MOZ, Nummer 52
Mai
1990
Internationales Frauenfilmfestival in Paris:

Realismus ohne Illusionen?

Erschütternde Bilder, bezaubernde Bilder, die ganze Welt war auf der Leinwand zu Gast. Im Kinosaal saß das Weltstadtpublikum und hoffte auf Erheiterung und Zerstreuung. Davon wurde aber wenig angeboten, die vorgeführten Filme widmeten sich vor allem ernsthaften Themen.

Wendy Toye, britische Regisseurin

Paris, ein Jahr danach: Die Berauschung an den Revolutionsfeierlichkeiten ist wieder dem Alltag gewichen, ein paar Relikte erinnern noch an jüngst vergangene Jubelzeiten.

Die neue Pariser Oper zum Beispiel am Place de la Bastille oder der Grande Arche, der große Bogen, der sich als kubisches Standbild der Dysfunktionalität präsentiert. Beiden ist gemeinsam, Wahrzeichen des neuen französischen Chauvinismus zu sein, der seine ideale Ausdrucksform im postmodernen Baustil gefunden hat. Und beiden gemeinsam ist auch das Unterlaufen der inhaltlichen Formel dieser Architektur: die Verbindung von Funktion und Fiktion.

Während die Pariser Oper stillsteht im wahrsten Sinne des Wortes — die Mechanik der zahlreichen Hebebühnen des Monsterbaus ist nach einem Jahr bereits reparaturbedürftig —, beherbergt der grosse Bogen nicht — wie vorgesehen — Verwaltungsbeamte, da sich die Konzeption des Innenraums administrativer Nutzung versagt. So sind dem großen durchbrochenen Würfel kleinere verspiegelte Einheiten zur Seite gestellt.

Symbolträchtiger Funktionalismus wird dagegen eingelöst von den tatsächlichen Großen: La Défense, die Verteidigung, ist das Stadtviertel im Westen genannt, in das der Grande Arche eingebettet ist und wo sich die HeadquarterTürme der internationalen Konzerne ein Stelldichein geben. Einander reflektierend in Macht und Pracht, stehen sich IBM, Fiat, Bull etc. gegenüber.

Mitterrands ‚Grande Arche‘

Eine andere Sprache sprechen die Hochhäuser von Créteil am östlichen Ende der Stadt, die direkt an der Einmündung der Autobahn aus Richtung Deutschland liegen. Zum Teil wabenförmig verbrämte Wohnsilos mit angedeuteten Verbindungsbögen lassen dieses Viertel als das erscheinen, was es ist: Massenwohnsitz von ‚Arbeitsbienen‘. Verteidigungsposen und Machtdemonstration sind hier nicht vonnöten, der Anteil der farbigen Bevölkerung ist überdurchschnittlich hoch, ebenso jener einkommensschwacher Schichten. Für die Kommunikation steht ein großes Einkaufszentrum zur Verfügung, Beton und Neonlicht dominieren die Atmosphäre.

Und mitten darin liegt das „Haus der Künste“, einstöckig, am Ufer eines künstlichen Sees. Subventionen für Kulturveranstaltungen sind hier, im Val-de-Marne, leichter zu erhalten als in der angrenzenden französischen Hauptstadt. Ohne Anreiz würden nur wenige OrganisatorInnen ihrem Publikum den langen Anfahrtsweg (eine Stunde) vom Pariser Zentrum nach Créteil zumuten.

Dem fehlenden äußeren Identifikationsbild müssen innere Traumbilder korrespondieren: Es gibt viele Kinos in Créteil. Und es gibt alljährlich das größte internationale Frauenfilmfestival auf europäischem Boden.

Vielfalt und Eigenart waren bisher ein interessantes Markenzeichen dieses Festivals, eines Forums der unterschiedlichsten Bildwelten und Weltbilder. Doch in diesem Jahr macht sich ein Trend zur Vereinheitlichung breit, der, im nachhinein betrachtet, sich wohl schleichend angedeutet hat, in seiner Massivität jedoch überrascht.

Frauen produzieren kaum mehr großes Kino, große Fiktion. Und dies nicht nur aus Mangel an Geld und Produktionsmitteln. Der imaginäre Entwurf ist zunehmend einer getreuen Beschreibung der Lebenswelten gewichen. Dahinter steckt wohl kaum Einfallslosigkeit, sondern eher die überhandnehmende Dominanz der Werbeindustrie, deren suggestive Kraft Träume vorwegnimmt, kanalisiert und überleitet zur symbolhaften Gestaltung des Äußeren, einer Aussenwelt, die auch durch die oben erwähnten Repräsentationsbauten der Managementgesellschaft ihren Ausdruck findet. Der dokumentarischen Abbildung gelebter Realität anstelle der Entwicklung utopischer Bilder kommt in diesem Zusammenhang beinahe subversiver Charakter zu. Dies zu den Filmemacherinnen der sogenannten hochindustrialisierten „Ersten Welt“. Regisseurinnen aus allen anderen Teilen der Welt sind zumeist, und waren es schon bisher, damit beschäftigt, ein gewisses Bewußtsein für die Probleme ihrer Länder herzustellen.

Kinder, Küche, Kirche
Kracauer „Abstraktheit ...

Kinder-Küche-Kirche

Parallel zum internationalen Trend des Wiedererstarkens des Patriarchats, sei es des religiösen Fundamentalismus oder des Nationalismus wegen, sind die häufigsten Themen des zwölften Filmfestivals der klassisch weiblichen Reproduktionssphäre gewidmet. Sind Mutter-Kind-Dramen, soziale Mißstände und Krankheitsfürsorge bzw. -bewältigung im Sinne des Privaten wieder politikfähig?

VARASTATUD KOHTUMINE (Ein gestohlenes Wiedersehen) der estnischen Regisseurin Leida Laius greift das Drama einer jungen Frau auf, die, straffällig geworden, vor ihrer Inhaftierung ihr Kind der staatlichen Obsorge überlassen muß. Wieder auf freiem Fuß, versucht sie, ihren Sohn mit allen Mitteln wiederzubekommen — doch nach den herrschenden Gesetzen hat sie das Recht auf ihr Kind lebenslang verwirkt. Laius hat bereits durch zahlreiche Dokumentar- und Spielfilme auf sich aufmerksam gemacht. Ihr kontinuierliches Schaffen seit den frühen sechziger Jahren weist, als Ausnahme für sowjetische Regisseurinnen, keine zensorischen Lücken auf. Handwerklich routiniert inszeniert und fotographiert, stellt der Film weibliche Lebenswelten in Estland allerdings nur auf der Ebene des Mutterrechtes und der Mutterliebe in Frage.

MILK AND HONEY (Milch und Honig) der kanadischen Filmemacherinnen Rebecca Yates und Glen Salzman variiert das Thema Mutter-Kind kontra inhumane Gesetzgebung im Spannungsfeld der Großstadt. Diesmal ist es eine jamaikanische Mutter, die als Arbeitsemigrantin im kalten Toronto Sehnsucht nach ihrem zurückgelassenen Jungen hat. Die rigiden kanadischen Einwanderungsbestimmungen verbieten seinen Aufenthalt, und so versucht die Heldin, das Kind nach seinem Besuch illegal in Kanada zu behalten. Interne und externe Verwicklungen mit Happy-End reduzieren die gegenwärtige internationale (Wirtschafts-) Flüchtlingsfrage auf persönlichen Wagemut und Durchhaltevermögen, nach dem Motto: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ein reizendes jamaikanisches Kind und seine hübsche Mutter konnten sich jedenfalls leicht den Weg in die Herzen der ZuschauerInnen bahnen. Josette Simon, die Hauptdarstellerin, erhielt den Jurypreis für die beste schauspielerische Leistung.

Eine Mutter-Tochter Beziehung unter vollkommen anderen Vorzeichen steht im Mittelpunkt von TWO LIES (Zwei Lügen) der US-Amerikanerin Pamela Tom. Doris Chou, eine kürzlich geschiedene amerikanische Chinesin, unterzieht sich einer Augenlid-Operation, da sie das Andersaussehen nicht mehr erträgt. Ihre beiden Töchter, auch sie wegen ihrer mandelförmigen Augen in der Alltagswelt oft verspottet, ahnen die Tragödie der Mutter, als diese mit dikkem Augenverband nach Hause kommt. In einem medizinischen Fachbuch lesen sie den Eingriff nach, betrachten die erschütternden Fotos. Doris Chou, die sich der Umgebung als Frau von Welt zeigt, ist für die Töchter trotz allen Verständnisses ein Symbol für Anpassung und Verleugnung der chinesischen Identität. Für sie sind die neuen Augen der Mutter zwei Lügen, die jene eingesteht, als der schreckliche Eingriff nicht verheilt. Lidoperationen sind in den USA ebenso auf der Tagesordnung wie gesundheitsschädliche Bleichmittel für Dunkelhäutige. Dieser Kurzfilm war einer der einprägsamsten und besten des Festivals.

Das Leben, die Liebe und der Tod, eine TRILOGIE, die in drei Sequenzen Beziehung und Trennung dramatisiert. Judith eilt schimpfend mit ihrer Tochter dem Bahnhof entgegen, sie darf diesen Zug nicht verfehlen. Sie erreicht ihn rechtzeitig, doch — Ironie des Schicksals — kommt nicht mehr dazu, ihre schweren Taschen in den Waggon zu heben: Die automatischen Türen schließen, der Zug fährt ab, darin ihre Tochter. Schnitt. Großaufnahme. Profiteroles, gefüllte italienische Brandteigkrapferl. Langsam fährt ein Löffel in das Dessert, das Eis und die Schokolade quellen wie Lava hervor — Judith wurde von ihrem Mann zum Essen eingeladen. Während sie sich ihrer Nachspeise genußvoll widmet, beginnt ihr Gatte zu erklären, daß er sich von ihr trennen möchte. Eis und Schokolade verschmieren sich zu einem undefinierbaren Brei, eine Metapher für Judiths tränenverschmiertes Gesicht. Schnitt. Judith besucht ihre Mutter, um ihr zum 80. Geburtstag zu gratulieren. Sie erhofft sich Beistand, um die vergangenen Schicksalsschläge zu bewältigen. Stattdessen eröffnet ihr die Mutter, daß sie den Tod nahen fühlt und sich friedlich damit abgefunden hat. Die Gewißheit der nächsten bevorstehenden Trennung bringt Judith zur endgültigen Verzweiflung. Elisabeth Kapnist erhielt den Publikumspreis für den besten französischen Kurzfilm. Zurecht.

Interesse am ‚Erbe der Menschheit‘
... wird zum Zeichen des Orts ...

Neues aus dem Osten

1990 ist auch das Jahr 1 nach den großen Umwälzungen im Osten Europas. War der Perestroika in der UdSSR schon beim 10. Festival mit einem umfassenden Porträt sowjetischer Regisseurinnen Rechnung getragen worden, so wurden dieses Jahr bereits einige Filme vorgestellt, die die neue inhaltliche Produktionsfreiheit nutzten.

OSTATNI DZWONEK (Das letzte Läuten) der Polin Magdalena Lazarkiewicz versucht, die gegenwärtige politische Situation Polens im Mikrokosmos eines Provinzstadtgymnasiums darzustellen. Der ‚Neue‘ in der Maturaklasse entpuppt sich als aufrührerischer Geist, der das kommunistische Regime, vertreten durch den Geschichtsprofessor, zu entlarven versucht. Anlaß genug, um in Schwarz-Weiß-Malerei aus der Mischung von aufbegehrender Jugend und bornierten, geschichts- und lebensverfälschenden KommunistInnen einen Hintergrund zu formen, auf den Schülerklamauk der übl(ich)en Sorte projiziert wird. Platt und klischeehaft werden die Jungs zu Machern stilisiert, die Mädels und Lehrerinnen entweder zu beifälligen Zuhörerinnen oder zum Ziel böser Scherze erklärt. Parallelen zu Eis-am-Stiel-Serien oder frühen Peter Alexander-Filmen drängen sich auf. Und natürlich darf auch die Lagerfeuerromantik nicht fehlen, untermalt von der guten alten Klampfen (ewiges Freiheitssymbol) und christlichen Liedern. Lazarkiewicz hat durch diesen Film den Blick auf das sich neu organisierende Polen verstellt statt freigemacht. Abgesehen davon ist von der extremen wirtschaftlichen Krise keine Spur wahrzunehmen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dieser Film alsbald deutsch synchronisiert würde und sein österreichisches Fernsehdebut feierte.

Zwei Ungarinnen haben sich einer anderen Art von Geschichtsaufarbeitung zugewandt.

GAUDIOPOLIS (Stadt der Fröhlichkeit) von Erika Szántó basiert auf Zeitungsberichten des Jahres 1945 über die „Kinderrepublik“ des lutherischen Pastors Gábor Sztehlo, der in einem Kinderheim Selbstverwaltung nach demokratischen Prinzipien installierte. Heimatlosen Waisen sollte, mit gewählter ‚Regierung‘, gewählten ‚Ministern‘, die Bedeutung dieser Regierungsform nahegebracht werden. Das erste Jahr verlief noch hoffnungsfroh, nach fünf Jahren wurde aber die staatliche Subventionierung eingestellt, das Projekt abgebrochen.

TUTAJOSOK (Erinnerungen eines Flusses) von Judit Elek beginnt idyllisch. Sonnenaufgang in den Bergen des nordöstlichsten Zipfels der österreichisch-ungarischen Monarchie. Es wird das Jahr 1882 geschrieben. Ein jüdischer Schafhirte erwacht, die Schäfchen drängen um ihn, er verrichtet seine rituellen Morgengebete. Plötzlich gellende Schreie. Ein Kind kommt den Waldweg entlang gelaufen, den Mund voll Blut, den Hals voll Blut. Nahaufnahme: ihm wurde die Zunge herausgeschnitten. In seinem Gefolge donnernde Pferdehufe, die Häscher haben es auf den abgelegensten Juden des Dorfes abgesehen. Die Almhütte geht in Flammen auf, brennende Schafe rasen über die Matten. Der letzte Jude kann entkommen. Vollkommen erschöpft rettet er sich über die Berge ins nächste Tal, Sitz der Holzfäller an den Quellen der Theiß. Durch einen fallenden Baum verletzt, wird er zwangsläufig in ihre Gemeinschaft aufgenommen, in der Polen, Ruthener, Ukrainer, Juden und Christen nebeneinander leben. Eine Christin richtet ihm das gebrochene Bein auf äußerst schmerzhafte Weise wieder ein, mit der Nebenbemerkung, daß die Juden Christus getötet hätten. Bereits ein Hinweis auf die tiefer liegenden Spannungsfelder des Films: Die Urschuld der Juden muß blutig gerächt, kann nur durch den Tod bereinigt werden. Der Schafhirte findet Unterkunft bei einer ansässigen jüdischen Familie. Die rhythmische Abwechslung zwischen beschaulicher Landschaft, Dokumentation des friedlichen dörflichen Lebens mit Einbrüchen der Gewalt wird im weiteren Filmverlauf (Dauer: 150 Minuten) immer heftiger, bis die Grausamkeit durchgängiges Sujet bleibt.

aus dem Film „Es gibt noch andere Früchte als Orangen“
... an dem sich ...

Die Holzfäller aller Religionen nehmen Abschied für ein halbes Jahr, um die geschlagenen Baumstämme ins ferne Szeged zu flößen. Noch wird gefeiert und getrunken, dann beginnt die schwierige Fahrt. In wunderschönen Aufnahmen folgt die Kamera dem jüdischen Floß und dem Fluß, bis sie auf eine Wasserleiche stößt, die einige Tage in der Nähe der Flößer treibt. Zufälligerweise wird die Tote an der gleichen Stelle ans Ufer gespült, an der die Männer Rast machen. Hier nimmt die unglückliche Verkettung der Umstände ihren Anfang, um in der letzten offiziell registrierten Anklage der ungarischen Geschichte wegen Ritualmordes zu enden. Die Tote wird als Eszter Solymosi identifiziert und den nur zufällig anwesenden jüdischen Flössern wird die rituelle Tötung einer Christin anläßlich der bevorstehenden Osterfeierlichkeiten angelastet. Der Gemeindearzt bestätigt zwar standhaft die Unversehrtheit der Toten, die Männer können noch einmal weiterfahren, der Graf von Tiszaeszlár sieht in ihnen jedoch die Täter und läßt seinem unverhohlenen Judenhaß vollen Lauf.

Die Juden werden verfolgt, gefangengenommen und grausamsten Folterungen unterworfen, um ein Geständnis herauszupressen. Die Mißhandlungen wurden dermaßen blutrünstig dargestellt, daß wir das Kino verlassen mußten. Der Anblick war nicht mehr zu ertragen. Eines ist gewiß — die jüdischen Flößer erreichten nie den Hafen von Szeged.

Judit Elek, geboren 1937, wurde für diesen Film von der Jury mit dem Großen Preis für den besten Spielfilm ausgezeichnet. Ihre Familie fiel zum Großteil dem Holocaust zum Opfer. In einem Interview meinte sie, daß sie diesen Film gänzlich anders realisiert hätte, wäre das Thema Antisemitismus nicht bis vor kurzem in Ungarn tabuisiert gewesen. Sie sieht ihr Werk als wichtige Aufklärung, um der Schicksalserleidung zugunsten einer aktiven Gestaltung den Weg zu bereiten. Und das sei gerade jetzt hochnotwendig, wo das östliche Mitteleuropa mit neugestellten Nationalitätenfragen konfrontiert sei.

KOLIBEL (Die Wiege) — ein Film der sowjetischen Regisseurin Raisa Yernazarova — zeichnet die historischen Lebenslinien zweier nordsibirischer Völker auf, die seit urdenklichen Zeiten von Fischfang, Jagd, Obstanbau und Rentierzucht leben. Im Zuge der Perestroika wurde der Schleier von der massiven Umweltzerstörung gehoben.
In Sibirien sind schon weite Landstriche durch Erdölgewinnung, -raffinerien und Industrieanlagen verseucht und zerstört. Dieser Dokumentarfilm wurde von der Internationalen Journalistinnenvereinigung zum besten seiner Kategorie gekürt.

Zum Abschluß der Parade des osteuropäischen Filmschaffens sei noch der einzige sowjetische Film erwähnt, der sich explizit mit einer frauenspezifischen Thematik auseinandersetzt. PLAMIA (Die Flamme) hat die steigende Anzahl von Frauenselbstmorden durch Verbrennung zum Inhalt. Die Regisseurin Ruzika Mergenbaieva führt die 362 Fälle von Selbstverbrennungen allein in den Jahren 1986/87 auf die extreme feudale Unterdrückung in den moslemischen Gebieten von Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenien zurück.

In den Spitälern dieser Regionen darf offiziell nicht über dieses Thema gesprochen werden. Die Anstrengung, das öffentliche Verschweigen der frauenvernichtenden Zustände in diesen Ländern zu brechen, ist mit dem Publikumspreis für den besten ausländischen Kurzfilm prämiiert worden.

aus dem Film: „Erinnerungen eines Flusses“
... das kapitalistische Denken ...

Großstadtdschungel und Urwald

In Montreal gibt es zwölftausend Obdachlose. Unter ihnen befindet sich eine steigende Anzahl von Eingeborenen der umliegenden Wälder, die mit großen Hoffnungen in die Neonmetropole ziehen und, entwurzelt ihrer traditionellen Gebräuche, am Stadtleben scheitern. NO ADDRESS von Alanis Obomsawin greift das Schicksal dieser IndianerInnen auf und beschreibt den manchmal tödlichen Kreislauf, dem sie zum Opfer fallen. Sozialhilfe wird nur an Personen ausbezahlt, die ihren Wohnsitz in Montreal nachweisen können, ohne Arbeit kann aber keine Wohnung bezahlt werden, und ohne Wohnung ist es schwer, die äußere Erscheinung so instand halten zu können, um Arbeit zu finden. Die Regisseurin berichtet von privat initiierten Selbsthilfegruppen, die den Obdachlosen die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Lebenswelten des ungewohnten Terrains näherbringen sollen.

HEARING VOlCES ist der einzige US-amerikanische Spielfilm. Die gehörten Stimmen sind aber glücklicherweise nicht auf außerirdische Phänomene bezogen, sondern kündigen einen Beziehungsfilm an, in dem, naturgemäß (?), viel geredet wird. Also hört die Zuseherin Stimmen — wie auch die GesprächspartnerInnen einander hören, letztendlich aber nicht erhören. Die Regisseurin Sharon Greytak hat das Milieu des Werbefilms gewählt, und erwartungsvoll harren wir einer Entlarvung der Doppelbödigkeit dieser Branche. Zu früh gehofft. Es wird zwar die Bildästhetik des Werbefilms weitgehend benutzt, leider aber nicht im mindesten konterkarierend. Erika, begehrtes Model in der Modebranche, leidet an einer schweren Krankheit und muß mit einem künstlichen Darmausgang leben. Durch dieses Geheimnis ist sie emotional und beruflich ihrem Lebensgefährten, einem Dressman, ausgeliefert. Zufälligerweise ist Erikas Arzt mit einem Jüngling liiert, der mit seinem langen lockigen Wallehaar ein hübsches Friseurmodel abgeben würde, in den sie sich verliebt, den sie aber zu guter Letzt doch nicht haben möchte — er könnte sich ja in eine/n andere/n verlieben. Dazwischen rührselige Szenen: Erika berichtet von ihren Lebensängsten, der Hübschling von seinen Mutterproblemen. Falls die Regisseurin intendierte, Floskelei und Oberflächlichkeit vieler Beziehungsgespräche aufs Korn zu nehmen, es wäre ihr gelungen, wenn sie nicht übersehen hätte, daß authentische Abbildung der Realität ohne Pointierung oder Verdichtung nur langweilt. So ist man/frau am Ende des Films ratlos, was mit der Verstrickung so vieler schöner Menschen in solch abstruse Verhältnisse gemeint sein könnte.

SAMSARA — DEATH AND REBIRTH IN CAMBODIA (Tod und Wiedergeburt in Kambodscha) bringt die esoterische Saite zum Klingen. Zu eindrucksvollen Bildern von Zerstörung dieses Landes durch Kriege und Bürgerkriege werden sanfte buddhistische Beschwörungsformeln deklamiert. Die Bedeutung des Sanskritwortes Samsara, die ewige Wiederkehr von Geburt und Tod, dient als Überlebenshilfe der EinwohnerInnen Kambodschas, wie die amerikanische Regisseurin Ellen Bruno meint, der Beschwichtigung der kriegsbeteiligten USA, wie die Betrachterin meint. Alles hätte somit seine Erklärung, kriegstreibende Hände können in Unschuld gewaschen werden. — Denn: ein Weiser hat die blutige ‚Reinigung‘ und ‚Erneuerung‘ des kambodschanischen Volkes vorhergesehen. Eine Stimme aus dem OFF teilt fröhlich mit, daß sich die Frauen nun darauf freuen, zu vierzigst einen Mann zu ehelichen, um die Dezimierung der Bevölkerung vergessen zu lassen, der Wiedergeburt eine Chance zu geben. Dazu eingeblendet: offene Totenhäuser mit tausenden aufeinandergestapelten Totenköpfen, ein Raum, lückenlos austapeziert mit kleinen Fotos der gefolterten und ermordeten Frauen und Männer. New Age live auf der Leinwand — als internationales Beruhigungsmittel.

aus dem Film: „Das asthenische Syndrom“
... befindet.“ (1931)

Highlights

Ein hübscher Film mit Drive, der zwar mit Klischees arbeitet, Bösartigkeiten aber mit sensibler Virtuosität auszugleichen weiß, ist ORANGES ARE NOT THE ONLY FRUITS der Britin Beeban Kidron. Trotz seiner beinahe dreistündigen Dauer kommt keine Langeweile auf, so intensiv sind die Lebenslinien der rothaarigen Jess nachgezeichnet. Jess’ Adoptivmutter ist voll in einer evangelischen Sekte engagiert, und so überwacht Jesus Jess’ junges Leben. Der Reverend sah in seiner Jugend aus wie Cary Grant, ein Umstand, aus dem er unverfroren Kapital schlägt. An den Rändern der Bigotterie wird das frustrierende Leben englischer Hausfrauen gezeigt, die auf Grund ihrer Erziehung aufregende Liebschaften nur im Ideal erleben dürfen. Was liegt da näher, als Jesus’ Auserwählte zu werden, wenn dessen Inkarnation noch dazu so attraktiv ist. Unter der sakrosankten Oberfläche wird mit den Augen des jungen Mädchens die Auswirkung einer repressiven Moral beobachtet, an der die Frauen schon vor ihrem Sektenbeitritt gescheitert sind. Einigen gelingt es trotzdem, Wärme zu bewahren, und bei ihnen findet die heranwachsende Jess die Zärtlichkeit, die ihre rigide Adoptivmutter von Gottes wegen und zu ihrem Besten nicht zulassen kann. Der Skandal tritt ein, als Jess, die trotzdem ein sehr vereinsamtes Leben führt, Freundschaft mit einem anderen Mädchen schließt und Melanie in die Gemeinschaft einführt. Aus anfänglichem Herumalbern entsteht der Austausch körperlicher Zärtlichkeiten, die an Leichtigkeit und Fröhlichkeit ihresgleichen in der Filmgeschichte suchen. Die Liebesbeziehung wird aufgedeckt, der Reverend greift mittels grausamer Teufelsaustreibung ein. Scheinbar wieder auf den richtigen Weg geführt, schwört Jess ihrer Geliebten und der Frauenliebe öffentlich ab, benutzt aber bei dieser Gelegenheit die Messe, um mit tiefen Blicken und „Jesus liebt dich“-Sprüchen eine andere junge Frau zu verführen. Letzten Endes löst sie sich aber von der Sekte und von der Ziehmutter, um ihr eigenes Leben zu leben. Die Vorstellungen dieses Filmes waren immer ausverkauft, sodaß abzusehen war, daß er den Publikumspreis für den besten Spielfilm gewinnen würde.

CANNOT RUN AWAY ist ein Fernsehfilm, der die Praktiken des Frauenhandels von den Niederlanden bis nach Thailand und den Philippinen verfolgt. Thai-Väter aus der nördlichsten, ärmsten Provinz des Landes erzählen emotionslos, ihre kleinste Tochter zwischen den Knien, von dem Verkauf der älteren an die Zuhälter Bangkoks. Sie wissen, daß es ‚schlimm‘ ist. In Manila gibt es Tanzkurse, in denen die jungen Frauen und Mädchen vom Land lernen, sich sexy zu bewegen, um möglichst viele Freier anzuziehen. An Hand der Verschleppung von mehreren Thailänderinnen nach Holland wird deren tragisches, oft unentrinnbares Schicksal beschrieben. Dieser niederländische Fernsehfilm der Regisseurin Hillie Molenaar bringt auch den Männerbund von Richtern, Polizisten, Zuhältern, Ärzten etc. zur Sprache, der den ersten Menschenhändlerprozeß in dieser Angelegeheit über acht (!) Jahre hinauszögerte, um dann ein Urteil von einem Jahr bedingt für den Angeklagten zu fällen.

ASTENITCHESKI SINDROM (Das asthenische Syndrom) war der schönste Film des Festivals. Die georgische Regisseurin rumänischer Abstammung, Kira Mouratova, präsentierte in Créteil ihren jüngsten Film, der zugleich eine Abwendung vom „Neuen Realismus“ ihrer früheren Produktionen darstellt. Ein Mann stirbt und wird mit allen Ehren bestattet. Seine Frau, Ärztin, läuft Amok, hetzt durch die Straßen, schüttelt lästig-süßliche Verwandte ab und gibt sich dem Schmerz des Verlusts voll hin. Schwarz auf Weiß. Überblendung in einen Kinosaal. Das Publikum murrt, in Farbe. Es will keine tragischen Filme sehen. Die uniformierte Armeeinheit, die ebenfalls den Film gesehen hat schlurft schweigend, aber geräuschvoll aus dem Saal. Nur einer bleibt — er schläft. Er ist Lehrer an einem Gymnasium. Im Verlauf des Filmes wird er entweder reden, den Lauf der Welt erklären, oder schlafen. Er ist die Verkörperung des asthenischen Syndroms, des Krankheitsbildes der Kraftlosigkeit. Er kann der Welt, so wie er sie sieht (und mit ihm die ZuseherInnen), nicht mehr als Worte oder Schlaf entgegensetzen. Und er sieht die Unvereinbarkeit der Welt, das Nebeneinanderherleben der Individuen, die Brüchigkeit der friedlichen äußeren Hülle. Und er geht daran zugrunde — seine intellektuellen Erklärungen verkümmern zu Beschreibungen, bis er in der Psychiatrie verstummt. Eine Schülerin, nymphenhaft, reicht ihm den Todeskuß. Eine wunderschön bebilderte Parabel von Verwirrungen und Verstrickung, von Leben und Tod, der die hier gebotene Kürze keine Annäherung erlaubt.

Vielen Dank, es hat mich sehr gefreut, bis zum nächsten Mal. Same time, same place.

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