Internationale Situationniste, Numéro 4
 
1976

Programmatische Skizzen

Zarathustra glücklich darüber, dass der Kampf der Stände vorbei ist und jetzt endlich Zeit ist für eine Rangordnung der Individuen. Sein Hass auf das demokratische Nivellierungssystem ist nur im Vordergrund. Eigentlich ist er froh, dass dies so ist. Nun kann er seine Aufgabe lösen.

Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884/85, in: Kritische Gesamtausgabe Berlin 1974, S.350, Bd. VII, 3

I.

Der Begriff der Nicht-Zukunft entspricht dem ausdrückbaren politischen Verhältnis zwischen Klasse und Partei und dessen Folgen in der revolutionären Zeit. Die Nicht-Zukunft ist weder die Negation jeder Zukunft noch die Möglichkeit irgendeiner politischen Prognose, die von den gegebenen Bedingungen ausgeht. Sie ist gleichzeitig die Verwirklichung jeder Zukunft, sofern sie in der gegenwärtigen Situation bruchstückhaft enthalten ist, und die Suche nach geeigneten Mitteln, um das Unmittelbare zu beherrschen.

Die Nicht-Zukunft ist die politische Anwendung einer Übersicht der revolutionären Zeitlichkeit im XX. Jahrhundert. Ihre Thesen können von der objektiven Überprüfung der gesellschaftlichen Tatsachen, wie sie sich uns durch die dreifache Entwicklung der kapitalistischen, sozialistischen und unterentwickelten Länder zu erkennen geben, unmöglich getrennt werden. Sie tendiert dazu, eine Dialektik der aktuellen, für diese Länder gleichwichtigen Fragen in diese Entwicklung einzuführen und weigert sich, die Reihenfolge der diesen Ländern eigentümlichen Probleme, in denen sich jede sogar dynamische Auffassung der friedlichen Koexistenz zwangsläufig verfängt, auf mechanische Weise zu verbinden. Die friedliche Koexistenz, wie sie heute von den philisterhaften Theoretikern der kommunistischen Parteien zum Ausdruck gebracht wird, ist ein Verzicht auf die revolutionären Positionen, in Russland sowie gegenüber den Ländern der Dritten Welt oder den hochindustrialisierten Ländern.

Die Nicht-Zukunft fußt auf der Überzeugung, dass die entwickelten Produktivkräfte der kapitalistischen Länder es in diesen Ländern heute schon möglich machen, die Übergangsstufe zur sozialistischen Gesellschaft zu überspringen. In diesen Ländern kann der Sozialismus nur unter der Bedingung weiter auf der Tagesordnung stehen bleiben, dass er die vollständige Entmystifizierung seiner gegenwärtigen politischen Mittel durchführt, die die durch die Akkumulation der technischen Mittel, den ständigen Gebrauch der Entpersönlichung usw. überholten Produktionsverhältnisse ausdrücken. Alle Bedingungen für die Aneignung der Produktionsmittel und deren Anwendung zu sozialistischen Zwecken sind vorhanden.

Gleichfalls fußt die Nicht-Zukunft auf der entscheidenden Bewertung, die aus den antikolonialistischen Revolutionen folgt. In diesen Ländern der Dritten Welt gerät die Entwicklung der Produktivkräfte von Anfang an in Kampf gegen den bürokratischen Apparat, sei dieser ein Erbe der Kolonisation oder aus der Einführung von Planungsmethoden der sozialistischen Länder entstanden. Die Länder der Dritten Welt sind der Angelpunkt der Revolution des XX. Jahrhunderts, weil ihr Zutritt zur Unabhängigkeit in beiden Blöcken der Schmelztiegel der lebendigen Kräfte ist. In diesen Ländern und zum ersten Mal seit den primitiven Gemeinschaften ist das, was im Westen und das, was im Osten entsteht — sofern der Aufschwung dieser Länder nicht gebremst wird — in der Lage, in einer ganz unabhängigen Gesellschaftsform vereint und verschmolzen zu werden.

Schließlich fußt die Nicht-Zukunft auf der Gewissheit, dass die gegenwärtigen Zustände auf keinen Fall für einen Friedens- oder Kriegszustand gehalten werden können. Von nun an sind weder Frieden noch Krieg möglich; die Revolution ist es aber auch nicht, wenn sie auf eine evolutionistische Konzeption beschränkt wird, die das Absterben des Staates usw. automatisch nach sich ziehen soll. Die Nicht-Zukunft berücksichtigt vor allem, dass es in Russland und in China klassenlose Gesellschaften gibt. Das Bewusstwerden dieser Tatsache hat die Möglichkeit eines beschleunigten revolutionären Verfahrens zur Folge, dass letztlich auf Gesellschaften der sozialisierten Massen hinauslaufen würde.

II.

Auf welchem Gebiet es auch sein mag, der Sozialismus kann nicht mehr auf eine bloße Antithese des Kapitalismus beschränkt werden. All das, was das Entstehen der sozialistischen Massen bremst, ist eine im Schoss der (vorübergehenden oder nicht) sozialistischen Gesellschaft wiederauflebende Entfremdung.

Das Problem besteht darin, diese Massen mit einem „Maximum an möglichem Bewusstsein“ bewusst werden zu lassen, damit vermieden wird, dass das durch die klassenlose Gesellschaft modifizierte historische Verhältnis bloß die Rückkehr des alten Verhältnisses zwischen Klasse und Partei, Klasse und Gewerkschaft ist. Die sozialistischen Massen handeln als autonome Kräfte. Sollen Politik und Ökonomie eines Tages verschwinden, wie Marx es wollte, liegt es auf der Hand, dass die Parteien und Klassenkampforgane mit ihnen zusammen verschwinden müssen. Je fähiger eine Partei bzw. Gewerkschaft war, ihre Aufgabe auszuführen, desto leichter wird es sein, sie als solche in der klassenlosen Gesellschaft zu beseitigen. Diese besteht nach der Abschaffung der Politik und der Ökonomie, weil das politische Bewusstsein der Massen dann deren Bruch — und keine Anpassung — bedeutet, da sie durch Produktivkräfte befreit werden, die von nun an fähig sind, jegliche Produktionsverhältnisse zu überwinden. Die Verantwortung und die Entwurzelung der sozialistischen Massen sind keine Hemmnisse mehr, sondern die Grundbedingungen dafür, dass die Notwendigkeit einer Revolution in jedem Augenblick entsteht.

III.

Sofern der politische Ausdruck der sozialisierten Massen nach der Abschaffung jeder Politik strebt, stellt er sich als erstes Ziel die zum ersten Mal in der Geschichte erkämpfte Möglichkeit einer Situation, in der die gesamte Menschheit dem historischen Gesetz der ungleichen Entwicklung entrinnen würde. Die Revolution wird zu ihrem eigenen Theater.

Es ist heute schon von Bedeutung zu wissen, wie die Eroberung des Weltraumes, die menschliche Arbeit als ein Kampf gegen die Natur, sofern sie die Abschaffung der technischen Umwelt durch die Technik selbst ist, das Hervortreten des kosmischen Bewusstseins in der klassenlosen Gesellschaft, die Abschaffung jedes funktionellen Zeichens in den menschlichen Beziehungen, das Entstehen neuer Gefühle und anderer unvorhersehbarer Umwälzungen für die ganze Menschheit und zu gleicher Zeit das Verfahren beschleunigen, das zur Stufe dieser dialektischen Zivilisation der Freizeit und der Arbeit führt.

IV.

Die Schaffung dieser Geschichte ohne Leerlauf ist mit der marxistisch-existenzialistischen Philosophie verbunden. Der Gedanke einer den Zufall wiedertreffenden individuellen Planung des Lebens würde es möglich machen, eine Philosophie der raum-zeitlichen Anwesenheit zu entwerfen, in der die Empfindungen und Gefühle nicht mehr vom Gedächtnis abhängen würden, sondern von der Entfaltung all der Wirkungskräfte des Menschen durch die Vervielfachung und Erneuerung von nicht mehr vereinzelt kollektiven bzw. vereinzelt persönlichen Erfahrungen — von Erfahrungen, die wie das imaginäre Selbst zu verwirklichen, d.h. bei allen Handlungen gleichzeitig kollektiv und persönlich sind.

Die alltägliche Umwälzung der Dauer des Lebens selbst setzt den kosmischen und a-kosmischen Wert jeder Situation voraus. An der Grenze dieses vor unseren Augen liegenden Unendlichen und der revolutionären Akkumulation dieser Geschichte fordert die Fülle des Lebens eine immer größere Reproduktion, nicht mehr die der Gewohnheiten oder sogar eines Stils, sondern die des unmöglich gemachten Alltäglichen. Die neu entstehenden Gegensätze zwischen den irdischen und kosmischen Werten können nicht durch die bloße Mittelbarkeit der Augenscheinlichkeit gelöst werden.

V.

Durch die individuelle Planung des Lebens verwirklicht, werden die Bedingungen der Freiheit zu den Werten, die in unseren Fähigkeiten bei der Kontrolle und der Ausübung der qualitativen Stufen der Konstruktion von Situationen im Zustand des Aufschubs vorhanden sind bzw. vorhanden sein können. Die Begriffe des Seins, des Habens und des Tuns werden mit dieser Freiheit verschwinden, die der Anfang der praktischen Negation jeder Philosophie ist. Dann wird die Freiheit als eine Kosmogonie der Zeitlichkeit und eine A-Kosmogonie der konstruierten Situationen definiert. Als fließende und zähe Struktur jeder Energie wird sie die Aufhebung der alten Typologie der „freien“ und „nicht freien“ Menschen mittels der Fähigkeit aller Menschen ermöglichen, die Welt so zu verändern, wie jeder von uns es wünscht; durchgesetzt gegen das, was diese Fähigkeit ursprünglich war.

VI.

Die drei Stufen des Werdens sind:

  1. die Stufe der Konstruktion von Situationen. Aus ihr würde diese Fähigkeit der Freiheit den Lebensstil eines jeden als ein globales Werk hervortreten lassen — d.h. die permanente Durchsetzung der erlebten Totalität gegen all das, was vorher bloß vereinzelte Mittel oder bruchstückhafte Bedeutungen waren (auf dem kosmischen, politischen, künstlerischen Gebiet usw.). Es würde die Stufe der Praxis als nicht mehr nur gewünschte und angedeutete, sondern radikale und effektive Kritik sein.
  2. Die Stufe der individuellen Planung des Lebens. Sie würde die ein für allemal gegebene Möglichkeit sein, all die bisher bekannten Gefühle — inklusive der widersprüchlichen Empfindungen „Glück und Leid“ — aufzuheben. Die menschlichen Gefühle werden anders, sie werden aber genauso wenig übermenschlich wie unmenschlich, da sie von nun an mit der kosmischen Energie verbunden sind.
  3. Die Stufe der Tragik der Intelligenz. Sie würde die der beiden abstrakten Welten sein (die eine ist aus dem Kampf gegen die Natur, die andere dagegen aus der Herrschaft des Menschen über den Weltraum entstanden). In diesem Sinne besteht die Tragik der Intelligenz vielleicht nicht darin, dass sie den Wahnsinn als natürlichen Zustand nicht vermeiden kann, sondern dass sie jedesmal jenseits und nicht diesseits — wie es vorher der Fall war — des Wahnsinns liegt.

Diese fragmentarischen Einblicke in ein Programm werden hier als theoretische Elemente für die Konstruktion von Situationen in der (an sich vorübergehenden) sozialistischen Gesellschaft vorgestellt, sowie als erster Beitrag zu einer Arbeitsgruppe, die wir zur Ausarbeitung der Definition eines Gesamtinhalts der Revolution des alltäglichen Lebens bilden wollen.

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