staat würde sich ins eigene Fleisch schneiden, weil die Leute funktionieren, wie sie sollen. Das ist nicht selbstverständlich:

„Bis in die 70er Jahre hinein gab es keinen wirklichen Hunger in Mexico. Wir hatten eine chaotische Ernährungslage und manchmal eine Lebensmittelknappheit. Aber die meisten Mexikaner hatten genug zu essen und wir hatten ein soziales Netz für Bedürftige. 1982 begann unsere Regierung, das System, das wir als Erbe der ersten sozialen Revolution in diesem Jahrhundert hatten, zu demontieren, damit das Land mit den globalen Strömungen mithalten könne. ... Laut NAFTA soll die mexikanische Landwirtschaft in 15 Jahren völlig globalisiert sein. Um dieses Ziel zu erreichen stellte die Regierung alle Fördermaßnahmen für die kleinbäuerliche Produktion oder Subventionen für die Rohstoffe ein. Präsident Zedillo ist sehr stolz auf die Entwicklung der Wirtschaftsindikatoren, die vollkommen den neuen internationalen Standards entsprechen. Er scheint nicht über die Tatsache besorgt zu sein, daß zwei Drittel der Mexikaner unter der Armutsgrenze leben und daß die Hälfte der Bevölkerung nicht ein Minimum ihres Bedarfs an Nahrung decken kann. Mit der Zeit, so glaubt er, wird der Markt alle unsere Krankheiten heilen. 1991 erklärte Carlos Hank: ‘Es ist meine Aufgabe als Landwirtschaftsminister, zehn Millionen Kleinbauern von ihren Feldern wegzubringen.’ ‘Was wollen Sie mit ihnen machen?’, fragte ein Journalist. ‘Das fällt nicht in meinen Verantwortungsbereich’, lautete die Antwort. ... Die Kleinbauern, die vorher ihre eigenen Nahrungsmittel produziert haben und eventuelle Überschüsse verkauft haben, haben keinen Platz in der Weltwirtschaft.“ (Der Standard 5./6.1.99)

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