MOZ, Nummer 54
Juli
1990
Die große Obdachlosigkeit im Sommer 1910

Soziales Elend in der Kaiserstadt

Obdachlose vor dem Asyl in der Triester Straße in Wien

Vor dem Asyl

Ein Fall ging damals durch die Wiener Boulevardzeitungen: die 25jährige Fabriksarbeiterin Marie Riegler hatte ihre Miete nicht mehr bezahlen können, sie wurde mit einem kranken und einem gesunden Kind delogiert. Es folgte eine Odyssee von einem Spital zu einem Frauenheim und zu verschiedenen Obdachlosenasylen, da diese Institutionen einkommenslose Personen nur für einige Tage aufnahmen. Am 9. Juli 1910 wurde Marie Riegler mit der Begründung vor dem Meidlinger Asyl abgewiesen, es sei voll. Mit ihr standen laut Polizeibericht mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder im Regen. „Trotz der Abweisung blieben sie in der Nähe des Asyls stehen“, heißt es weiter, „und verlangten abermals Einlaß in das Asyl, der jedoch nicht gewährt wurde. Sie blieben auch weiterhin vor dem Asyl. Viele verbrachten die Nacht auf dem Durchgang der Südbahn zur Stadt. In dem erwähnten Durchgang kam es jedoch zu einem tragischen Zwischenfall. Die zweijährige Karoline Riegler, Tochter der Marie Riegler, ist in den Armen ihrer Mutter in der Früh verstorben.“ Die Zeitungen wetterten: „Skandal!“ Darauf entschloß sich der kaiserliche Rat Künast, der Präsident des Asylvereins, in sämtlichen Heimen alle Räumlichkeiten öffnen zu lassen, die bislang im Sommer aus Sparmaßnahmen geschlossen blieben.

Das Kleinkind sollte nicht die einzige Tote bleiben, am 21. Juli und am 26. Juli starben weitere kranke Säuglinge, die den Aufenthalt im Freien nicht überstanden hatten. Schließlich kam es angesichts der dauernden Abweisungen zu wilden Szenen, hunderte Obdachlose versuchten, ein Asyl zu stürmen. Obdachlose führten eine Flugblattaktion über die Situation im Favoritner Asyl durch, ebenso wie sie versuchten, im Rathaus direkt beim Bürgermeister zu protestieren. Am 14. August verlangten zirka 200 Arbeits- und Obdachlose, den Bürgermeister zu sprechen, die Magistratsdiener ließen sie nicht ein, die Polizei warf sie hinaus. Im Spätsommer veranstalteten einmal hunderte Obdachlose mit ihren Kindern einen Protestzug durch die Stadt, von ihnen selbst „Familienausflug“ benannt. Auf den Treppen des Rathauses protestierten mehrmals über hundert Frauen gegen den mit Obdachlosigkeit verbundenen Abriß ihrer Wohnhäuser.

Obdachlosenpolitik statt Wohnungspolitik

1910 begannen sich die Lebensverhältnisse der Unterschichten deutlich zu verschlechtern, Preissteigerungen erfaßten fast alle Konsumgüter, auch die Wohnungen. Deren Preise stiegen sogar besonders stark, da die Nachfrage das Angebot bei weitem überstieg, leere Kleinwohnungen waren kaum zu finden. Die Bautätigkeit war mäßig. Zudem konnte man in jenen Jahren mit mittleren und größeren Wohnungen höhere Gewinne erzielen, also wurden tausende abgerissene Häuser mit Kleinwohnungen durch Wohnblocks mit Wohnungen für die Mittelschichten ersetzt. Unter Steuerdruck, vom Kreditapparat abhängig und von gesetzlichen Schutzbestimmungen unbehindert, versuchten die Hausbesitzer, ihre Interessen optimal einzubringen: sie setzten kinderreiche Familien an die Luft. Sie hatten weniger Hemmungen, dies im Sommer zu tun, daher verloren tausende Familien in den Monaten Juli, August und September ihre Wohnungen. Entsprechend der damaligen Rechtslage konnte in der Regel binnen Monatsfrist jederzeit gekündigt werden. Einmal auf Wohnungssuche, hatten diese Familien große Schwierigkeiten; sie erhielten oft auch dann keine Wohnung, wenn sie ohne Probleme bezahlen konnten. Die Nachfragesituation erlaubte es, die Kinderreichen zu selektieren und kleinere Familien, die die Wohnungen weniger abnützen würden, zu bevorzugen.

Bereits seit einem halben Jahrzehnt war die Situation auf dem Wohnungsmarkt dadurch geprägt, daß man „dem freien Spiel der Kräfte des Marktes“ vertraute. Auch in den Jahren ab 1910 wurde nichts unternommen, das den Namen Reform- oder gar Strukturpolitik verdient hätte. Im Gegenteil, neue städtische Wassergebühren, die vom Hauseigentümer eingehoben wurden, lieferten den Vorwand für Mietenerhöhungen und heizten die Krise zusätzlich an. Andererseits konnten Unterstandslose nun keineswegs mehr in erster Linie als randständige Elemente bezeichnet werden, zu viele voll im Arbeitsprozeß stehende Familienväter waren ohne Wohnung, die Stadt mußte reagieren. Die Maßnahmen bestanden in Geldaushilfen im Ausmaß einer Monatsmiete und vor allem in der Subvention und der Erweiterung von Asylen sowie dem Bau von Notquartieren. Die Nächtigungszahlen der Heime und Asyle stiegen von 414.043 im Jahr 1910 explosionsartig auf 514.836 im Jahr 1911 und 1912 auf 686.932 an. Gerichtliche Kündigungen und Obdachlosigkeit nahmen also weiter zu.

Lumpenbälle und Armenfeste

Über die sozialen Phänomene Obdachlosigkeit und Armut waren die zeitgenössischen Zeitungsleser wohlinformiert. Bereits seit der Jahrhundertwende hatte Max Winter die Sozialreportage im Tagesjournalismus eingeführt, einige Jahre später druckten auch die liberalen, mitunter sogar die konservativen Blätter immer häufiger Sozialreportagen ab. Besonderer Aufmerksamkeit erfreuten sich die Obdachlosen: Journalisten krochen in Kanäle, schliefen in Wärmestuben, verkleideten sich als Bettler. Das Genre erlebte einen wahren Boom. Dies wird auch in einem amüsanten Bericht des Journalisten Emil Kläger deutlich, der bei seinen Recherchen als unterstandsloser Schlafgast im Männerheim Meldemannstraße auf ein besonders zerlumptes Individuum traf. Zu seiner Überraschung versuchte der Fremde, ihn selbst auszuhorchen. Er entpuppte sich als Redakteur der Krakauer Nachrichten. Unterschiedliche Motive leiteten die Verfasser dieser Reportagen, neben der persönlichen Profilierung ging es um das ‚Aufrütteln‘ der Mittelschichten, um die Aufforderung zu Spenden und Unterstützung.

Ein wesentlicher Beitrag zur Finanzierung der Obdachlosenfürsorge wurde damals von privater Seite geleistet, hunderttausende Kronen wurden jährlich aufgebracht, große Summen auch spontan gespendet. Im ‚bürgerlichen‘ Zeitalter der Kaiserzeit entstanden bestimmte Formen der Selbstdarstellung des Bürgertums im Zuge seiner Klassenkonstituierung. Dazu gehörte das ‚Wohltun‘, die Wohltätigkeit. Mehr als sechshundert Vereine der Privatwohltätigkeit deckten am Vorabend des Ersten Weltkriegs einen Großteil des — sehr bescheidenen — sozialen Netzes ab. Öffentliche Armenbeteilungen waren durchaus üblich, Kritiker sprachen von „exhibitionistischen Armenfesten, in deren Glanz sich die Spender sonnten“. Einen skurrilen Höhepunkt dieser Praxis stellten die Lumpenbälle und Obdachlosenfeste dar, bei denen sich die Hautevolee, oder wer sich dafür hielt, in Lumpen hüllte oder als Obdachloser verkleidete. Der Reinerlös floß den Asylen zu.

Eine Reduktion der Obdachlosigkeit wurde erst unter den geänderten politischen Verhältnissen der Ersten Republik möglich, als neue Gesetze den Unterschichten eine minimale Reproduktionsgarantie boten, unabhängig von Wohlverhalten und privatem Good-Will.

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