FORVM, No. 478/479
November
1993

Temelín

Die Konjunkturen der Atomenergie-Gegnerschaft und das AKW

I. AKW-Gegner, wo seid ihr geblieben?
oder
Wie ungefährlich sind Atomkraftwerke?

Die Zeiten, wo der Protest gegen die Atompolitik der eigenen Regierung Leute auf die Straße brachte, sind endgültig vorbei. Im Land der einst stärksten Anti-Atom-Bewegung, in der BRD, haben die einstigen Protestierer mitsamt derjenigen Partei, die mit ihrer Anti-Atom-Linie in früheren Zeiten erfolgreich auf Stimmenfang gegangen ist, ihren Frieden mit der Kernenergie gemacht und sich anderen, „dringlicheren“ Problemen zugewandt.

Dabei ist es ja nicht so, daß die Einwände, die seinerzeit gegen Brokdorf, Gorleben und woran sich der Protest noch entzündet hat, ihre Gültigkeit verloren hätten. Die Dinger stehen noch, schädigen die Umgebung und sind gefährlich wie eh und je. Sie haben nicht aufgehört, schädliche Strahlung abzugeben. Das ginge auch gar nicht. Die kontrollierte Kettenreaktion, auf der der Betrieb eines AKW beruht, setzt in einem fort Strahlung frei, deren nachteilige Wirkung auf den menschlichen Organismus eindeutig nachgewiesen ist. Sie dringt in gewisser Menge durch alle „Mäntel“ durch, mit denen ein Reaktorkern umgeben ist, gelangt ferner über das Kühlwasser und die Schornsteine in die Luft oder die Gewässer rundherum. Diese Strahlung wird auch ständig gemessen, ihre Existenz ist bekannt, aber sie interessiert nur mehr unter dem einen Gesichtspunkt: Ob sie sich innerhalb der vorgegebenen Grenzwerte bewegt. Die Festsetzung von Grenzwerten ist jedoch bereits der politische Beschluß, die dort arbeitenden oder lebenden Menschen schädlichen Substanzen auszusetzen. Es wird ein Wert festgesetzt, innerhalb dessen sie den Dreck einfach aushalten müssen. Und die Radikalität von Umweltschützern, die freundlicherweise manchmal den Menschen auch unter die gefährdeten Arten einreihen, besteht dann nur mehr darin, eine Herabsetzung der zulässigen Höchstdosis der diversen Gifte zu fordern – als ob halb so viel Dreck schon genauso gut wäre wie saubere Luft, Wasser usw.!

So kann man schließlich seinen Frieden mit den ungesunden Substanzen, die einem aufgenötigt werden, und mit dem Wirtschaftssystem, das sie hervorbringt, machen. Die ständige kleinweise Schädigung von Menschen ist dann gar kein Ärgernis mehr, das irgendjemand beseitigen möchte, sondern einfach ein Tribut an die moderne Zeit, an den technischen Fortschritt. Zur Untermauerung dieses Standpunktes werden dann so hochkarätige Argumente aufgefahren wie:

  • Die „natürliche“ Strahlung sei auch vorhanden und hätte auch nachgewiesen schädliche Wirkungen. Die AKWs tun da nicht mehr viel hinzu. (Wobei der Begriff „natürlich“ nichts anderes heißt als: Was wir seit Hiroshima oder schon vorher an Radioaktivität in die Erdatmosphäre gelassen haben, definieren wir jetzt als „natürlich“.)
  • Oder man beruft sich auf anders geartete Schadstoffe, wie Kohlendioxid oder Formaldehyd oder Dioxin, die ja auch nicht gerade gesund sind. Das wäre zwar nur ein Grund dafür, die Menschen nicht noch zusätzlich mit Alpha- bis Gamma-Strahlen zu belasten, aber es ist genau umgekehrt gemeint: Wenn sie das eine aushalten, kann ruhig noch ein Schäuferl zugelegt werden.

Die westeuropäischen Reaktoren gelten somit als sicher, ungeachtet der Tatsache, daß die im vorigen Jahr festgestellten 120 Risse am stillgelegten deutschen AKW Brunsbüttel Anlaß für eine Überprüfung aller bundesdeutschen AKWs waren. (Salzburger Nachrichten, 11.2. 1992) Dieses Phänomen der Risse an technisch sehr empfindlicher Stelle, das früher nur in AKWs des sowjetischen Typs aufgetreten ist, wurde in den letzten eineinhalb Jahren vermehrt auch an westeuropäischen AKWs festgestellt und soll laut Greenpeace ungefähr die Hälfte aller westeuropäischen AKWs betreffen. (Nach einer Greenpeace-Studie vom März 1993) Die Kritik der AKWs, wie sie von Greenpeace als den letzten, die noch in irgendeiner Form auf der Gefährlichkeit aller AKWs beharren, geäußert wird, hat ihren Mangel unter anderem darin, daß immer mit der Gefahr eines Unglücks, eines Störfalles, eines etwaigen GAUs operiert wird, die ganz normale Strahlung eines funktionierenden AKWs aber gar keiner Rede wert ist. Außerdem beinhaltet diese Kritik eine verkehrte Vorstellung davon, wie die europäischen Regierungen sich um die Gesundheit ihrer Untertanen sorgen: Sie betreuen nämlich die Volksgesundheit, was nicht mit der Absicht zu verwechseln ist, daß alle gesund sein oder werden sollen. Die Leute und ihre Gesundheit sind nämlich dafür da, um für „die Wirtschaft“ benützt zu werden. Daß sie bei der Arbeit, beim Konsum und in der Freizeit allen möglichen Giften ausgesetzt sind, läßt sich genau dann nicht vermeiden, wenn die Emission dieser Gifte als unabdingbare Notwendigkeit der Konkurrenzfähigkeit der einheimischen Industrie und Landwirtschaft festgesetzt worden ist. Also besteht dann die Gesundheitspolitik des Staates darin, den Schaden mit seinem Gesundheitswesen zu betreuen und mit Gesetzen zu beschränken. Diese Beschränkung durch Grenzwerte und Arbeitsschutzverordnungen heißt für die Betroffenen: Es sollen nicht zu viele draufgehen und die anderen sollen soweit „gesund“ bleiben, daß ihre Funktionalität für Arbeit und Fortpflanzung nicht grundlegend in Frage gestellt ist. Wenn sie dabei irgendwelche Wehwehchen haben, müssen sie sich halt „zusammenreißen“, Diät halten, nicht rauchen, usw. Auf die radioaktive Strahlung in AKW-Nähe bezogen heißt das: Die Zahl von Mißgeburten und Krebserkrankungen darf ein gewisses Maß nicht überschreiten. Diejenigen, die es trotzdem erwischt, waren dann eben besonders „anfällig“. Das sind die netten Nebenerscheinungen des Normalbetriebes eines sicheren AKWs.Auch die so definierte „Sicherheit“ hat natürlich ihren Preis: Durch Strahlung angegriffene Isolierungen, Ventile usw. müssen regelmäßig ausgetauscht werden, was erstens die Kosten und zweitens den anfallenden verstrahlten Müll erhöht. Da ein kapitalistischer Betreiber sehr wohl darauf bedacht ist, seine Kosten niedrig zu halten, so hat es ja auch im Westen jede Menge Störfälle in AKWs gegeben, um mit dem englischen Sellafield und dem amerikanischen Three Mile Island nur die bekanntesten zu nennen. „Störfall“ heißt: Es ist mehr als die gesetzlich erlaubte Normalmenge an Strahlung aus dem Reaktor entwichen und die Kettenreaktion drohte außer Kontrolle zu geraten. Daß es immer wieder zu – inzwischen nicht mehr an die große Glocke gehängten – „Störfällen“ in AKWs kommt, liegt wiederum an den Geschäftskalkulationen der Betreiber: Bei gewissen Schäden müßte das AKW abgeschaltet oder mit deutlich verringerter Leistung gefahren werden, um den Defekt zu beheben. Um die Verluste zu vermeiden, die ein solcher Schritt unweigerlich nach sich ziehen würde, wird eben die längste Zeit versucht, den Schaden auf andere Weise zu reparieren. Die Geschädigten dieser Praxis sind meistens die AKW-Angestellten, die sich mit Sonderprämien darüber hinwegtrösten dürfen, daß ihre Lebenserwartung unter dem Landesdurchschnitt liegt.Daß sich der bisher folgenschwerste Unfall dann im sowjetischen Tschernobyl ereignet hat, ist auch kein Wunder: Sparsamkeit in der Anwendung der Mittel war dort seit jeher ein Prinzip der sozialistischen „wirtschaftlichen Rechnungsführung“. Ein paar Jahre Perestrojka haben darüberhinaus die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Republiken und Betrieben kräftig gestört, was auf die Lieferung von Ersatzteilen und in Folge auf die Wartung von AKWs nicht ohne Folgen geblieben ist.

Die weitverbreitete Ansicht, sowjetische AKWs seien per se gefährlich, ist aus dem Tschernobyl-Unfall jedoch nicht abzuleiten, obwohl er immer zur Bebilderung herangezogen wird. Die Unfälle im Westen haben ja die Politiker auch nicht dazu veranlaßt, sofort alle AKWs dieses Typus stillegen zu lassen. Da hat man sich im Gegenteil darum bemüht, durch das Feststellen von „Versäumnissen“ und Gerichtsverfahren den Ausnahmecharakter eines solchen Unfalles herauszustreichen, also seine Notwendigkeit zu bestreiten.

In der Sowjetunion kam dieser Unfall hingegen goldrichtig, um das Vorurteil zu bestätigen, dort herrsche eine Mißwirtschaft, dieser Staat verfüge also über gar keine richtige Ökonomie, sondern über einen Sauhaufen, in dem nichts funktioniert. Daher seien auch die dortigen AKWs als tickende Zeitbomben zu betrachten, auch heute, wo in den GUS-Staaten niemand mehr etwas von Kommunismus wissen will.

Die wissenschaftliche Welt, das sei nur nebenbei angemerkt, war lange Zeit anderer Meinung: Noch 1983 wurde der Reaktor vom Tschernobyl-Typ in westdeutschen Atomfachzeitschriften als besonders sicher und wartungsfreundlich bezeichnet. Auch der Einsatz von Graphit als Moderator ist etwas, das einige westeuropäische Reakoren ebenfalls aufweisen. Im Fehlen eines Notkühlsystems unterscheidet sich der Tschernobyl-Reaktor von westlichen AKWs, wobei jedoch die Tauglichkeit, die dieses Notkühlsystem im Ernstfall – d.h., wenn die Kettenreaktion nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden kann – hätte, unter westlichen Experten stark in Zweifel gezogen wird.

II. Österreich und Temelín

1. Atomenergiefreie Moralwachtel Österreich

In Österreich ist die Lage ein bißchen anders als in denjenigen Staaten, die seinerzeit in großem Maßstab auf die Atomenergie gesetzt haben, wie die BRD, Frankreich oder die USA: Da hierzulande außer dem Forschungsreaktor in Seibersdorf keine Kernkraftwerke existieren, spielt sich die österreichische Regierung gegenüber anderen Staaten gern als Mahner und Warner vor der Gefährlichkeit der Atomkraft auf. Österreich ist auch kein Exporteur von AKW-Technologie (einige kleine Zulieferer deutscher Firmen ausgenommen), wie die BRD oder Frankreich, ist daher nicht ökonomisch interessiert am Ausbau der osteuropäischen AKWs. Die einheimischen Grünen und ihre Anhänger können sich ruhigen Gewissens der Regierung anschließen, sie womöglich noch überholen, wenn diese sich im Namen der österreichischen Volksgesundheit sehr frech in die Angelegenheiten anderer Staaten einmischt. Das oben in Bezug auf die BRD Festgestellte – westliche AKWs sind kein Thema mehr für Oppositionelle – gilt für Österreich jedoch auch: Als gefährlich gelten nur mehr die Atomkraftwerke Osteuropas. Wobei hier auch ein feiner Unterschied existiert zwischen grenznahen, die als „Gefahr“ besprochen werden und z.B. ukrainischen wie dem Reaktor von Tschernobyl, aus denen Österreich Strom importiert.

2. Freche Angriffe auf die Souveränität Tschechiens

Zunächst eine kurze Chronik des österreichischen Polit-Theaters mit dem Titel „Temelín“:

In einer Debatte des Nationalrates vom 22. 4. dieses Jahres wurde das Thema der „gefährlichen AKWs rund um Österreich“ eigens auf die Tagesordnung gesetzt. Dem Fernsehzuschauer, der an diesem Ereignis teilnehmen durfte, wurde ein Szenario dieser Gefahr frei ins Haus geliefert. Zu sehen war Österreich, umgeben von den folgenden AKWs: (dem noch gar nicht in Betrieb befindlichen) Temelín, ferner dem tschechischen Reaktor von Dukovany, dem slowakischen AKW in Bohunice und dem slowenischen AKW Krsko. (Aus unerfindlichen Gründen wurde das ungarische AKW in Paks weggelassen.) Die bayrischen und Schweizer AKWs waren auf diesem Bild nicht abgebildet.

Der Tonfall, in dem diese Debatte geführt wurde – Tenor: Welche Mittel muß man einsetzen, um den Nachbarstaaten ihre AKWs zu verunmöglichen? – hat den SPÖ-Abgeordneten Cap dazu veranlaßt, die versammelte Mannschaft daran zu erinnern, daß es sich bei Tschechien, Slowenien usw. immerhin um souveräne Staaten handelt, denen man das nicht so ohne weiteres anschaffen könnte, – um dann selbst auf der gleichen Schiene weiterzufahren: Wie muß man diese Regierungen dann beeinflussen, um sie doch noch herumzukriegen? Cap schlägt z.B. die Finanzierung von AKW-Gegnern in Tschechien vor.

Anläßlich des Beschlusses der tschechischen Regierung, Temelín fertigzubauen, haben diese diplomatischen Frechheiten noch zugenommen: Der Bundeskanzler beruft sich (wie sich später herausstellte, ein leere Drohung,) auf die Weltbank, als ob ein Anruf von ihm genügen würde, die Weltbank zu einer Finanzierungssperre Temelíns zu bewegen. Der oberösterreichische Landeshauptmann fordert eine Änderung des Völkerrechts, um sich besser einmischen zu können. Der grüne Abgeordnete Peter Pilz will den EG-Gerichtshof anrufen – ausgerechnet Pilz, der der EG sonst ja nicht so grün ist! – und „droht“ mit einem Volksbegehren, sollte die österreichische Regierung den Ausbau von Temelín nicht verhindern. (Standard, 20. 3. 93)

Was soll sie denn machen, die österreichische Regierung? Einmarschieren lassen, oder was? Für die FPÖ stellt der Beschluß der tschechischen Regierung, ihr eigenes AKW fertigbauen zu wollen, „eine Provokation dar“. (Salzburger Nachrichten, 11. 3. 1993) Der grüne Abgeordnete Anschober brüstet sich, Temelín genauso verhindern zu wollen wie Wackersdorf – als ob Wackersdorf ausgerechnet wegen Herrn Anschober oder den österreichischen Grünen nicht gebaut worden wäre!Diese ganzen Drohgebärden wirken angesichts des geringen Gewichts, das die Meinung österreichischer Politiker in der Welt hat, leicht lächerlich, und das ist einigen einheimischen Kommentatoren ja auch aufgefallen. Lächerlich daran ist, daß Österreich nicht über die Mittel verfügt, um seine Absichten durchzusetzen. Das Vorhaben, das in den oben zitierten Aussagen zur Sprache kommt, hats aber in sich: Einem Nachbarstaat wird da die Verfügung über sein Land und seine Leute, das also, was seine Souveränität ausmacht, bestritten. Der tschechische Staat darf nicht nur in der großen weiten Welt nichts, was ihm nicht ausdrücklich von den westlichen Industriestaaten erlaubt worden wäre, nein, auch bei sich zuhause soll er sich hübsch nach dem richten, was einer auswärtigen Regierung genehm ist.

Zur Verdeutlichung ein umgekehrtes Beispiel: Wenn die österreichische Regierung meint, beim Transit von EG-Lastern durch österreichische Täler würden Hoheitsrechte verletzt, so hat sie ein Bewußtsein davon, was es heißt, wenn ein Staat innerhalb seiner Grenzen fremde Interessen mitberücksichtigen muß. Wenn der zuständige Minister dann zähneknirschend die Zustimmung dafür gibt, daß die Brummer weiterhin durchfahren dürfen, so tut er das in dem Bewußtsein, daß die Interessen, die Österreich mit der EG verbinden, die Nachteile, die der Transit mit sich bringen mag, bei weitem überwiegen.Dieser latent immer vorhandene Gegensatz zwischen Staaten, die einander benützen wollen und dabei notwendigerweise auch schädigen – der Nutzen der einen geht halt meist nicht ohne Schaden für die anderen – ist gegenüber den Staaten des ehemaligen Ostblocks ein sehr einseitiges Verhältnis: Für den eher ideellen Lohn, daß sie jetzt auch in westlichen Gremien als Zaungäste sitzen dürfen, hin und wieder von deutschen und US-Präsidenten empfangen werden, müssen sie ebendort Exportbeschränkungen aller Art, Schubabkommen, Wiedergutmachungsforderungen, Umschuldungsabkommen usw. aushandeln, die dafür sorgen, daß ihre Zweitrangigkeit in der Staatenwelt festgeschrieben, sogar noch verstärkt wird.

Das österreichische Gezeter wegen Temelín ist ein Versuch, an diesem Diktat gegenüber der Staatenwelt Osteuropas teilzunehmen, es steht für die – noch? – nicht umsetzbaren imperialistischen Ansprüche Österreichs, die im Windschatten der BRD immer wieder erklingen und ein Ausdruck von Gewaltverhältnissen sind: Von denen, die bereits herrschen und von denen, die noch hergestellt werden sollen. Wer sich daher über Caps und Pilze lustig macht, möge bedenken, worüber er da eigentlich lacht – über einen gewaltträchtigen Anspruch nämlich, für dessen Durchsetzung er vielleicht einmal seine Haut zu Markte tragen muß.

3. Wir helfen ja so gern!

Bei so viel aufgeregtem Getöse darf natürlich die versöhnlich ausgestreckte Hand nicht fehlen, damit es nicht ganz so national-egoistisch aussieht: Der immer wieder aufgewärmte Vorschlag, Tschechien durch kostenlose Stromlieferungen vom Bau Temelíns abzubringen, stellt ein reines propagandistisches Ornament dar, dem jede reale Grundlage fehlt. Die österreichische E-Wirtschaft hat das in Person des Direktors Fremuth einmal dezidiert dementiert, danach war ihr dieser Vorschlag keiner weiteren Erwähnung wert.

Es wäre ja auch etwas ganz Neues, wenn im Kapitalismus auf einmal Waren hergeschenkt würden, die produziert worden sind, um mit Gewinn verkauft zu werden. Noch dazu in dieser Größenordnung: Die beiden ersten Blöcke Temelíns, die 1996 ans Netz gehen sollen, haben eine projektierte Leistung von 1000 Megawatt.

Das „Angebot“ ist aber, abgesehen von dem Unernst, mit dem es gemacht wurde, selber schon eine Frechheit: Hilfslieferungen, sozusagen Strom-Care-Pakete, will man den Tschechen schon schicken, wegen uns sollen sie nicht frieren im Winter, – aber die Berechnungen, die der tschechische Staat in Bezug auf seine Wirtschaft hat, kommen in diesem Angebot nicht vor. Er verfügt schließlich über eine ansehnliche Industrie, möchte Strom und mit Strom produzierte Güter exportieren, deswegen will er sein Kraftwerk bauen – genauso wie die österreichische Verbundgesellschaft auch! Wieso sollte der tschechische Staat sich also mit ein paar österreichischen Kilowatt abspeisen lassen?

Die EBRD-Bank, die Kredite für Umbau und Reparatur von osteuropäischen AKWs zur Verfügung stellt, soll von der österreichischen Regierung dahingehend beeinflußt werden, Tschechien zweckgebundene Kredite für den Umbau Temelíns in ein Gaskraftwerk zur Verfügung zu stellen. Womit einmal die Überlegung angesagt ist, was die tschechische Regierung eigentlich dazu veranlaßt hat, die Fertigstellung Temelíns zu beschließen.

III. Die Bedeutung Temelíns für Tschechien und die Gründe für seine Fertigstellung

1. Importabhängigkeit auf dem Energiesektor – ein Ärgernis

Energie ist zwar einerseits eine Ware wie jede andere: Sie wird hergestellt, um verkauft zu werden, der Hersteller will mit ihr ein Geschäft machen.

Nationalökonomisch betrachtet, unterscheidet sich die Energie jedoch von Strümpfen und Speiseeis, die unter gleichen Umständen das Licht der Welt erblicken, ziemlich erheblich: Sie stellt eine Grundlage der Wirtschaft eines Landes dar; bevor Wohnzimmer damit geheizt und PKWs in Betrieb genommen werden, mußten sie einmal selbst unter Verwendung von Strom und Brennstoff hergestellt werden. Die gesamte Industrie, Landwirtschaft und Infrastruktur eines Landes ist von der Zufuhr der notwendigen Energie abhängig. Wenn ein Staat wie die CSFR bzw. ihre Nachfolgestaaten mit dem Systemwechsel und der Auflösung des RGW ihre gesamte Energie-Einkaufs- und Lieferpolitik in Frage gestellt sieht, so ist eine Krise von größerer Tragweite zu konstatieren, als die einer defizitären Schuh- oder Elektronikindustrie. Die Energiefrage ist daher auch seit Jahren ein Dauerbrenner der tschechischen Innen- und Außenpolitik.

Die ehemalige CSFR hat im Rahmen der RGW-Verträge, die sie sehr genau eingehalten hat, große Mengen an fossilen Brennstoffen wie Erdgas und Erdöl aus der Sowjetunion bezogen, die sie inzwischen in Devisen bezahlen muß. Das einzige, was eine Kostenexplosion auf dem Energiesektor verhindert hat, ist der rasante Produktionsrückgang in der CSFR bzw. ihren Nachfolgestaaten, der den inländischen Energiebedarf stark verringert hat. Über die Bedeutung dieser Importe aus der SU legt die Drohung Vladimir Mečiars Mitte Mai Zeugnis ab, Tschechien den Ölhahn abzudrehen. Tschechien könne nur 10 Tage ohne die russischen Öllieferungen durchhalten. Das wurde von tschechischer Seite bestätigt.

Um den Devisenabfluß zu verringern bzw. sogar selbst Strom – eines der wenigen Produkte aus Osteuropa, bei denen von Importbeschränkungen bisher noch keine Rede war – als Devisenbringer exportieren zu können, ist ein Ausbau der Energieproduktion notwendig.

2. Die Energiequellen und ihre Tücken

Die Steinkohle aus Ostrau und die nordböhmischen Braunkohlekraftwerke können den Inlandsbedarf allein nicht decken, obwohl die Energie aus den kalorischen Kraftwerken immerhin zwei Drittel des gesamten Strombedarfs der ehemaligen CSFR deckte. Allerdings mit einem Wirkungsgrad, der ungefähr die Hälfte des österreichischen Dürnrohr beträgt und mit besonders hoher Umweltbelastung verbunden ist, da die Kraftwerke kaum über Filteranlagen verfügen. Außerdem wird die Braunkohle im Tagbau gewonnen, verschmutzt also noch einmal zusätzlich die Umgebung. Das alles wäre nicht weiter tragisch – auch die tschechische Regierung steht auf dem Standpunkt, daß Land und Leute zunächst einmal dazu da sind, um für die nationale Wirtschaft nützlich zu sein. Die Schadstoffemissionen haben aber anscheinend ein Ausmaß erreicht, die die Brauchbarkeit der dortigen Bewohner, vor allem der jüngeren Generation, ernsthaft in Frage stellt. Deswegen werden die Umweltbedingungen in Nordböhmen in letzter Zeit in regelmäßig von den tschechischen Politikern thematisiert.

Der Ausbau der Wasserkraft, deren Anteil derzeit verschwindend gering ist, würde unangenehme Folgen haben. Die ohnehin bereits sehr starke Verschmutzung der Gewässer und die daraus resultierende Belastung des Grundwassers, aus dem die meisten Bewohner Tschechiens ihr Trinkwasser beziehen, würde nämlich durch Aufstauen noch erhöht. Diese Variante der Stromerzeugung wurde daher in Tschechien nicht ins Auge gefaßt. (Nach einer Studie des Ökologie-Institutes aus dem Jahr 1990)

Der Umbau in ein Gaskraftwerk, den die österreichische Seite ihren Nachbarn so warm ans Herz legt, ist für Tschechien uninteressant, weil es die Abhängigkeit von Gasimporten und den dadurch bedingten Devisenabfluß erhöhen würde, den die tschechische Regierung ja gerade vermeiden will.

Denn die Atomenergie hat demgegenüber gerade den Vorteil, daß die Kosten für den Energie-Rohstoff – die Uran-Brennstäbe – relativ gering im Vergleich zu der daraus gewonnenen Energie sind, ihr Import also verhältnismäßig wenig Devisen verschlingt, während die Kosten für Wartung und Ersatzteile, so die Berechnung, sich vornehmlich in tschechischen Kronen niederschlagen. (Die Skoda-Werke in Plzen stellen unter anderem auch AKW-Technologie her.) In diesem Sinne hat Václav Klaus auch die Entscheidung für den Ausbau Temelíns begründet. (Hospodarské Noviny, 10. 2. 1993)

Diese Überlegung ist für einen Weichwährungsstaat besonders wichtig und dürfte auch andere osteuropäische Staaten zum Ausbau oder zumindest zur Beibehaltung ihrer AKWs bewegen. Tschechien tritt ja auf den Weltmarkt nicht als Käufer, dessen Geld anstandslos von jedem ausländischen Betrieb als Zahlungsmittel angenommen würde – wie der US-Dollar oder auch der belgische Franc. Tschechien hat eine Währung, die außerhalb des Landes keiner will, mit der es daher auch nichts kaufen kann. Was der tschechische Staat oder auch ein tschechischer Betrieb aus dem Ausland beziehen will, muß mit Devisen bezahlt werden, die aber erhält er nur, wenn er vorher etwas verkauft, was auf einem westlichen Markt nachgefragt wird und was ein ausländischer Staat überhaupt einmal auf seinen Markt läßt. Gerade letzteres stellt heute das Haupthindernis für tschechischen Export dar. Die Schwierigkeit des Devisenerwerbs nötigt daher den Politikern Tschechiens Überlegungen über die Beschränkung von Devisen-Einkäufen auf.

3. Atomkraft hui, Braunkohle pfui

Bei ihrem Entschluß, die Atomkraft auszubauen, lassen sich die tschechischen Politiker allerdings nicht nur von ökonomischen Überlegungen leiten.

Sie geben erstens dem Atomstrom den Vorrang vor heimischen Energieträgern. Der überzeugteste Temelín-Gegner in Tschechien ist der Zentralbetriebsrat der nordböhmischen Kohlekraftwerke, Jan Prokeš, der wiederholt darauf hingewiesen hat, daß für die Kosten, die der Ausbau Temelíns verursacht, diese Kraftwerke – die allein 40% des Strombedarfes Tschechiens produzieren – auf den neuesten umwelttechnischen Standard gebracht werden könnten. Zusätzlich könnte durch Umbau auch ihre Leistung beträchtlich gesteigert werden.(Salzburger Nachrichten, 30. 10. 1992) Die Gegenargumente der Temelín-Befürworter, unter ihnen Václav Klaus, sind denen westlicher Atom-Lobbyisten kongenial: Einwände gegen die Atomenergie seien irrational, beruhten auf Ängsten und Desinformation, d.h., sie seien völlig unbegründet. Nach der Logik, daß das, was man nicht sieht oder riecht, auch nicht existiert, behaupten sie, der Atomstrom sei die sauberste und damit menschenfreundlichste Form der Energiegewinnung. (In diesem Sinne äußerte sich Václav Klaus vor Mittelschülern im mährischen Zlín und der tschechische Umweltminister František Benda bei einer Pressekonferenz in Prag, Salzburger Nachrichten, 20. 2. 1993) Sie winken mit dem Versprechen, mit der Inbetriebnahme von Temelín die kalorischen Kraftwerke und auch die Braunkohlegewinnung, also den durch Filter nicht verbesserbaren Abbau, in Nordböhmen einzustellen und damit die Lebensqualität der Bewohner von Most, Teplice und Umgebung zu verbessern. Sodaß die Umweltschützer in Nordböhmen, im Unterschied zu Prokeš, für die Inbetriebnahme Temelíns sind.

Die letzten Gründe, warum Klaus & Co. für Atomenergie und gegen die Braunkohle sind, lassen sich aus diesem Streit nicht ganz erschließen.

  • Mag sein, daß sie wirklich glauben, Radioaktivität sei weniger ungesund als Kohlenstaub.
  • Vielleicht befürchten sie, daß ihre Vorräte an Braunkohle bald erschöpft sein könnten.
  • Mag sein, daß die Optik eines AKWs ihren Vorstellungen von „Europa“ und „modern“ mehr entspricht, als brauner Kohlenstaub, der sie noch zu sehr an den untergegangenen Arbeiterstaat erinnert.

Tatsache ist jedenfalls, daß sie für Temelín bereit sind, ausländische Kredite aufzunehmen, die für die Modernisierung der kalorischen Kraftwerke nicht oder in geringerem Ausmaß benötigen würden. Was das oben angeführte Argument der Billigkeit der Brennstäbe ein wenig relativiert.

4. Mit Atomkraft in Richtung Europa

Der Ausbau von Temelín hat zweitens einen starken ideologischen Aspekt: Er steht für Václav Klaus’ Europapolitik und die Abkehr von den ehemaligen Bruderländern des RGW.Temelín, wie auch die restlichen tschechischen und slowakischen AKWs, wurde von der Sowjetunion gebaut. Das Abkommen zwischen der CSSR und der UdSSR betreffend Temelín wurde 1981 abgeschlossen. Es sah außer dem Bau auch die Lieferung der Brennstäbe und die Übernahme des radioaktiven Abfalls durch die UdSSR vor. Der Bau hat sich aus verschiedenen Gründen verzögert, der Unfall von Tschernobyl hatte schließlich einen Baustopp zur Folge. Der ganze Rohbau, die Kühltürme und der Druckkessel der Anlage stehen jedoch bereits seit geraumer Zeit.

Der Ausbau der Atomenergie in der CSFR wurde dann eine Zeitlang überhaupt in Frage gestellt. Erst mit dem Systemwechsel erwachte die Debatte um den Atomstrom zu neuem Leben. Dies jedoch sofort mit Blickrichtung Westen. Das Abkommen mit der UdSSR bzw. Rußland als deren Rechtsnachfolger wurde nie aufgekündigt. Unter Ignorieren dieses Abkommens beauftragte die tschechische Regierung die amerikanische Firma Westinghouse mit der Ausarbeitung der Pläne für ein automatisches Steuerungssystem, diese Firma verpflichtete sich auch zur Lieferung der Brennelemente. Das Ministerium für Atomenergie und das Außenministerium der Russischen Föderation haben wiederholt Schreiben an Behörden der Tschechischen Republik gerichtet, in denen an das immer noch gültige Abkommen erinnert wurde. Außerdem weist die russische Seite darauf hin, daß aus der Vermischung zweier verschiedener technologischer Systeme Probleme entstehen können, die bei einem AKW besonders bedenklich sind, vor allem, da die russischen Techniker überhaupt nicht zur Konsultation herangezogen worden sind.

Diese Schreiben sind von tschechischer Seite allesamt unbeantwortet geblieben. Die Regierung Tschechiens legt also Wert auf eine offensichtliche Brüskierung der Russischen Föderation, eines Wirtschaftspartners, mit dem man einfach so wenig wie möglich mehr zu tun haben will. (Diese Haltung zeigt sich übrigens auch an anderen Projekten Tschechiens, wie der Neuausstattung der Prager U-Bahn, von der das russische Anbot mit fadenscheinigen Gründen von Anfang an ausgeschlossen wurde.) Als offizielle Begründung gilt immer der Verweis auf die Gefährlichkeit russischer AKWs mit Berufung auf Tschernobyl. Demgegenüber weist die russische Seite darauf hin, daß Temelín ein völlig anderer Reaktortyp (sog. Druckwasserreaktor) ist als der „Unglücksreaktor“ von Tschernobyl (sog. graphitmoderierter Druckröhrenuranreaktor), dessen restliche Blöcke, daran sei erinnert, noch immer in Betrieb sind. [Komsomol’skaja Pravda (Russische Tageszeitung), 16. 3. 1993. Alle Informationen über die russische Sichtweise bezüglich Temelín aus dem in dieser Nummer erschienenen Artikel „»Koffer«-Stimmung. Wie Rußland von den osteuropäischen Märkten verdrängt wird.“]

Auch die Versicherung, das Engagement mit Westinghouse würde den Sicherheitsstandard wesentlich verbessern, zieht eben nur bei jemandem, der sowieso meint „The West is the best“, und der von den immanenten Risikofaktoren der Atomenergie nichts wissen will. Übrigens weist das Österreichische Ökologieinstitut darauf hin, daß es in den letzten 2 Jahren zu drei größeren Störfällen bei Westinghouse-Reaktoren in den USA gekommen ist. (Salzburger Nachrichten, 10. 3. 1993)Ungeklärt ist in diesen Verhandlungen mit Westinghouse die Frage der atomaren Abfälle. In Dukovany, wo das zweite AKW Tschechiens steht, soll ein Zwischenlager eingerichtet werden. Die dortigen Behörden haben bereits Widerstand angekündigt, sie wollen nicht zum atomaren Abfallkübel des Landes werden.

Die Slowakei, die ihre Beziehungen zu Rußland nicht so radikal kappen will wie Tschechien, verhandelt mit Rußland über die Lagerung des bei den slowakischen AKWs anfallenden Atommülls. Angeblich ist nur noch die Frage des Transits durch die Ukraine zu regeln. (Presse, 24. 2. 1993) Von Tschechien sind keinerlei Schritte in diese Richtung geplant, wie aus der Behandlung der russischen Einwände klar hervorgeht. In einer offiziellen Aufstellung der tschechischen Elekrizitätsgesellschaft ČEZ über die projektierten Kosten Temelíns werden die Kosten für die Entsorgung ausdrücklich in $ angeführt. (Hospodarské Noviny, 3. 3. 1993)

Die französische Firma Cogema, die die Wiederaufbereitungsanlage in La Hague betreibt, liegt der tschechischen Regierung bzw. ihren Vorgängern seit geraumer Zeit in den Ohren, doch sie mit der Entsorgung zu betrauen.Diese ganze Episode wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stellung, die Tschechien zwischen Ost und West einnehmen will. Durch Ausbau der Geschäftsbeziehungen mit dem Westen um jeden Preis, also auch, wenn die tschechische Seite nur draufzahlt; durch Auflösung möglichst aller Beziehungen zu den ehemaligen Partnerstaaten (hier geht es ausgewogener zu: beide Seiten haben dabei einen Schaden), soll der Beweis geliefert werden, daß Tschechien einfach zum Westen gehört. Klaus und seine Mannschaft meinen offenbar, die internationale Staatengemeinschaft sei so etwas wie eine höhere Schule, in der man eine Reihe von Prüfungen ablegen muß, um zur Universität zugelassen, d.h., in die Reihen der westlichen Industriestaaten aufgenommen zu werden. Durch eine Reihe von Aktionen, die mehrheitlich gegen die Wirtschaft Tschechiens bzw. was davon noch übrig ist, ausschlagen, wollen die Politiker dieses Landes ihre Botmäßigkeit demonstrieren, in der durch nichts zu erschütternden Hoffnung, daß dieses Sich-Andienen von westlicher Seite irgendwann einmal belohnt werden muß.

Der Haken an dieser ständigen Demonstration ist, daß sie nicht so recht die angestrebten Konsequenzen zeitigt. Die protektionistischen Maßnahmen gegenüber tschechischen Produkten nehmen eher zu als ab. Investoren nutzen Tschechien, wenn überhaupt, als Billiglohnland mit großzügigen Steuer- und Umweltbedingungen, betrachten es also eher als eine Art Brasilien oder Taiwan. Die tschechische Krone hat, was Abwertungen betrifft, die Trennung bisher etwas besser überstanden als ihre slowakische Halbschwester, ist aber von Konvertibilität genausoweit entfernt wie diese. Die Produktion ist das 4. Jahr in Folge rückläufig. Und so weiter. Je mehr Tschechien sich bemüht, den Staub seiner realsozialistischen Vergangenheit von den Füßen zu schütteln und EG- und US-Politikern seiner vollsten Zustimmung zu allem, was diese gerade fordern, zu versichern, desto deutlicher wird ihm beschieden, daß Tschechien genauso ein zweitrangiger osteuropäischer Staat ist wie diejenigen, von denen es sich gerade distanzieren will. Kein westlicher Staat denkt daran, in die Kapitalisierung Tschechiens zu investieren, über die angestrebte Aufnahme in die NATO könne man im nächsten Jahrtausend reden … So wird Tschechien immer wieder von neuem darauf aufmerksam gemacht, daß sein Platz am Katzentisch der Nationen ist und nicht an der gedeckten Tafel.

Das erschüttert die tschechischen Politiker allerdings genausowenig wie das Auseinanderbrechen ihres vorigen Staates, das ja auch zu einem guten Teil diesem Programm geschuldet war: Für Klaus und seine Anhänger sind die erlittenen Abfuhren immer nur ein Beweis dafür, daß sie ihre Westorientierung noch nicht genug demonstriert hätten und sie daher mit vermehrter Anstrengung den bisher eingeschlagenen Weg fortsetzen müssen.

IV. Schließlich: Wem nützt das Ganze?

1. Den westlichen Banken

Die Finanzierung des Ausbaus von Temelín wird über Kredite abgewickelt. Die US-Regierung will die Vollendung des AKW mit einem Kredit über 300 Millionen $ stützen, falls der Auftrag dazu an Westinghouse ergeht. (Presse, 24. 2. 1993. ) (Die Firma Westinghouse beziffert die Kosten für ihre Dienste mit 125 Millionen $ für die Brennstäbe und 220 Millionen $ für das Kontrollsystem. – Hospodarské Noviny, 3. 3. 1993)

Der Kredit wird vermutlich, ebenso wie der für das slowakische Mohovce, mittels Stromlieferungen zurückgezahlt. (Standard, 13. 3. 1993) Damit stehen die ersten Nutznießer dieses Geschäftes fest: Es sind die westlichen Banken, die den Ausbau finanzieren, und die westlichen Stromimporteure, die den Temelín-Strom beziehen werden.

2. Den westlichen Abnehmern

Dazu kann durchaus auch Österreich gehören: Tschechien richtet sich, wie der Bau von Stromleitungen von Temelín nach Linz, von Slavetice nach Dürnrohr zeigt, auf Stromexport durch (oder nach?) Österreich ein. (SN, 19. 3. 1989) Es gibt schließlich keinen Grund, warum Österreich gerade aus der Ukraine (Atom-)Strom beziehen sollte und aus Tschechien nicht. Wenn von dort ein günstigeres Angebot vorliegen sollte …

3. Den Erzeugern von Atomtechnologie

Ein noch wichtigerer Kandidat auf Bereicherung ist die internationale Atomwirtschaft. Länder wie die BRD, die USA und Frankreich haben nicht nur einen guten Teil ihrer Energiegewinnung auf Atomstrom aufgebaut, sondern sich auch die entsprechende Industrie für die Produktion von AKWs zugelegt. Der Markt für ihre Produkte ist aber in den letzten Jahren erheblich geschrumpft, weil in dieser Zeit eine gewisse Ernüchterung in Sachen Atomenergie eingetreten ist. Nicht, wie es die Fama will, weil sie so schädlich ist, sondern weil sie zu teuer ist. Die bei AKWs anfallenden Kosten für Endlagerung und Wartung – auch nach der Stillegung auf Jahrzehnte hinaus notwendig – machen den Atomstrom kostspielig im Vergleich mit anderen Formen der Stromerzeugung. Die Zeiten der „Erpressung“ durch die OPEC-Staaten sind vorbei, der Ölpreis sinkt ständig und das Öl ist damit wieder zu einer echten Alternative zum Atomstrom geworden. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, daß die Staaten mit Atomkraftwerken keine neuen mehr bauen (mit Ausnahme Japans, das eben ein Ausbauprogramm entwirft), die anderen keinen Einstieg in die Atomenergie mehr ins Auge fassen. Der Markt für die Atomindustrie ist also derzeit ziemlich beschränkt auf die Wartung der vorhandenen Anlagen. Früher ließ sich noch hin und wieder einem Staat der Dritten Welt ein AKW aufschwatzen – auf den Philippinen steht z.B. eine AKW-Ruine, ebenfalls von der Firma Westinghouse erbaut, die aus Sicherheitsgründen seit Jahren abgeschaltet ist und dort das „Monster von Bantaam“ genannt wird. Es liefert nicht nur keinen Strom, sondern verschlingt große Summen für die Wartung.

Inzwischen ist aber die Zahlungsunfähigkeit der meisten Staaten der südlichen Hemisphäre zu einem echten Hindernis dieser Art von High-Tech-Export geworden.Hier bieten sich die friedlich eroberten Staaten Osteuropas als neuer ausbaufähiger Markt an. Die desolaten AKWs Osteuropas schreien quasi nach westlichen Sicherheitsstandards, andernfalls seien weitere Tschernobyl-Katastrophen zu befürchten – das ist das Bild, das in den westlichen Medien vermittelt wird. Man muß sich angesichts dieses Schreckensszenarios fragen, wie es die da drüben eigentlich zusammengebracht haben, überhaupt AKWs zu entwerfen, zu bauen und bis heute in Betrieb zu halten.

Als Berufungsinstanz für diesen Urteilsspruch gilt bis heute Tschernobyl mit seinen detailliert ausgemalten Folgen an der Bevölkerung Weißrußlands und der Ukraine, als Vorzeigebeispiel dient weiters gern das bulgarische Kosloduj oder die AKWs in diversen GUS-Staaten. Daß hier die Hauptursache nicht in der Technik selbst, sondern im wirtschaftlichen Niedergang dieser Staaten sowie im Abbruch der früheren Wirtschaftsbeziehungen, damit im Fehlen russischer Ersatzteile und russischen Know-Hows liegt, wird tunlichst unter den Teppich gekehrt, um die erwünschte Schlußfolgerung hervorzurufen: „Unsere Experten“ gehören da hin!

(Die österreichische E-Wirtschaft betreibt natürlich, was die Geschäftskalkulationen betrifft, Ähnliches, nur eben auf dem nicht-atomaren Energiesektor: So plant der niederösterreichische Energieversorger EVN die Errichtung eines Gaskraftwerkes in Südwestungarn, baut das Gasrohrnetz in Tjumen in Südrußland aus, und möchte Kraftwerke in Ungarn und in der Ex-CSFR kaufen. (Salzburger Nachrichten, 25. 4. 92) Die Verbundgesellschaft will am Fluß Waag (Váh) in der Slowakei eine ganze Kraftwerkskette bauen. (Presse, 7.6. 1993) Die ÖMV will sich an der slowakischen Raffinerie Slovnaft in Preßburg, nebenbei bemerkt einem besonderen Umweltverschmutzer, beteiligen. Auch im Einbau von Filtern und Verkauf von sonstigem Umweltschutz für kalorische Kraftwerke sind österreichische Firmen groß im Geschäft.)

Die Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) plant die Einrichtung eines Fonds’ für die Aufrüstung und Modernisierung der osteuropäischen AKWs. Bis 1995 sollen umgerechnet 820 Millionen Schilling eingezahlt werden, wobei der Löwenanteil von 4 Nationen kommen soll, die auch an Aufträgen für ihre Atomindustrie stark interessiert sind: Von Frankreich, Großbritannien, der BRD und Japan. (SN, 3. 3. 1993)

Westinghouse selbst macht kein Hehl daraus, daß es sich Nachfolgeaufträge in anderen osteuropäischen Staaten erwartet. Temelín könnte den Startschuß für diesen Ausbau der osteuropäischen AKWs bedeuten, die Bewohner Tschechiens (und auch der benachbarten Staaten) die Versuchskaninchen dafür, wie sich diese „Ehe“ zweier unterschiedlicher Atomtechnologie-Systeme anläßt.

4. In Tschechien – niemandem

Die weitere Marschrichtung ist klar: Der betroffene Staat, der sein AKW „sicher“ machen will, nimmt bei einer westlichen Bank einen Kredit auf, mit dessen Hilfe er die Umbauten durch eine westliche Firma und vielleicht die Entsorgung durch eine weitere westliche Firma bezahlt. Den Kredit bedient er mit dem Geld, das er für den Export des Stroms, der in diesem AKW hergestellt wird, bekommt. So machen die westlichen Banken und die westlichen Firmen ein gutes Geschäft, die billige Stromversorgung diverser vermutlich westlicher Abnehmer (=Devisenkäufer) ist auch gesichert. Für die Betreiber des AKWs kann nach der Befriedigung all dieser Forderungen logischerweise nicht mehr viel übrigbleiben.

Daß diese AKWs nachher „sicher“ im bereits besprochenen Sinne sind, steht außer Zweifel. Der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet sie sich befinden, braucht ja dann die Grenzwerte nur so festsetzen, daß sie über der Strahlenbelastung liegen, die in der Umgebung gemessen wird. Soweit reicht seine Souveränität allemal noch. Seine Bürger können auch zufrieden sein: Ihre Verstrahlung vollzieht sich in Übereinstimmung mit europäischen Sicherheitsstandards.

Die versprochene schrittweise Abschaltung der Braunkohlekraftwerke Nordböhmens ist vor diesem Hintergrund eher unwahrscheinlich. Ist Temelín einmal fertiggestellt und funktioniert auch im angestrebten Sinne, so muß der Strom möglichst exportiert werden. Die damit erwirtschafteten Devisen bedeuten Zugang zum Weltmarkt und einzig anerkannte Mittel für den Schuldendienst, auf sie kann daher nicht verzichtet werden. Sodaß der Inlandsbedarf wahrscheinlich so weit als möglich mit den herkömmlichen, noch nicht ans Ausland verpfändeten Ressourcen, eben der Kohle, bestritten werden wird …

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