FORVM, No. 197/I
Mai
1970

Sowjetdemokratisches Manifest

M. A. Sacharow, Physiker, Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, einer der Väter der sowjetischen H-Bombe, schrieb 1968 einen Text, der in der Sowjetunion von Hand zu Hand zirkulierte und im Westen veröffentlicht wurde („Wie ich mir die Zukunft vorstelle. Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“, Diogenes, Zürich 1968). Er begrüßte darin den Prager Frühling. Viel Ähnlichkeit mit dessen ideologischer Produktion (Aktionsprogramm der KPC, Manifest der 2000 Worte und dergleichen) hat auch Sacharows neues Manifest, dessen vollständigen Wortlaut wir hier vorlegen. Mitverfasser sind der Historiker R. A. Medwedew und der Physiker V. F. Turtschin. Es ist das bisher umfangreichste und konkreteste Programm für Demokratisierung der UdSSR. Ein Gespenst geht um im Sowjetimperium — das Gespenst des Revisionismus. Alle Mächte des alten Stalinismus haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet. Alle drei Manifestautoren sind noch in Freiheit.

An das Zentralkomitee der KPdSU, an Breschnjew, an den Ministerrat der Sowjetunion, an Kossygin, an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, an Podgorny. Sehr geehrte Genossen,

wir wenden uns an Euch, um Euch ein Problem von großer Bedeutung zu unterbreiten. Unser Land hat viel getan für die Entwicklung der Produktion, auf dem Gebiet der Erziehung und der Kultur, für die radikale Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter und für die Schaffung neuer sozialer Beziehungen zwischen den Menschen. Diese Leistungen sind von historischer und weltweiter Bedeutung, sie haben tiefgreifenden Einfluß auf den Gang der Ereignisse in der ganzen Welt ausgeübt und eine solide Basis für die weitere Entwicklung der Sache des Kommunismus geschaffen.

Aber es gibt auch ernste Schwierigkeiten und Schwächen.

Dieser Brief legt einen Standpunkt dar, den man kurz in Form folgender Thesen formulieren kann:

  1. Es scheint in unserer Zeit unumgänglich notwendig, eine Reihe von Maßnahmen für eine größere Demokratisierung des sozialen Lebens in unserem Land zu treffen. Diese Notwendigkeit ergibt sich zum Teil aus der engen Verbindung zwischen den Problemen des technisch-ökonomischen Fortschrittes und der wissenschaftlichen Wirtschaftsmethoden einerseits und den Problemen der Freiheit der Information, der Öffentlichkeit und des Konkurrenzdenkens anderseits. Dieselbe Notwendigkeit ergibt sich jedoch auch aus anderen Problemen der Innen- und Außenpolitik.
  2. Die Demokratisierung soll zur Erhaltung und Stärkung des sozialistischen Sowjetsystems, der sozialistischen Wirtschaftsstruktur, unserer sozialen und kulturellen Errungenschaften sowie der sozialistischen Ideologie beitragen.
  3. Die Demokratisierung unter der Führung der KPdSU und in Zusammenarbeit mit allen Schichten der Gesellschaft soll die führende Rolle der Partei im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben der Gesellschaft wahren und konsolidieren.
  4. Die Demokratisierung muß schrittweise erfolgen, um eventuelle Komplikationen und Brüche zu vermeiden. Gleichzeitig muß sie jedoch tiefgreifend und auf der Basis eines sorgfältig erarbeiteten Programms konsequent durchgeführt werden. Ohne eine radikale Demokratisierung wird unsere Gesellschaft nicht imstande sein, die anstehenden Probleme zu lösen, ohne eine radikale Demokratisierung kann sie sich nicht normal weiterentwickeln.

Es gibt Gründe für die Annahme, daß der in diesen Thesen dargelegte Standpunkt in gewissem Maß vom Großteil der sowjetischen Intelligentsia und der Avantgarde der Arbeiterklasse geteilt wird. Dieser Standpunkt kommt in den Ansichten der jungen Studenten und Arbeiter und in vielen Diskussionen in kleinerem Kreis zum Ausdruck. Wir halten es jedoch für sinnvoll, diesen Standpunkt in Form eines Briefes darzulegen, um damit eine breite und offene Diskussion der wichtigsten Probleme zu beginnen. Wir werden versuchen, diese Probleme auf eine positive und konstruktive Art, die auch für die Partei- und Staatsführung unseres Landes akzeptabel ist, zu behandeln sowie einige Mißverständnisse und grundlose Befürchtungen zu zerstreuen.

I. Wirtschaft

Im Laufe des letzten Dezenniums sind in der Wirtschaft unseres Landes drohende Anzeichen von Fehlorganisation und Stagnation aufgetreten. Aber die Wurzel dieser Schwierigkeiten reicht in eine frühere Zeit zurück und sitzt sehr tief. Die Wachstumsrate unseres Nationaleinkommens nimmt regelmäßig ab. Die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und der für eine normale Entwicklung notwendigen Produktionskapazität nimmt zu. In der Technik, in der Wirtschaftspolitik, in der Industrie und in der Landwirtschaft treten zahlreiche Fehler auf, die Verwaltung ist von unzulässiger Schwerfälligkeit bei der Lösung dringender Probleme. Die Mängel im System der Wirtschaftsplanung, der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der materiellen Anreize führen häufig zu einem Widerspruch zwischen lokalen und Sonderinteressen einerseits, Volks- und Staatsinteressen anderseits. Infolgedessen erscheinen die wirtschaftlichen Reserven für den Ausbau der Produktion nicht so groß, wie sie sein sollten, sie werden nicht entsprechend ausgenützt, während der technische Fortschritt sich radikal verlangsamt.

Aus denselben Gründen werden die natürlichen Reichtümer unseres Landes häufig ungestraft und unkontrolliert zerstört: Wälder werden gerodet, Wasserreservoire verseucht, wertvolles Ackerland unter Wasser gesetzt, es kommt zu Erosion und Übersättigung des Bodens mit Salzen usw.

Die chronisch schwierige Situation der Landwirtschaft, insbesondere was den Viehbestand betrifft, ist bekannt.

Das Realeinkommen der Bevölkerung ist in den letzten Jahren fast nicht gewachsen. Die Ernährung, die ärztliche Betreuung und die übrigen staatlichen Leistungen bessern sich nur sehr langsam und überdies mit großen regionalen Unterschieden. Die Zahl der Waren, die auf dem Markt fehlen, nimmt zu. Es gibt deutliche Zeichen von Inflation.

Besonders beunruhigend für die Zukunft unseres Landes ist die Verzögerung der Entwicklung im Bereich der Erziehung: Unsere Ausgaben für das gesamte Schulsystem sind dreimal geringer als in den Vereinigten Staaten und wachsen in geringerem Maße als dort. Der Alkoholismus nimmt in tragischem Ausmaß zu, und selbst die Rauschgiftsucht macht bereits von sich reden. In vielen Gegenden unseres Landes nimmt die Kriminalität regelmäßig zu. In vielen Orten gibt es immer deutlichere Symptome der Korruption. Bürokratismus, Abkapselung der Verwaltung vom Volk, formalistische Einstellung in bezug auf die Aufgaben, die zu erfüllen sind, und das Fehlen von Initiativen — das alles wird in der wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Organisation immer deutlicher.

Wie man weiß, ist die Produktivität der Arbeit der entscheidende Faktor für den Vergleich von Wirtschaftssystemen. Gerade in diesem Punkt ist die Situation am allerschlechtesten. Die Produktivität der Arbeit bleibt bei uns, wie schon früher, mehrfach hinter jener der kapitalistischen Staaten zurück; die Zunahme dieser Produktivität hat sich seit kurzem sehr verlangsamt. Die Situation ist besonders beunruhigend, wenn man sie mit der in den wichtigsten kapitalistischen Ländern, insbesondere in den USA, vergleicht. Durch die Einführung von Elementen der Wirtschaftsregulierung und Wirtschaftsplanung durch den Staat haben diese Länder die zerstörenden Krisen beseitigt, von denen früher die kapitalistische Wirtschaft heimgesucht wurde. Die weitgehende Einführung der Automation und der Computer in der Wirtschaft garantierte ein schnelleres Wachstum der Arbeitsproduktivität, die es ihrerseits wieder ermöglicht, gewisse Schwierigkeiten und soziale Widersprüche zum Teil zu überwinden (zum Beispiel durch die Einführung von Arbeitslosenzulagen, durch die Verkürzung der Arbeitszeit usw.).

Wenn wir unsere Wirtschaft mit der Wirtschaft der Vereinigten Staaten vergleichen, stellen wir fest, daß wir im Rückstand sind — nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern, was noch viel trauriger ist, auch in qualitativer Hinsicht. Der Abstand zwischen den USA und uns ist um so größer, je neuer und revolutionärer der Wirtschaftssektor ist, den wir untersuchen. Wir übertreffen Amerika in der Kohlenproduktion, wir haben jedoch einen Rückstand bei der Produktion von Erdöl, Gas und elektrischer Energie. In der Chemie sind wir gegenüber Amerika zehnfach im Rückstand, in der Computertechnologie läßt sich der Rückstand gar nicht messen. Dieser letzte Punkt ist besonders wesentlich, denn die Einführung von elektronischen Rechenmaschinen in der Wirtschaft ist ein Phänomen von entscheidender Bedeutung, welches das System und den Stil der Produktion radikal verändert. Dieser Vorgang wurde zu Recht als zweite industrielle Revolution gekennzeichnet. Die gesamte Potenz unserer Computer ist jener der USA hundertfach unterlegen. In der Verwendung von Computern ist die Diskrepanz so groß, daß sie sich gar nicht messen läßt. Wir leben auf diesem Gebiet ganz einfach noch in einer anderen Zeit.

Auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Entdeckungen ist die Situation kaum besser. Auch hier nimmt unsere Rolle kaum zu. Am Ende der fünfziger Jahre war unser Land das erste, das einen Sputnik und einen Menschen in den Weltraum schickte. Am Ende der sechziger Jahre haben wir unseren Vorrang auf diesem Gebiet und auf vielen anderen Gebieten eingebüßt. Die ersten Menschen, die ihren Fuß auf den Mond setzten, waren Amerikaner. Diese Tatsache stellt eines der äußeren Zeichen für den substantiellen und ständig zunehmenden Unterschied zwischen uns und den Ländern des Westens dar, was die breite Front der wissenschaftlichen und technologischen Arbeiten betrifft.

In den zwanziger und dreißiger Jahren hatte die kapitalistische Welt eine Zeit der Krisen und Depressionen erlebt. In dieser Zeit haben wir unter Ausnützung der von der Revolution erweckten nationalen Energien unsere Industrie in einem noch nie dagewesenen Tempo aufgebaut. Damals wurde die Devise lançiert: Amerika einholen und übertreffen. Während mehrerer Dezennien haben wir Amerika wirklich eingeholt. Dann änderte sich die Situation, es begann die zweite industrielle Revolution, und heute, zu Beginn der siebziger Jahre, müssen wir feststellen, daß wir Amerika nicht nur nicht eingeholt haben, sondern daß unser Rückstand immer größer wird.

II. Demokratie

Warum? Warum sind wir nicht die Pioniere der zweiten industriellen Revolution gewesen, warum waren wir unfähig, diese Revolution zumindest gleichzeitig mit den hochentwickelten kapitalistischen Ländern zu vollziehen? Bietet das sozialistische System wirklich schlechtere Bedingungen für die Entwicklung der Produktivkräfte als das kapitalistische System? Siegt im wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen Kapitalismus und Sozialismus wirklich der Kapitalismus?

Selbstverständlich nicht. Die Wurzel unserer Schwierigkeiten liegt nicht im sozialistischen System, sondern vielmehr in den besonderen Umständen und Bedingungen unseres Lebens, die dem Sozialismus entgegenstehen, ja ihm feindlich sind. Die Wurzeln unserer Schwierigkeiten sind die antidemokratischen Traditionen und Normen, die in unserem öffentlichen Leben während der stalinistischen Periode aufgetreten und bis heute nicht völlig beseitigt worden sind.

Es ist bei uns üblich, die äußeren Zwangsmaßnahmen in der Wirtschaft, die Einschränkungen des Informationsaustauschs, die Einschränkungen der geistigen Freiheit und alle anderen antidemokratischen Deformationen des Sozialismus, die unter Stalin aufgetreten sind, als Preis der Industrialisierung anzusehen. Man ist der Meinung, daß sie die Wirtschaft des Landes nicht wesentlich beeinflußt haben, obwohl sie in politischer und militärischer Hinsicht für das Schicksal breiter Bevölkerungsschichten und ganzer Nationen die schwersten Folgen hatten. Wir untersuchen nicht die Frage, inwiefern diese Meinung gerechtfertigt ist, was die ersten Etappen in der Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft betrifft: Der Rückgang im Tempo der industriellen Entwicklung während der Vorkriegsjahre weist eher auf das Gegenteil hin. Aber es steht außer Zweifel, daß die antidemokratischen Symptome mit Beginn der zweiten industriellen Revolution ein entscheidender wirtschaftlicher Faktor geworden sind, eine Bremse für die Entwicklung der Produktivkräfte unseres Landes.

Die Probleme der wirtschaftlichen Organisation und Führung sind immer mehr in den Vordergrund gerückt, auf Grund des wachsenden Umfangs und der wachsenden Komplexität der Wirtschaftssysteme. Diese Probleme können nicht mehr von einem oder von mehreren gelöst werden, die die Macht in Händen haben, die „alles wissen“. Sie erfordern die schöpferische Teilnahme von Tausenden Menschen auf allen Ebenen des wirtschaftlichen Systems, sie erfordern einen umfassenden Informations- und Ideenaustausch. Darin unterscheidet sich die moderne Wirtschaft von der des alten Orients.

Aber der Austausch von Informationen und Ideen stößt in unserem Land auf unüberwindbare Schwierigkeiten. Die wahrheitsgemäßen Informationen über die Unzulänglichkeiten und die negativen Erscheinungen in unserem Land werden geheimgehalten, unter dem Vorwand, „sie könnten von der feindlichen Propaganda ausgenützt werden“. Der Austausch von Informationen mit dem Ausland wird eingeschränkt aus Furcht vor dem „Eindringen einer feindlichen Ideologie“. Theoretische Verallgemeinerungen und praktische Vorschläge, die manchen zu kühn erscheinen, werden im Keim erstickt, ohne jede Diskussion, weil man Angst hat, sie könnten „die Grundlagen unterminieren“.

Das Mißtrauen gegenüber aktiven, kritischen Persönlichkeiten mit schöpferischen Gedanken ist offenkundig. Die durch ein solches Klima geschaffenen Bedingungen fördern nicht den Aufstieg derer, die durch große berufliche Qualitäten und Festhalten an Grundsätzen brillieren, sondern den Aufstieg derer, die sich zwar nach außen hin durch ihre Parteitreue auszeichnen, im Grund jedoch nur ihre eigenen kleinen Interessen verfolgen oder als passive, ausführende Organe fungieren.

Die Einschränkungen der Informatiorsfreiheit haben zur Folge, daß nicht nur die Kontrolle der politischen Führung schwieriger und die Initiative der Bevölkerung ertötet wurde, sondern auch, daß die Politiker der mittleren Garnitur, die zwischen Regierung und Volk vermitteln sollten, über keinerlei Rechte und Informationen verfügen und daher zu passiven Exekutivorganen, zu reinen Bürokraten werden. Die Führer der obersten Staatsorgane erhalten eine unvollständige, entschärfte Information und haben daher ebenfalls keinerlei Möglichkeit, die Macht, über die sie verfügen, effektiv einzusetzen.

Die Wirtschaftsreform des Jahres 1965 stellt ein wichtiges und äußerst zweckmäßiges Unternehmen dar, das die Aufgabe hat, die wesentlichen Probleme zu lösen. Aber wir sind überzeugt, daß zur Erfüllung aller notwendigen Aufgaben rein wirtschaftliche Maßnahmen nicht ausreichen. Mehr noch, diese wirtschaftlichen Maßnahmen können nicht voll durchgeführt werden ohne eine Reform der Verwaltung, der Information und der Öffentlichkeit.

Dieselbe Feststellung gilt auch für so vielversprechende Unternehmen wie die Organisation von komplexen Produktionseinheiten, die über große Autonomie in wirtschaftlichen, finanziellen und personellen Fragen verfügen. Welches konkrete wirtschaftliche Problem wir auch untersuchen, wir kommen sehr rasch zu dem Schluß, daß es unerläßlich ist, eine wissenschaftliche Lösung für die wesentlichen und allgemeinen Probleme der sozialistischen Wirtschaft zu finden, wie etwa das Problem der „Rückkoppelung“ in der Betriebsführung, der Preisbildung bei Fehlen eines freien Marktes, der allgemeinen Prinzipien der Wirtschaftsplanung usw.

Man spricht bei uns heute viel von der Notwendigkeit, die Probleme der Verwaltung und Wirtschaftsorganisation wissenschaftlich zu behandeln. Dies ist natürlich richtig. Nur eine wissenschaftliche Behandlung dieser Probleme wird es ermöglichen, die aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden und auf dem Gebiet der Wirtschaft und des technisch-ökonomischen Fortschritts die Möglichkeiten auszunützen, die das Fehlen des kapitalistischen Eigentums prinzipiell bietet. Wissenschaftliche Behandlung erfordert jedoch vollständige Information, vorurteilsfreies Denken und schöpferische Freiheit.

Unsere Wirtschaft läßt sich mit dem Verkehr auf einer Kreuzung vergleichen. Solange es wenig Autos gab, wurde der Verkehrspolizist mit seiner Aufgabe leicht fertig, und alles verlief normal. Aber der Strom der Autos wächst ständig, und so kommt es zu einer Verkehrsstauung. Was soll man in einer solchen Situation tun? Man kann natürlich die Autolenker bestrafen und die Verkehrspolizisten auswechseln, aber dies wird die Situation nicht verbessern. Die einzige Lösung ist die Vergrößerung der Kreuzung. Die Hindernisse für die Entwicklung unserer Wirtschaft liegen außerhalb der Wirtschaft, auf sozio-politischem Gebiet. Alle Maßnahmen, die diese Hindernisse nicht beiseite schaffen, sind von vornherein zur Erfolglosigkeit verurteilt.

Die Spuren der Stalinära wirken sich nicht nur direkt negativ auf die Wirtschaft aus, indem sie eine wissenschaftliche Bearbeitung der Organisations- und Verwaltungsprobleme unmöglich machen; sie wirken sich in nicht geringerem Maß auch indirekt aus, indem sie zu einem allgemeinen Rückgang des schöpferischen Potentials in allen Berufen führen. Im Zusammenhang mit der zweiten industriellen Revolution wird jedoch gerade die schöpferische Arbeit für die Wirtschaft immer wichtiger.

Hier muß man auch das Problem des Verhältnisses von Staat und Intelligentsia erwähnen. Die Freiheit der Information und des geistigen Schaffens ist für die Intelligenz von ihrem Wirken und ihrer sozialen Funktion her unerläßlich. Die Bemühungen der Intelligenz, diese Freiheit zu vergröBern, sind legitim und natürlich. Aber der Staat unterdrückt dieses Streben durch alle Arten von Beschränkungen, administrativen Druck, Entlassungen, ja gerichtliche Verfolgung. Dies schafft eine Trennwand, wechselseitiges Mißtrauen und tiefes gegenseitiges Unverständnis, was eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der Partei- und Staatsführung einerseits und dem aktivsten, das heißt für die Gesellschaft wertvollsten Teil der Intelligenz schwierig gestaltet. Unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft, in der die Rolle der Intelligenz ständig zunimmt, kann ein solcher Bruch nur als Selbstmord angesehen werden.

Die Mehrheit der Intelligenz und der Jugend versteht die Notwendigkeit einer Demokratisierung; sie versteht auch, daß man in dieser Frage vorsichtig und Schritt für Schritt vorgehen muß. Aber sie kann Maßnahmen, die offenkundig antidemokratischen Charakter haben, weder verstehen noch rechtfertigen. Wie sollte man auch die Gefangenhaltung und Internierung in psychiatrischen Kliniken von Personen rechtfertigen, die zwar in Opposition stehen, deren Opposition jedoch im Rahmen der Legalität auf der Ebene der Ideen und Überzeugungen bleibt? In vielen Fällen handelt es sich im übrigen nicht einmal um Opposition, sondern einfach um ein Streben nach Information, nach mutiger und vorurteilsfreier Diskussion wichtiger gesellschaftlicher Probleme. Die Inhaftierung von Schriftstellern auf Grund ihrer Werke ist unzulässig. So schädliche und absurde Maßnahmen wie der Ausschluß des bedeutendsten und populärsten sowjetischen Schriftstellers, [1] der in seinem ganzen Schaffen zutiefst patriotisch und menschlich ist, aus dem Schriftstellerverband läßt sich weder verstehen noch rechtfertigen, ebensowenig wie die Zerschlagung der Redaktion von „Novy Mir“, [2] die die progressivsten Kräfte des marxlstisch-leninistischen Sozialismus um sich versammelte!

Wir müssen auch wieder von ideologischen Problemen reden! Die Demokratisierung muß mit der Fülle der Information und der Atmosphäre des Wettbewerbs, die sie mit sich bringt, unserer ideologischen Situation — in den Sozialwissenschaften, den Künsten, der Propaganda — die notwendige Dynamik und Kreativität zurückgeben und gleichzeitig den bürokratischen, rituellen, dogmatischen Stil liquidieren, die offizielle Heuchelei und Mittelmäßigkeit, die in unserem Leben heute einen so großen Piatz einnehmen.

Das Engagement für die Demokratisierung wird die Trennwand zwischen dem Partei- und Staatsapparat einerseits und der Intelligenz anderseits beseitigen. Das gegenseitige Unverständnis wird einer engen Zusammenarbeit weichen, die Demokratisierung wird zu einer neuen Welle des Enthusiasmus führen, ähnlich dem Enthusiasmus der zwanziger Jahre. Die besten intellektuellen Kräfte des Landes werden für die Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme mobilisiert werden.

Die Durchführung der Demokratisierung ist ein schwieriger Prozeß. Seine normale Abwicklung wird einerseits durch individualistische, antisozialistische Kräfte bedroht, anderseits durch die „Anhänger einer starken Regierungsgewalt“, durch die Demagogen faschistischen Typs, die versuchen können, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, das wechselseitige Unverständnis und Mißtrauen zwischen Intelligenz und Partei- und Staatsapparat, die Existenz einer kleinbürgerlichen und nationalistischen Mentalität in gewissen Kreisen unserer Gesellschaft für ihre Zwecke zu verwenden.

Wir müssen uns klarwerden darüber, daß es für unser Land keine andere Lösung gibt und daß dieses schwierige Problem gelöst werden muß. Die Durchführung der Demokratisierung über Initiative und unter Kontrolle der obersten Organe wird es ermöglichen, diesen Prozeß in planvoller Weise zu organisieren und dafür zu sorgen, daß auch die kleinsten Elemente des Partei- und Staatsapparats Zeit finden, sich dem neuen Arbeitsstil anzupassen, einem Stil, der sich vom vorhergehenden durch mehr Offenheit und mehr Öffentlichkeit und durch eine breitere Diskussion aller Probleme unterscheiden wird.

Es steht außer Zweifel, daß die Mehrheit der Funktionäre des Apparats — Menschen, die in einem modernen und hochentwickelten Land erzogen worden sind — fähig ist, diesen Arbeitsstil zu übernehmen, und daß sie dessen Vorteile sehr schnell erfassen werden. Die Ausschaltung einer geringfügigen Zahl von unfähigen Funktionären wird die Dinge nur erleichtern.

Wir schlagen hier ein annäherndes Programm der Demokratisierung vor, mit folgenden Maßnahmen, die in den nächsten vier oder fünf Jahren getroffen werden könnten:

  1. Erklärung der obersten Partei- und Regierungsorgane betreffend die Notwendigkeit einer weiteren Demokratisierung und Ankündigung des Tempos und der Methoden bei deren Durchführung. Veröffentlichung einer Artikelserie zu den Problemen der Demokratisierung in der Presse.
  2. Beschränkte Verbreitung (über Parteiorgane, Betriebe und Verwaltungsstellen) von Informationen über die Lage des Landes und von theoretischen Arbeiten zu den sozialen Problemen, die im Augenblick besser nicht in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden sollten. Schrittweise Erweiterung des Zugangs zu diesen Materialien bis zur völligen Aufhebung aller Einschränkungen.
  3. Organisation von komplexen Produktionseinheiten auf breiter Ebene. Diese Einheiten haben einen hohen Grad von Autonomie in Fragen der Produktionsplanung, des technologischen Fortschritts, des Absatzes und Ankaufs von Waren sowie in finanziellen und personellen Fragen. Erweiterung derselben Rechte für die weniger wichtigen Produktionseinheiten. Gründliche Untersuchung und wissenschaftliche Definition der Formen und des Umfangs der staatlichen Interventionen.
  4. Beseitigung der Störungen von ausländischen Rundfunksendungen, freier Verkauf von ausländischen Büchern und Zeitschriften, Beitritt unseres Landes zu den internationalen Verträgen über den Schutz von Autoren- und Verlegerrechten. Schrittweiser Ausbau — über einen Zeitraum von drei bis vier Jahren — des internationalen Fremdenverkehrs in beiden Richtungen, Erleichterung der Vorschriften für den internationalen Briefverkehr und andere Maßnahmen zum Ausbau der internationalen Kontakte, wobei vorrangig die Kontakte mit den Ländern des COMECON gefördert werden sollten.
  5. Errichtung eines Instituts zur Erforschung der öffentlichen Meinung. Zunächst beschränkte, dann vollständige Veröffentlichung der Informationen über die Haltung der Bevölkerung zu den Hauptproblemen der Innen- und Außenpolitik und anderer soziologischer Materialien.
  6. Amnestie für alle, die aus politischen Gründen verurteilt worden sind. Erlaß über die obligatorische Veröffentlichung der stenographischen Protokolle über alle politischen Prozesse. Kontrolle der Gefängnisanstalten und Irrenhäuser durch die Öffentlichkeit.
  7. Durchführung einer Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Gerichte und der Staatsanwaltschaft, zur Stärkung ihrer Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive, den lokalen Einflüssen, Vorurteilen und persönlichen Beziehungen.
  8. Streichung der Nationalität aus Pässen und offiziellen Papieren, einheitliche Pässe für Stadt- und Landbewohner, schrittweiser Abbau des Systems der Paßregistrierung, gleichzeitige Beseitigung der regionalen Ungleichheiten in der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung.
  9. Reform auf dem Gebiet der Erziehung. Erhöhung der Kredite für Volks- und Mittelschulen, Verbesserung der materiellen Lage der Lehrer, Vergrößerung ihrer Unabhängigkeit und ihres Rechts auf Experimente.
  10. Verabschiedung eines Gesetzes über Presse und Information. Möglichkeit für soziale Organisationen und Gruppen von Bürgern, neue Presseorgane zu gründen. Vollständige Abschaffung der Vorzensur in allen ihren Formen.
  11. Verbesserung der Ausbildung der führenden Manager, die die Kunst der Verwaltung beherrschen müssen. Einführung von Probezeiten. Erweiterung der Informationen: für die Kader auf allen Stufen, des Rechts auf Autonomie, auf Experimente, auf Verteidigung ihrer Ansichten und Verwirklichung ihrer Ansichten in der Praxis.
  12. Schrittweise Einführung der Aufstellung mehrerer Kandidaten bei Wahlen für Parteiorgane und Sowjets auf allen Ebenen; u.a. auch für die indirekten Wahlen.
  13. Wiederherstellung aller Rechte für die unter Stalin zwangsdeportierten Völker. Wiedererrichtung der nationalen Autonomie für die umgesiedelten Völker. Diese müssen das Recht erhalten, wieder dorthin zurückzukehren, von wo man sie vertrieben hat — wenn dies bis jetzt noch nicht geschehen ist.
  14. Maßnahmen zur Verstärkung des Öffentlichkeitsgrades in der Arbeit der führenden Organe, insofern dies mit den Staatsinteressen zu vereinbaren ist. Errichtung von wissenschaftlichen Beratungskomitees aus hochqualifizierten Spezialisten aller Fachgebiete für die führenden Körperschaften auf allen Ebenen.

Dieser Plan stellt natürlich nur ein Beispiel dar. Er müßte selbstverständlich vervollständigt werden durch einen Plan von wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen, die von Spezialisten auszuarbeiten wären.

Wir betonen, daß die Demokratisierung an sich keineswegs die wirtschaftlichen Probleme löst: sie schafft nur die Bedingungen für deren Lösung. Aber die wirtschaftlichen und technischen Probleme können erst dann gelöst werden, wenn diese Bedingungen gegeben sind. Unsere Freunde aus dem Ausland vergleichen die Sowjetunion manchmal mit einem großen Lastwagen, in dem der Führer mit einem Fuß mit ganzer Kraft aufs Gas tritt, mit dem anderen gleichzeitig auf die Bremse. Jetzt ist der Zeitpunkt, in dem man die Bremse vernünftiger einsetzen sollte!

Der Plan, den wir vorgeschlagen haben, zeigt unserer Meinung nach, daß es durchaus möglich ist, ein Demokratisierungsprogramm zu entwerfen, das für die Partei und den Staat akzeptabel ist und in einem ersten Schritt den wachsenden Bedürfnissen der Entwicklung in unserem Land entspricht. Eine breit angelegte Diskussion, gründliche wissenschaftliche, soziologische, wirtschaftliche und allgemeinpolitische Untersuchungen, die Praxis des Alltags werden Korrektive und wesentliche Ergänzungen bringen. Aber es ist wichtig, wie die Mathematiker sagen, den Lehrsatz von der „Existenz der Lösung“ aufzustellen.

III. Internationale Konsequenzen

Zu beachten sind auch die internationalen Konsequenzen, wenn unser Land ein solches Demokratisierungsprogramm beschließt. Nichts kann zu unserem internationalen Ansehen mehr beitragen, zur Stärkung der kommunistischen Kräfte in der ganzen Welt als eine Demokratisierung, gefolgt von einer Zunahme des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts im ersten sozialistischen Land der Welt.

Die Möglichkeiten der friedlichen Koexistenz, der internationalen Zusammenarbeit werden unbestreitbar wachsen, die Kräfte des Friedens und des sozialen Fortschritts werden gestärkt werden, die Anziehungskraft der kommunistischen Ideologie wird zunehmen, unsere internationale Lage wird sicherer sein.

Besonders wichtig ist die Tatsache, daß dadurch auch die moralische und materielle Position der UdSSR gegenüber China gestärkt wird und damit unsere Möglichkeit größer wird, die Situation in diesem Land indirekt zu beeinflussen (durch unser Beispiel und durch unsere technische und wirtschaftliche Hilfe), im Interesse der Völker beider Staaten.

Viele richtige und notwendige Aktionen unserer Regierung in der Außenpolitik werden nicht entsprechend verstanden, denn die Information der Bürger über diese Fragen ist sehr unvollständig; in der Vergangenheit hat es Beispiele für offenkundig unvollständige und tendenziöse Information gegeben. Dies trägt natürlich nicht zur Stärkung des Vertrauens bei.

Die Frage der Hilfe für die noch ungenügend entwickelten Länder ist nur ein Beispiel hierfür. Vor 50 Jahren hatten die Arbeiter in einem vom Krieg zerstörten Europa den Menschen an der Wolga geholfen, die an Hunger litten. Die Sowjetmenschen sind weder hartherzig noch egoistisch, aber man muß sie überzeugen, daß unsere Mittel wirklich als Hilfe verwendet werden, zur Lösung ernster Probleme und nicht zum Bau von prunkvollen Stadien oder zum Kauf von amerikanischen Autos für Lokalfunktionäre.

Die Situation in der Welt von heute, die Möglichkeiten und Aufgaben unseres Landes erfordern eine breite Beteiligung an der Wirtschaftshilfe für die schwach entwickelten Länder, an der Zusammenarbeit mit anderen Staaten. Aber damit die Öffentlichkeit diese Fragen richtig versteht, reichen verbale Versicherungen nicht aus: sie braucht Beweise, und dies erfordert vollständigere Information, dies wiederum erfordert Demokratisierung.

In ihren Grundzügen ist die sowjetische Außenpolitik eine Politik des Friedens und der Zusammenarbeit. Aber die mangelhafte Information der Öffentlichkeit erweckt Sorge. Man konnte in der Vergangenheit in der sowjetischen Außenpolitik gewisse negative Erscheinungen beobachten, die durch einen Messianismus gekennzeichnet waren, durch einen übertriebenen Ehrgeiz. Dies gab zu dem Schluß Anlaß, daß der Imperialismus nicht die Alleinschuld an den internationalen Spannungen trägt.

Alle negativen Phänomene in der sowjetischen Außenpolitik sind eng verknüpft mit dem Problem der Demokratisierung, und diese Verknüpfung wirkt sich in doppelter Richtung aus:

Ein Phänomen, das zu großer Sorge Anlaß gibt, ist das Fehlen einer demokratischen Diskussion über Probleme wie die Waffenlieferungen an eine Reihe von Staaten, insbesondere zum Beispiel nach Nigeria, wo es einen blutigen Krieg gegeben hat, dessen Ursachen und Verlauf die sowjetische Öffentlichkeit sehr schlecht kennt.

Wir sind überzeugt, daß die Resolution des Sicherheitsrates der UNO in der Frage des israelisch-arabischen Konflikts richtig und vernünftig, wenn auch in einer Reihe wichtiger Punkte zuwenig konkret ist. Aber eine Tatsache ist beunruhigend: Geht unsere Position nicht wesentlich über dieses Dokument hinaus, ist sie nicht zu einseitig?

Ist unsere Stellung zum Status Westberlins realistisch?

Sind unsere Bemühungen, unseren Einfluß in entfernten Regionen auszudehnen, immer realistisch, zu einem Zeitpunkt, wo sich die sowjetisch-chinesischen Beziehungen schwierig gestalten, zu einem Zeitpunkt, wo in unserer technischen und wirtschaftlichen Entwicklung ernste Schwächen auftreten?

Sicher, in manchen Fällen ist eine derartige „dynamische“ Politik notwendig, aber sie muß nicht nur allgemeine Prinzipien, sondern auch die realen Möglichkeiten eines Landes berücksichtigen.

Wir sind überzeugt, daß die einzig realistische Politik im Jahrhundert der thermonuklearen Waffen eine Politik ist, die auf eine immer stärkere internationale Zusammenarbeit abzielt, auf die systematische Erforschung der eventuellen Verständigungsmöglichkeiten auf wissenschaftlichem, technischem, wirtschaftlichem, kulturellem und ideologischem Gebiet, auf die prinzipielle Ablehnung der Massenvernichtungswaffen.

Wir ergreifen hier die Gelegenheit, uns für die Nützlichkeit von ein- und mehrseitigen Erklärungen auszusprechen, in denen die Atommächte ihre prinzipielle Ablehnung bekunden, als erste solche Vernichtungswaffen einzusetzen.

Die Demokratisierung wird zu einem besseren Verständnis der Außenpolitik und zur Eliminierung sämtlicher negativer Züge auf diesem Gebiet beitragen. Diese Tatsache wird ihrerseits wieder dazu führen, daß die Gegner der Demokratisierung einen ihrer „Trümpfe“ verlieren.

Was steht unserem Land bevor, wenn es nicht den Weg der Demokratisierung beschreitet? Ein Zurückbleiben gegenüber den kapitalistischen Ländern in der zweiten industriellen Revolution und eine schrittweise Umwandlung unseres Landes in eine provinzielle Macht zweiter Ordnung (die Geschichte kennt Beispiele hierfür); Wachsen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten; Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Parteiapparat, Regierung und Intelligenz; Gefahr des Abrutschens nach rechts und links; Verschärfung der nationalen Probleme, denn in den nationalen Republiken hat das Streben nach Demokratisierung unvermeidlich nationalistische Züge.

Diese Perspektive wird besonders bedrohlich, wenn man die Gefahr des totalitären Nationalismus in China ins Auge faßt, eine Gefahr, die wir unter einem historischen Aspekt als vorübergehend, für die nächsten Jahre jedoch als sehr ernst ansehen. Das einzige Mittel für uns, dieser Gefahr zu begegnen, ist die Vergrößerung oder zumindest die Aufrechterhaltung des bedeutenden technischen und wirtschaftlichen Abstandes, der unser Land von China trennt, die Vergrößerung der Zahl unserer Freunde in der ganzen Welt und das Angebot einer Alternative der Hilfe und der Zusammenarbeit an das chinesische Volk.

Dies wird offenkundig, wenn man sich den zahlenmäßigen Vorteil unseres potentiellen Gegners, seinen militanten Nationalismus, die Länge unserer Ostgrenzen und die schwache Bevölkerungsdichte im Osten des Landes vor Augen hält. Daher kann die Stagnation der Wirtschaft, die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in Verbindung mit einer nicht genügend realistischen — und oft zu ambitionlerten — Außenpolitik auf allen Kontinenten für unser Land katastrophale Folgen haben.

IV. Die Alternative

Geehrte Genossen!

Für die Schwierigkeiten, vor denen unser Land steht, gibt es keine andere Lösung als den Weg der Demokratisierung, die die KPdSU nach einem sorgfältig ausgearbeiteten Plan durchführt. Die politische Wendung nach rechts, das heißt der Sieg der Anhänger brutaler administrativer Methoden, des „Anziehens der Schraube“, wird nicht nur keinerlei Probleme lösen, sondern sie im Gegenteil extrem verschärfen und das Land in eine tragische Sackgasse führen. Die Taktik des passiven Abwartens wird letztlich zum gleichen Ergebnis führen.

Heute haben wir noch die Möglichkeit, uns für den richtigen Weg zu entscheiden und die notwendigen Reformen zu beginnen. In einigen Jahren ist es vielleicht schon zu spät, Es ist notwendig, daß sich das ganze Land dieser Situation bewußt wird.

Jeder, der die Ursache der Schwierigkeiten und den Weg zu deren Überwindung sieht, hat die Pflicht, seinen Mitbürgern diesen Weg zu zeigen. Die Erkenntnis, daß eine schrittweise Demokratisierung notwendig und möglich ist, ist der erste Schritt auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung.

Moskau, 19. März 1970

[1Alexander Solschenizyn. Vgl. Alexander Twardowski, Solschenizynismus, Privatbrief an Konstantin Alexandrowitsch Fedin, NEUES FORVM, Anf. März 1969.

[2Sowjetische Literaturzeitschrift. Twardowski trat kürzlich von der Chefredaktion zurück, aus Protest gegen die Repression der von ihm geförderten Schriftsteller.

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