Heft 5-6/2005
Oktober
2005

Rezensionen zur Rezeption des ArmenierInnen-Genozids

Rolf Hosfeld: Operation Nemesis

Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern (KiWi 2005)

Ein ebenso notwen­diges wie aufwühlen­des Geschichtswerk — das Panorama eines Schreckens, der bis dahin nichts sei­nesgleichen hatte.

Ralph Giordano

Unter „Opera­tion Nemesis“ verstand man die Racheaktionen bewaffneter ar­menischer Grup­pierungen an den politisch Verantwortlichen und Vollstreckern des
Völkermords. Insofern ist der Titel des Buches nicht allzu glücklich gewählt, da sich das Buch nur am Rande — quasi als Pro- und Epilog — mit diesen Ereignis­sen beschäftigt. Dazwischen liefert es eine gut lesbare Gesamtdarstellung der damaligen Ereignisse, inklusive einer detaillierten Vorgeschichte und einem aktuellen Bezug zu den Diskussionen rund um die nicht erfolgte Anerken­nung des Völkermords durch die EU-beitrittswillige Türkei. Das Buch eignet sich dadurch einerseits hervorragend für Einsteiger in die Materie, bietet aber mit seiner Detailfülle auch für „Fortge­schrittene“ einiges Neue. Einziger Kri­tikpunkt, neben dem Titel, der eigentlich zu wenig verspricht, sind die oft etwas gezwungen wirkenden Vergleiche mit der Shoah bzw. die völlig überflüssige Verwendung von NS-Ausdrücken wie „Endlösung“ oder gar „Kristallnacht“ bei der Beschreibung des Völkermords an den Armenierinnen.

[tr]

Armenien: Der verdrängte Genozid

INAMO Nr. 43 (Herbst 2005)

Auch die INAMO (Informa­tionsprojekt Na­her und Mittlerer Osten) aus Nürn­berg widmet dem Völkermord eine Schwerpunktausgabe mit einer Rei­he von Artikeln: Tessa Hoffmann schreibt über das Verhältnis des heu­tigen Armenien zu seiner Diaspora; Corry Gorgü über Völkermord-leugnende Historiker in türkischen Diensten; Toros Sakarian über die Debatte rund um die (Nicht-)Anerkennung des Völkermords in Deutschland; auch der Schweizer Ar­menien-Spezialist Hans-Lukas Kieser steuert einen ausgezeichneten Artikel zum „nationalen Traumbild Armenien“ bei. Aus der Reihe sticht ein Beitrag von George Hintlian, „Die israelische De­batte über den Völkermord an den Ar­menierInnen“. Der Text setzt quasi vo­raus, dass die moralischen Standards für Israel immer höher anzulegen sind als für andere Länder — wissenschaftliche Standards für Israel-Kritiker dafür im­mer niedriger. Hintlian geht es darum ... ja worum geht es ihm eigentlich? Offen­bar geht es ihm darum, nachzuweisen, dass eine „jüdische Lobby“ in den USA und anderswo versucht, die Anerken­nung des Völkermords an den Armeni­erInnen zu hintertreiben. Als Beweise führt Hintlian, der großzügigerweise gänzlich auf Fußnoten und Quellenan­gaben (es sei denn, „nach türkischen Presseberichten“ wird als Quellenanga­be verstanden ...) verzichtet, eine Reihe von Aussagen israelischer Politiker an, zumeist Zitate aus der in Israel seit rund 30 Jahren andauernden Debatte um den Völkermord. Dazu kommen sehr unwahrscheinliche Behauptungen von wegen in Israel verbotener Filme über die ArmenierInnen-Verfolgung oder etwa, dass außer Armenien und Japan alle Länder zur Eröffnung eines neuen Flügels in Yad Vashem 2005 eingeladen wurden. Zutreffend ist sicherlich, dass sich einige israelische PolitikerInnen die Türkei als einzigen militärischen und geheimdienstlichen Verbündeten in der Region nicht vergrämen wollen und deshalb die Finger von diesem The­ma lassen. Die Situation ist aber etwas komplexer: Hier sollte man die Bezie­hungen Israels zu Aserbaidschan und die Armeniens zum Iran erwähnen, was Hintlian nicht tut. Diese spielen jedoch eine wesentliche Rolle im Verhältnis der Staaten zueinander: Israel ist der zweitgrößte Importeur aserbaidschanischer Produkte (siehe DTV-Jahrbuch 2005, S. 174); vor allem dringend benötigter Erdölprodukte. Die Armenien-Feinde Türkei und Aserbaidschan sind also wichtige Partner Israels; während der Israel-Feind Iran wiederum der einzige Partner Armeniens in der Region ist ... Israel und Armenien befinden sich also in einer ähnlich verzwickten geopoli­tischen Situation, beide sind von feind­seligen bis vernichtungswilligen Staaten umgeben, beide können die Wahl ih­rer Verbündeten nicht unbedingt nach „moralischen“ Gesichtspunkten treffen; beide können es sich nicht leisten, ihre Partner zu brüskieren. Im Großen und Ganzen ist Hintlians Artikel sicher der Schwachpunkt der ansonsten wirklich lesenswerten Armenien-Artikel. Der Rest dieser INAMO-Ausgabe ist dann allerdings, neben Artikeln zu Usbekistan und Malta, wiederum dem Anschreiben gegen die Gemeinheiten Israels und — sie haben es erraten — der „jüdischen Lobby in den USA“ gewidmet ...

[tr]

Taner Akcam: Armenien und der Völkermord

Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewe­gung (Hamburger Edition 2004)

Auch hier wäre der Unterti­tel als Haupttitel passender, denn der dort verspro­chenen allgemei­nen Darstellung der Ereignisse widmet der tür­kische (in den USA lebende) Soziologe Taner Akcam gera­de mal 70 Seiten, ebensoviel wie den Anmerkungen und der Bibliographie. Der größte Teil des 430 Seiten starken Werkes ist den Prozessen gewidmet, die auf Druck der Entente in den Jahren 1919-1921 gegen führende türkische Politiker wegen Beteiligung am Völker­mord durchgeführt wurden. Es waren die ersten Versuche, eine Art internationale Gerichtsbarkeit durchzusetzen und sie verdienen angesichts der aktuellen Pro­zesse gegen mutmaßliche jugoslawische und irakische Kriegsverbrecher beson­dere Bedeutung. Damals scheiterten die „Istanbuler Prozesse“ weitestge­hend am Unvermögen der türkischen Justiz und dem zunehmenden Unwillen der westlichen Alliierten, weiter Druck hinsichtlich einer Klärung des Völker­mordes auszuüben. Die wenigen — zu­meist in Abwesenheit der Angeklagten — gefällten Urteile wurden größtenteils nach der Machtergreifung Mustafa Ke­mal „Atatürks“ wieder aufgehoben und so mancher verurteilte Mörder brachte es noch zu Ministerehren ...

[tr]

Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16

Dokumente aus den politischen Archiven des deut­schen Auswärtigen Amts. (Zu Klampen 2005)

„Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgül­tig, ob darüber Ar­menier zu Grunde gehen oder nicht.“ Das Zitat des da­maligen deutschen Kanzlers Bethmann-Hollweg wird am Backco­ver dieses in Inhalt und auch Aufma­chung beeindru­ckenden Werkes kommentarlos wie­dergegeben; es spricht für sich, für die Untätigkeit, ja fallweise Partnerschaft Deutschlands bei der Vernichtung der ArmenierInnen im Osmanischen Reich. Die von Sigrid und Wolfgang Gust zu­sammengetragenen Schriften vor allem deutscher Diplomaten, Offiziere, Handelsreisender, geistlicher und sonstiger Zeugen des Genozids, stellen die der­zeit kompletteste Dokumentation zum Thema dar. Deutsche Staatsangehörige hatten als Verbündete des Osmanischen Reiches nahezu uneingeschränkte Be­wegungsfreiheit und durften nach Hau­se berichten, ohne von der osmanischen Zensur behelligt zu werden, eine Mög­lichkeit, die weder die bis 1917 neu­tralen US-Amerikaner noch die verbün­deten Österreicher genossen. Dies Buch versteht sich als späte Komplettierung und Richtigstellung der von Johannes Lepsius 1920 herausgegebenen Aktensammlung „Deutschland und Arme­nien“, die unvollständig und teilweise sogar verfälscht war, um die Deutschen von ihrer Mitverantwortung rein zu wa­schen.

[tr]

Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Diaspora, Öl und Rosen

Zur innenpolitischen Entwicklung in Armenien, Aser­baidschan und Georgien. (Heinrich-Böll-Stiftung 2004)

Ein Sammel­band der den deutschen Grünen nahe stehenden Heinrich-Böll-Stiftung mit 20 Beiträgen, fast ausschließlich von AutorInnen aus der Region. Wer sich mit der aktuellen Situation im Kau­kasus beschäftigt, wird an diesem Buch nicht vorbei kommen: derzeit ist in deutscher Sprache kein ver­gleichbares Werk erhältlich. Die Au­torInnen bearbeiten ein breites Spek­trum demokratie- und sozialpolitischer Themen, von den noch üblichen Unre­gelmäßigkeiten bei Wahlen — aktuelles Beispiel Aserbaidschan diesen Novem­ber — bis hin zu den vielfach noch zu erkämpfenden Rechten für Frauen und „Minderheiten“. Nur den territo­rialen Konflikten der Region, also um Berg Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan und die sich von
Georgien als unabhängig verstehenden Gebiete Abchasien und Süd-Ossetien, hätte etwas mehr Platz eingeräumt werden können.

[tr]

Huberta von Voss (Hg.): Porträt einer Hoffnung. Die Armenier

(Schier2005)

Denkt man an Armeni­erInnen, denkt man an Völkermord, den Krieg um Berg Karabach und viel­leicht noch an das Erdbeben von 1988, bei dem in etwa jedeR fünfzigste EinwohnerIn Ar­meniens den Tod fand. An Hoffnung denkt man nicht unbedingt. Das von Huberta von Voss herausgegebene Buch belehrt uns eines Besseren, denn über Armenien und die ArmenierInnen gibt es noch mehr zu erzählen. Nach einem berührenden Ge­leitwort des ehemaligen Direktors von Yad Vashem, Yehuda Bauer, besorgen Armenien-KennerInnen wie Wolfgang Gust, Taner Akcam und Tessa Hoffmann die geschichtliche Einführung. Der größ­te Teil des Buches besteht aus Porträts von ArmenierInnen, zumeist Notabeln aus Politik, Kirche, Kunst, Diplomatie, vom Chansonnier Charles Aznavour bis zum Karabach-Veteran Levon Arutunyan spannt sich da der Bogen, wobei der Dias­pora-Anteil klar überwiegt — leben doch mittlerweile fast 3/4 der ArmenierInnen nicht in Armenien.

Alles in allem gelingt den zahlreichen AutorInnen ein Einblick in ein Land und seine Diaspora, der kaum zu wünschen übrig lässt. Egal ob Werfels Buch „Die 40 Tage des Musa Dagh“ oder Atom Egoyans Film „Ararat“ oder Reportagen über die armenischen Viertel in Jerusalem oder Beirut, kein relevantes Thema geht in diesem Band ab. Und letzten Endes sind es die durchgehend versöhnlichen und ruhigen Töne, die hier angeschlagen wer­den, die dem Titel des Buches doch seine Rechtfertigung geben.

[tr]

Hans-Lukas Kieser/Dominik J. Schalter (Hg.): Der Völ­kermord an den Armeniern und die Shoah

The Armenian Genocide and the Shoah. Chronos Verlag (Zürich, 2002)

Bereits 2002 erschien im Chronos-Verlag ein Sammelband, der sich einge­hend mit dem Zusammenhang zwischen dem Genozid an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich und der Shoah auseinan­dersetzt. Die Bei­träge befassen sich nicht nur mit dem Genozid selbst, sondern versu­chen auch einen Vergleich zwischen dem Genozid von 1915 und der Sho­ah zu ziehen. Dabei werden jedoch nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede herausgearbeitet. Themen wie die jüdischen und zionistischen Reaktionen auf den Genozid oder „Arab Nationalists, Nazi-Germany and the Holocaust“ ergänzen den Band. Auch wenn sich Autoren und Herausgeber der Gefahr einer allzu raschen Parallelisierung be­wusst sind, so sind manche Beiträge, die sich in den Bereich der „verglei­chenden Genozidforschung“ begeben, doch insofern problematisch, als sie nicht immer den spezifisch deutschen (und österreichischen) Sonderweg der deutschen Nationalstaatsbildung mitdenken ohne den zwar der Antise­mitismus, nicht aber die industrielle Massenvernichtung denkbar ist. Das über 600 Seiten starke Buch bleibt jedoch mit seiner Fülle an Beiträgen eine der wichtigsten Fundgruben zu diesem Thema und ist damit sowohl Fundgrube für weitere Debatten als auch Standardwerk für all jene die sich insbesonders aus einer deutsch­sprachigen Perspektive mit dem Ge­nozid an den ArmenierInnen auseinandersetzen wollen.

[ts]
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