Streifzüge, Heft 1/2001
März
2001

Totalität und Gesellschaftskritik

Einwände gegen eine die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zur Grundlage nehmende Gesellschaftstheorie gibt es viele. Sie stoßen sich an der Konzeption, die sich in Zeiten der funktionalistischen Einzel- und der auf Differenzierung pochenden kritischen Wissenschaften demgegenüber auf eine Theorie der Gesellschaft insistiert und dabei eine Kategorienlehre entfaltet, die in ihrer kritischen Stoßrichtung dem Funktionalismus unglaubwürdig vorkommt und den kritischen Wissenschaften unzeitgemäß, totalitär und zuweilen auch allzu negativ. „These critics“, schreibt Randy Martin zurecht, „focus on three problems: totality, the idea of a universal subject, and teleology. What links them to Marx is that he is accused of distorting these issues by reducing each to a simplistic formula. [… ] Ironically, however, it is the simplification or reduction of his thought by his critics that so often yields the problems identified as fatal to Marxist theory.“ [1] Diese Schlußfolgerung ist nur bedingt richtig: besieht man sich die Geschichte des sogenannten „westlichen“ Marxismus, so finden sich alle angeführten Momente. Es ist allerdings ein großes Mißverständnis, daraus zu folgern, daß marxistische Gesellschaftstheorie nach wie vor den positiven Grundlagen dieser 3 Begriffe nachhängen würde.

In neueren theoretischen Entwürfen nimmt von „Totalität“, „Metasubjekt“ und „Teleologie“ der erste Begriff eine entscheidende Stellung ein. Gerade er hat dabei eine bedeutende inhaltliche Veränderung erfahren. Es gilt nun im Verständnis der Kritiken bei allen drei Termini, daß sie normativ aufgeladen seien. Totalität beschreibe einen zu erreichenden, positiven Zustand; das revolutionäre Subjekt die dahin führende gesellschaftliche Macht; Teleologie die Bestimmung der Geschichte als Gesetzmäßigkeit. Totalität aber hat eine andere Bedeutung, die sich unmittelbar an der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie festmacht. In diesem Artikel wird versucht, den Wandel des Totalitätsbegriff im Marxismus historisch zu beleuchten und zu verdeutlichen. Seine Bedeutung in einer kritischen Gesellschaftstheorie wird vielfach nicht gesehen bzw. unterschätzt. Etwa wird von kritischen AutorInnen der viel konkretere, weil politische Begriff des Totalitarismus mit Totalität gleichgesetzt. Diese Zusammenführung scheint aber eher im Interesse einer medialen Neubesetzung des ersten Begriffs zu sein und tut dem zweiten nichts Gutes. Denn gesellschaftliche Totalität ist nicht auf eine verhältnismäßig banale Bestimmung zu bringen. Sie beschreibt eher einen ganzen Zeitrahmen und die darin stattfindende spezifische Vergesellschaftung denn eine konkrete politisch-ökonomische Formation.

Postmoderne Philosophie dagegen rieb sich am totalen, auch gerne totalitären Anspruch der marxistischen Theorie und propagierte demgegenüber mehrere Epistemologien, verschiedene Formationen von sozialphilosophischem Denken. Sie lief freilich damit Gefahr, gesamtgesellschaftliche Tendenzen per se aus den Augen zu verlieren und diese nicht mehr anerkennen zu wollen. Früher schon wurde der Totalitätsbegriff auch von marxistischen bzw. kritischen TheoretikerInnen kritisiert. Louis Althusser lehnte ihn mitsamt des sogenannten Hegelianischen Marxismus ab. Die ganze Idee einer gesellschaftlichen Totalität hielt er für idealistisch. Dagegen seien es verschiedene strukturelle Ebenen, die kapitalistische Gesellschaft konstituierten. Und beim Versuch, Habermas‘ Kommunikationstheorie zu retten, machte Sheila Benhabib eine Absage an den Marxismus als Erkenntnistheorie und deren Totalitätsanspruch und propagierte ihrerseits eine postmarxistische, radikale Politik.

Positive Totalität als normatives Ziel

Aber marxistische Theorie, die auf einer gesellschaftlichen Totalität als Kategorie insistiert, muß weder als Erkenntnistheorie im engeren Sinne verstanden werden, noch notwendig idealistisch oder normativ sein. Wenn Totalität all das einmal impliziert hat, so ist es hilfreich, sich die Entstehungsgeschichte des Begriffs im Marxismus anzusehen, um ein davon abgehendes Verständnis zu gewinnen bzw. hervorzuheben.

In der revolutionären Stimmung nach Ende des 1. Weltkrieges griff zuallererst Georg Lukács auf den im Idealismus geprägten Totalitätsbegriff zurück. Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ ist die entscheidende Schrift, mit der die seitdem wogende Debatte über das Verhältnis Marxismus und Philosophie, insbesondere der Hegelschen, einsetzte. Ohne Zweifel ist „Geschichte und Klassenbewußtsein“ ein über alle Maßen optimistisches Buch, und ohne Zweifel entbehrt es nicht gewisser Ironie, daß hier eine Verteidigung der bolschewistischen Revolution mit Mitteln gewagt wurde, deren Weiterführung im sogenannten „westlichen Marxismus“ später in stärkstem Kontrast zur politischen Realität des sowjetrussischen Projekts stand.

Lukács, der sich bis dahin als Literaturwissenschaftler einen Namen gemacht hatte, entdeckte Marx auf seine Weise neu: einerseits schied er explizit zwischen Marx‘ Betrachtung der Gesellschaft und Engels‘ Spätschriften zur Dialektik der Natur; andererseits bezog er die Marxschen Frühschriften direkt auf das Spätwerk, die „Kritik der politischen Ökonomie“. Das ermöglichte ihm zum einen die Aufwertung der gesellschaftlichen Betrachtung zu einem eigenen Wissenschaftsbereich (den Geisteswissenschaften) und deren strenge Abgrenzung von Naturwissenschaften. Bereits Vico betrachtete die Geschichte als einen vorrangig vor der Natur zu erkennenden Gegenstand, da sie von den Menschen selbst gemacht werde. Lukács verwies darauf, daß Marx im „Kapital“ auf diesen verum factum Grundsatz zurückgreift. [2] Dies reichte für ihn aus, Totalität einzig in der menschlichen Geschichte unter strenger Trennung von Natur zu verankern. In der Theorie auftretende Widersprüche wurden als Stärke und Bestätigung der Theorie selbst aufgefaßt, da in ihnen nur die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft reflektiert würde: Über einen in sich widersprüchlichen Gegenstand könne es keine dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit genügende Theorie geben.

Zum anderen ermöglichte es das Hinzuziehen der Marxschen Frühschriften, eine gewisse idealistische Haltung in das Konzept der Kritik der politischen Ökonomie zu bringen. Die methodische Bedeutung der Dialektik war zwar nicht von Lukács als erstem hervorgehoben worden, erhielt aber in seinem rein geisteswissenschaftlichen Verständnis eine neue Emphase. Dialektik war nicht nur das Bindeglied zwischen Hegelscher Philosophie und Marxscher Kritik, sondern viel fundamentaler das Movens der historischen, der „konkreten Totalität“: „Die Kategorie Totalität hebt also [… ] keineswegs ihre Momente zu einer unterschiedslosen Einheitlichkeit, zu einer Identität auf. Die Erscheinungsform ihrer Selbständigkeit, ihrer Eigengesetzlichkeit, die sie in der kapitalistischen Produktionsordnung besitzen, enthüllt sich nur insofern als bloßer Schein, daß sie in eine dialektisch-dynamische Beziehung zueinander geraten, daß sie als dialektisch-dynamische Momente eines – ebenfalls dialektisch-dynamischen – Ganzen begriffen werden.“ [3] Ein idealistischer Zug ist deshalb festzustellen, weil die historischen Bewegungen des Kapitalismus notwendig in eine geschichtliche Befreiung durch das revolutionäre Subjekt überführt werden. Revolutionäre Praxis als Ausgangspunkt genommen, war es Lukács darum zu tun, die Möglichkeiten dieser Praxis auszuloten und hervorzuheben. Der Begriff der Totalität beinhaltet in diesem Zusammenhang zwei wichtige Vorstellungen. Einerseits bezieht er sich nicht auf bestimmte historische Epochen, sondern umfaßt die gesamte geschichtliche Entwicklung des Menschen. Andererseits kann er insofern als normativ betrachtet werden, als die Geschichte notwendigerweise zur Befreiung des Menschen von den Zwängen des Kapitalismus und zur Verwirklichung einer positiven Totalität führen würde.

In Auseinandersetzung mit den Revisionisten um Bernstein und der II. Internationale verwarf er deren „bürgerlichen“ Mechanismus und ökonomischen Determinismus (ohne letzteren selbst ablegen zu können) und betonte statt dessen die stattfindende Objektivierung der Arbeiterklasse. Dieses Standpunktdenken macht den dritten wesentlichen Aspekt von Lukács‘ Totalitätsbegriff aus. Einen adäquaten Begriff von Gesellschaft könne sich erst das Proletariat machen. „Die Einheit von Theorie und Praxis ist also nur die andere Seite der geschichtlich-gesellschaftlichen Lage des Proletariats, daß von seinem Standpunkt Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Totalität zusammenfallen, daß es zugleich Subjekt und Objekt der eigenen Erkenntnis ist.“ [4] Kein geringer Teil des Buches ist in Folge der Unterscheidung zwischen dem „tatsächlichen psychologischen Bewußtseinszustand der Proletarier“ und dem „Klassenbewußtsein des Proletariats“ [5] gewidmet, um die Diskrepanz zwischen dem empirischen Agieren und dem eigentlichen, revolutionären Auftrag des Proletariats erklären zu können.

Zu problematisieren ist hier allerdings ein anderer, im Verlauf des Textes entscheidender Aspekt. Der Begriff der Totalität blieb in zweifacher Hinsicht unbefriedigend geklärt. Wie bereits dargestellt, handelte es sich bei Lukács um einen normativ aufgeladenen Terminus. Im Versuch eines dialektischen Zusammenschlusses der negativen und (überwiegend) normativen Aspekte seines Totalitätsbegriffs insistierte er auf einem Menschwerden. Für ihn war die Kritik der politischen Ökonomie eingebettet in ein umfassenderes System dialektischer Erkenntnis, das die eigentliche Menschwerdung der Menschen antizipieren und vorbereiten sollte. Es“[… ] eröffnet sich hier für das Proletariat die Perspektive auf das vollkommene Durchschauen der Verdinglichungsformen, indem es von der dialektisch klarsten Form [der unmittelbaren Beziehung von Arbeit und Kapital] ausgehend, die von dem Produktionsprozeß entfernteren Formen auf diese bezieht, und solcherart sie in die dialektische Totalität einbezieht und sie begreift.“ [6] Lukács machte die Marxsche Ökonomiekritik zum Ausgangspunkt des objektiven Erkenntnisprozesses des Proletariats. Die Erringung der positiven, konkreten Totalität stehe am Ende des dialektischen Ganges der Geschichte. Die schlechte Totalität der bürgerlichen Gesellschaft werde durch die revolutionäre Praxis des Proletariats gesprengt. Dessen notwendigerweise hervortretender privilegierter Erkenntnisstandpunkt befähige es dazu, subjektiv seine eigenen, objektiv aber die Interessen der Menschheit wahrzunehmen.

An bestimmten Stellen wurde von Lukács dafür sogar auf einen anthropologischen und problematischen Urzustand verwiesen, dem die verdinglichte Welt gegenüber gestellt wurde: „Die Trennung des Produzenten von seinen Produktionsmitteln, die Auflösung und Zersetzung aller urwüchsigen Produktionseinheiten usw. , alle ökonomisch-sozialen Voraussetzungen der Entstehung des modernen Kapitalismus wirken in dieser Richtung: rationell verdinglichte Beziehungen an Stelle der urwüchsigen, die menschlichen Verhältnisse unverhüllter zeigenden zu setzen.“ [7]

Die unmittelbare Ganzheit, das buchstäbliche Zusammenfallen von Produzenten und Produktionsmitteln, scheint hier die Utopie Lukács‘ zu sein. Es sind solche Passagen, die Jay folgendermaßen kommentieren kann: „As in the Homeric world [eine Anspielung auf Lukács‘ Romantheorie, Anm. d. Autoren], men would live lives of immediate formal and substantive wholeness. The normative totality to which men had so long aspired would be finally achieved.“ [8] Der von ihm propagierte gesellschaftliche Bewußtseinszustand der positiven Totalität jenseits des kapitalistischen Zwangsverhältnisses begründete Lukács‘ Befreiungstheorie. Der Fundierung des objektiven Erkenntnisinteresses der Arbeiterklasse in Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie entsprang jedoch ein dem normativen Charakter des Begriffs Totalität zuwiderlaufendes Moment. Die kategoriale Entfaltung warenförmiger Vergesellschaftung konstituiert selbst schon eine Totalität, die Lukács selbst kaum positiv oder als Endpunkt einer geschichtlichen Entwicklung aufgefaßt hätte.

Diesen von der intendierten Hauptlinie der Argumentation abweichenden Aspekt unterwarf Lukács aber der Gesamtkonzeption; das Dilemma der beiden Totalitätsbegriffe (des kapitalistischen, und des historisch-normativen) faßte er in eine eschatologisch überhöhte, geschichtlich notwendige Dialektik zusammen. Den Begriff Mensch als zentrale Kategorie verstand er historisch und dialektisch, „indem der Mensch selbst als gegenständliche Grundlage der geschichtlichen Dialektik, als das ihr zugrunde liegende identische Subjekt – Objekt den dialektischen Prozeß in entscheidender Weise mitmacht. D. h. [… ]: indem er zugleich ist und nicht ist.“ [9] Die Totalität der kapitalistischen Gesellschaft gelte es systematisch aufzudecken und in eine gute Totalität zu überführen. So „ist die entscheidende Waffe, die einzig wirksame Überlegenheit des Proletariats: seine Fähigkeit, die Totalität der Gesellschaft als konkrete, geschichtliche Totalität zu sehen; die verdinglichten Formen als Prozesse zwischen Menschen zu begreifen; den immanenten Sinn der Entwicklung, der in den Widersprüchen der abstrakten Daseinsform nur negativ zutage tritt, positiv ins Bewußtsein zu heben und in Praxis zu setzen.“ [10] Lukács versuchte die Kritik der politischen Ökonomie nach durchaus traditionellem Verständnis ihrer zentralen Begriffe (Arbeit, Wert) mit einem richtigen Menschwerden zusammenzudenken. Ihm schien die Marxsche Kritik eher ein theoretischer Gebrauchsgegenstand, mit dem sich die historischen Aufgaben des Proletariats und eine Mischung aus materialistischer und idealistischer Erkenntnistheorie legitimieren ließen. Seine Rückbesinnung auf den Totalitätsbegriff sollte gleichwohl erheblichen theoretischen Einfluß auf die weitere Konzeption der marxistisch geleiteten, gesellschaftskritischen Theorien haben.

Neben Lukács hatte vor allem Karl Korsch großen Anteil an der „Wiederentdeckung“ der philosophischen Aspekte der Marxschen Theorie – und damit auch an der Etablierung des Totalitätsbegriffes als einer der wichtigsten Kategorien marxistischer Gesellschaftskritik. Von strukturalistisch angehauchten Marxinterpreten werden Lukács und Korsch oftmals unterschiedslos als Vertreter einer hegelianischen, humanistischen Version marxistischen Holismus‘ betrachtet, und tatsächlich gab es zwischen deren theoretischen Anstrengungen unübersehbare Gemeinsamkeiten. Augenfällig war zunächst das beinahe gleichzeitige Erscheinen von Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ und Korschs „Marxismus und Philosophie“ im Jahre 1923. Darüber hinaus und weitaus relevanter ist jedoch, daß beide in ihren Arbeiten vom gleichen theoretischen Impuls ausgingen: der Wiederentdeckung des praktischen Aspektes der Marxschen Theorie. Auch in der Bestimmung der Ursache für den Verlust dieses praktischen Aspektes waren sich Lukács und Korsch einig. Als verantwortlich dafür sahen sie die Verdammung der Hegelschen Philosophie durch die Theoretiker der II. Internationale und die Reduzierung der Marxschen Theorie auf eine Lehre vermeintlich objektiver geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten, die quasi von selbst die Gesellschaft zum Sozialismus fortentwickeln würden. Gegen diese in politischem Quietismus resultierende Position setzten Lukács und Korsch ein anderes Verständnis der Marxschen Theorie. Für sie bestand der Kern des Marxismus in der Verbindung von kritischer Gesellschaftstheorie und revolutionärer Praxis des Proletariats.

Revolutionärer Historizismus

Hinter diesen Gemeinsamkeiten verbargen sich allerdings durchaus unterschiedliche Entwicklungen. Obwohl beide zunächst die Oktoberevolution unterstützt hatten, wandte sich Korsch alsbald vom kommunistischen Mainstream ab, während Lukács sich von den in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ vertretenen Gedanken distanzierte und reumütig die Kehrtwendungen der sowjetischen Politik akzeptierte. Korschs im Vergleich dazu kontinuierlichere politische Entwicklung war freilich von erheblichen theoretischen Transformationen begleitet. Nach „Marxismus und Philosophie“ vertrat er einen zunehmend „wissenschaftlichen“ und empiristischen Marxismus, der in den dreißiger Jahren durch eine stark antihegelianische Ausrichtung geprägt war. Dies war für die Rezeption seiner Arbeiten von nicht geringer Bedeutung, da sich sowohl der hegelianische als auch der antihegelianische Flügel des Marxismus positiv auf Korsch beziehen konnten.

Die Bedeutung des Totalitätsbegriffes in den Schriften Korschs ist keineswegs eindeutig. „Die ungeheure Bedeutung der theoretischen Leistung von Karl Marx für die Praxis des proletarischen Klassenkampfes“, so Korsch 1923, „besteht darin, daß er zum erstenmal den ganzen Inhalt jener den bürgerlichen Horizont überschreitenden neuen Anschauungen, die aus der gesellschaftlichen Lage der proletarischen Klasse heraus in dem Bewußtsein dieser Klasse mit Notwendigkeit entspringen, auch formell zu einer festen Einheit, zu der lebendigen Totalität eines wissenschaftlichen Systems zusammengefaßt hat.“ [11] An diesem Zitat sind zwei Punkte bemerkenswert. Erstens hatte Korsch, im Gegensatz zu Lukács, großes Vertrauen in die Wissenschaftlichkeit der Marxschen Theorie. Für ihn bestand zwischen Wissenschaft und Philosophie kein Widerspruch. Der Marxismus wurde nicht als simple Negation der Hegelschen Philosophie verstanden, sondern als deren Verwirklichung mittels der Vereinigung einer kritischen Wissenschaft mit der revolutionären Praxis des Proletariats. Zweitens findet sich hier ein Gedanke, der für „Marxismus und Philosophie“ von grundlegender Bedeutung ist: Die marxistische Wissenschaft sei mit Notwendigkeit aus dem proletarischen Bewußtsein aufgrund seiner sozialen Umstände entstanden; sie sei der theoretische Ausdruck des revolutionären Handelns der Klasse. Die Theorie folge der Praxis und sei notwendigerweise aus dieser hervorgegangen. Damit postulierte Korsch den klaren Vorrang der Praxis vor der Theorie. Die Theorie könne nichts anderes sein, als die im Denken auf den Begriff gebrachte Praxis einer historischen Epoche. Die verschiedenen Entwicklungsstufen der marxistischen Theorie wurden auf Grundlage dieser revolutionär-historizistischen Annahme in „Marxismus und Philosophie“ als Reflexionen der revolutionären Praxis des Proletariats verstanden.

Allerdings werden schon bei der Charakterisierung der ersten Entwicklungsphase des Marxismus, der Zeit vor den Revolten des Jahres 1848, die Mehrdeutigkeiten des Totalitätsbegriffes bei Korsch deutlich. In dieser Phase war die marxistische Theorie“[… ] trotz aller Absagen an die Philosophie eine mit philosophischem Denken durch und durch gesättigte Theorie der als lebendige Totalität gesehenen und begriffenen gesellschaftlichen Entwicklung, genauer: der als lebendige Totalität begriffenen und betätigten sozialen Revolution.“ [12] Die Theorie wird als Ausdruck einer „lebendigen Totalität“ bestimmt. Doch was ist diese „lebendige Totalität“? Ist es die Totalität der „gesellschaftlichen Entwicklung“, wie dies im ersten Teil des Zitats behauptet wird, oder ist es die „soziale Revolution“, die von Korsch als das revolutionäre Handeln des Proletariats verstanden wurde? Sind „gesellschaftliche Entwicklung“ und „soziale Revolution“ Synonyme? Zeiten einflußreichen und aktiv-revolutionären Handelns konnten von Korsch bestimmt werden: In ihnen sei das expressive Zentrum der Totalität die proletarische Praxis, die die gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Sozialismus vorantreibe. Wie kann das Zentrum aber in nicht-revolutionären Perioden gefaßt werden?

Durch die Einführung des Begriffes des „historischen Prozesses“, der „gesellschaftlichen Entwicklung“, lief Korsch Gefahr, das theoretische Bewußtsein auf ein Epiphänomen, auf die bloße Widerspiegelung eines extern ablaufenden Prozesses zu reduzieren. In „Marxismus und Philosophie“ widerstand er dieser Gefahr, indem er das Bewußtsein und dessen materielle Voraussetzungen nicht als zwei getrennt voneinander existierende Bereiche, sondern als zwei Teile einer einheitlichen Totalität begreift, die sich in fortwährender Interaktion und gegenseitiger Durchdringung entwickeln würden. Das Verhältnis von historischer Entwicklung und revolutionärem Bewußtsein blieb dabei aber unklar.

Bei Lukács findet sich eine andere Fassung dieses Verhältnisses. Durch die Unterscheidung zwischen dem tatsächlichen und dem Klassenbewußtsein wurde das Problem umgangen, die Theorie an die Beliebigkeiten der politischen Praxis zu binden. Lukács ging von der Möglichkeit des Auseinanderfallens von Theorie und Praxis aus und teilte nicht Korschs etwas naives Vertrauen auf die Koinzidenz beider. Allerdings ebnete er damit einer anderen, in der Realität viel größeren Gefahr den Weg: Der Ersetzung des Bewußtseins der Klasse durch das der Partei (als Hüterin des Klassenbewußtseins) deutete in der Theorie den Autoritarismus der Partei an, der in der Geschichte des Realsozialismus nur allzu offensichtlich wurde.

Mit und gegen Lukács

Eine starke Verschiebung in der Konzeption von Totalität läßt sich erstmals bei Max Horkheimer und dem Kreis der Intellektuellen rund um das „Institut für Sozialforschung“ feststellen. Das war sicherlich den historisch veränderten Bedingungen Anfang der dreißiger Jahre geschuldet, als Horkheimer als neuernannter Direktor des Instituts erstmals programmatisch tätig wurde. Statt des ungestümen Praxisaufrufs von Lukács und Korsch zeigte sich Horkheimer bescheiden: Von der theoretischen Ausrichtung her war zunächst entscheidend, die Einzelwissenschaften unter dem Dach der Sozialphilosophie zu vereinen. Dabei ist es interessant festzustellen, daß zunächst die Einzelwissenschaften einen sehr weiten Bereich zugestanden bekamen. Von der später geäußerten, massiven Positivismuskritik Horkheimers war in den ersten Schriften nichts zu bemerken, im Gegenteil: die erkenntnistheoretischen und logischen Überlegungen des Wiener Kreises etwa scheinen hier noch eine Möglichkeit zu sein, dem idealistischen Holismus eine fundierte Wissenschaftlichkeit gegenüberstellen zu können, ohne automatisch einem beschränkten Szientivismus verfallen zu müssen.

Nichts desto trotz blieb es Horkheimers Ziel, die Totalität der kapitalistischen Realität begrifflich zu fassen und in eine befreite Gesellschaft zu überführen. Die scharfe Wendung gegen den Positivismus war ein erstes Einschwenken gegen die eigene Idee von gemeinsamen Wissenschaften, wie sie Horkheimer noch in seiner Antrittsrede vertreten hatte. [13] Dialektik wurde nun stärker zum integrativen Moment einer die einzelnen gesellschaftlichen Phänomene aufgreifenden, materialistischen Sozialphilosophie. „Der zwiespältige Charakter des gesellschaftlichen Ganzen in seiner aktuellen Gestalt entwickelt sich bei den Subjekten des kritischen Verhaltens zum bewußten Widerspruch“, schrieb Horkheimer, eindeutig an Lukács anschließend. Und weiter „erfahren sie, daß die Gesellschaft außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen zu vergleichen ist, weil die auf Kampf und Unterdrückung beruhenden Kulturformen keine Zeugnisse eines einheitlichen, selbstbewußten Willens sind: diese Welt ist nicht die ihre, sondern die des Kapitals.“ [14] Totalität hatte hier immer noch den normativen Impuls, der Lukács einst dazu führte, den Begriff zentral zu setzen. Freilich: die neueren, eher apokalyptischen historischen Erfahrungen machten aus dem Proletariat die vagen „Subjekte des kritischen Verhaltens“, und rückten die Frage in den Vordergrund, wie eine Totalität im Sinne dieser Subjekte eigentlich aussehen sollte.

Dazu war sich Horkheimer des Umstands bewußt, daß Lukács‘ Geschichtsphilosophie nicht mehr zu halten war. „Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmtheit nicht“ [15] – ein eher von Benjamins Geschichtsphilosophie beeinflußter Satz. Die von Lukács betriebene Vermengung idealistischer und materialistischer Motive war Horkheimer suspekt. Stattdessen versuchte er jenseits idealistischer Philosophie eine Bestimmung materialistischer Theorie. „Gehen bei der idealistischen Philosophie die Zeitalter auf die Selbstoffenbarung eines geistigen Wesens zurück [… ], so versucht die materialistische Richtung über dieses metaphysische Element durch die Aufdeckung der ökonomischen Dynamik [… ] hinauszugelangen. Sie will die Umformungen der menschlichen Natur im Laufe der Geschichte aus der jeweils verschiedenen Gestalt des materiellen Lebensprozesses der Gesellschaft begreifen.“ [16] Das führte aber konsequent von der ökonomisch determinierten Seinsbestimmung des Proletariats fort zu einer kritischen Position gegenüber der modernen Gesellschaft und ihren Erscheinungen insgesamt.

Die bei Lukács gefundenen Ansätze zur Rationalitäts- und Verdinglichungskritik fanden in den zahlreichen Artikeln Horkheimers der dreißiger und vierziger Jahre in gewisser Weise ihre Ausformulierung und Fortführung. Doch zugleich wich der Grundtenor bei Horkheimer immer mehr von dem in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ entfalteten ab. Psychologie, für die Lukács im besten Fall Geringschätzung übrig hatte, wurde als wesentlicher Bestandteil der Theorie vom Menschen, als die sich die programmatisch ausgerufene Kritische Theorie immer noch verstand, angesehen. Die Beschäftigung mit zeitgenössischer Psychologie führte zu empirischen Untersuchungen, in denen das Ausmaß an Autoritätshörigkeit unter jenen verdeutlicht wurde, die einstmals das revolutionäre Subjekt ausmachen sollten. „Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis.“ [17] Die Abwendung vom Proletariat korrelierte mit Horkheimers Skepsis vor vermeintlichen Metasubjekten der Geschichte, denen gegenüber er – in Anlehnung an Nietzsche und Schopenhauer – die Leiden des Individuums hervorzustreichen pflegte. „Auch soweit die bisherigen Formen menschlichen Zusammenlebens jeweils die Existenz der Gesamtheit und den kulturellen Fortschritt bedingten, hatten unzählige Individuen je nach ihrer Stellung in diesem Ganzen dessen Entfaltung mit einem für sie selbst sinnlosen Elend und dem Tod zu bezahlen.“ [18]

So verlor der Begriff der Totalität seine normativen Spitzen. Trotzdem blieb im Denken Horkheimers das Insistieren auf einem – zugleich unerreichbaren – umfassend positiven Zustand bestehen. Das wird im Nachhinein gern als Pessimismus und als rein utopisches Hoffen jenseits des Bestehenden interpretiert. Genauso gut ließe sich freilich sagen, daß einerseits in Horkheimers Schriften die realitätsfernen Aspekte des Begriffs durch konsequente Auseinandersetzung ausgeräumt wurden, andererseits aber eine positive Totalität als utopischer Fluchtpunkt seiner Theorie bestehen blieb. Eine gewisse Konsequenz in seinem Denken ist also ausgeblieben.

Das falsche Ganze

Es war vor allem Theodor W. Adorno, der dem Totalitätsbegriff jene spezifische Wendung verlieh, an der sich heutige Gesellschaftskritik orientieren müßte. Im selben Jahr, in dem Horkheimer die Institutsleitung übernahm und seine Vorstellung interdisziplinärer Sozialforschung präsentierte, hielt Adorno seine Antrittsvorlesung mit dem Titel „Die Aktualität der Philosophie“. In ihr finden sich sowohl einige Elemente, die Adornos theoretische Arbeit bis hin zur „Negativen Dialektik“ in den sechziger Jahren charakterisieren sollten, als auch Passagen, in denen die Unterschiede zu Horkheimers theoretischer Konzeption (zumindest der dreißiger Jahre) deutlich werden.

Einleitend strich Adorno hervor, daß zeitgenössische Philosophie“[… ] von Anbeginn auf die Illusion verzichten [müsse], mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu begreifen.“ Keine Vernunft könne sich in einer Wirklichkeit wiederfinden,“[… ] deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch auf Vernunft niederschlägt.“ [19] Implizit kritisierte Adorno das von Horkheimer vorgestellte Arbeitsprogramm des Instituts, das eine von der Philosophie angeleitete Forschung auf einzelwissenschaftlicher Basis anpeilte. Wissenschaft und Philosophie, so Adorno, seien zwei grundlegend unvereinbare Erkenntnisweisen, da“[… ] die Einzelwissenschaft ihre Befunde, jedenfalls ihre letzten und tiefsten Befunde als unauflöslich und in sich ruhend hinnimmt, während Philosophie den ersten Befund bereits, der ihr begegnet, als Zeichen auffaßt, das zu enträtseln ihr obliegt. Schlicht gesagt: die Idee der Wissenschaft ist Forschung, die der Philosophie Deutung.“ [20] Im Gegensatz zu Lukács und Korsch bestritt Adorno jeder Theorie die Möglichkeit, das gesellschaftliche Ganze zu erkennen, denn eine derartige Erkenntnis der Totalität zu beanspruchen, hieße, dem Theoretiker jene transzendentale Subjektivität zuzusprechen, die der Idealismus seinen Systemen zugrunde gelegt hatte. Ebensowenig folgte Adorno der sowohl von Lukács, in noch viel stärkeren Maße aber von Korsch propagierten Verbindung von Theorie und Praxis. Die Probleme der Theorie könnten nicht auf die Praxis einer Klasse – und sei es des Proletariats – zurückgeführt werden,“[… ] denn der Wahrheitsgehalt eines Problems ist von den historischen und psychologischen Bedingungen, aus welchen es erwächst, prinzipiell verschieden.“ [21]

Von Beginn an bildete die Ablehnung eines normativen Totalitätsbegriffes á la Lukács eines der wesentlichen Elemente der theoretischen Bemühungen Adornos – eine Ablehnung, die sich bis in die sechziger Jahre hin weiter verschärfte. Unter dem Eindruck der Vernichtung der europäischen Juden sowie der Entwicklung der realsozialistischen Staaten fand der Einfluß Walter Benjamins, im speziellen dessen Thesen über Geschichtsphilosophie, in den Texten Adornos deutlichen Niederschlag.“[… ] Gesellschaftstheorie ist nur insoweit Lehre von den Beziehungen der Menschen, wie sie auch die Lehre von der Unmenschlichkeit ihrer Beziehungen ist.“ [22] Geschichte konnte von ihm nicht als jene sinnvolle und zu einem guten Ende führende Veranstaltung betrachtet werden, als die der von revolutionären Hoffnungen geprägte Lukács sie noch verklärte. Keinesfalls konnte es mehr darum gehen, eine bereits bestehende, durch die kapitalistische Produktionsweise allenfalls verdeckte, positive Totalität zu verwirklichen. Um die gesellschaftlichen Verhältnisse tatsächlich zu revolutionieren, ginge es darum, das“[… ] Kontinuum der Geschichte aufzusprengen [… ].“ [23] Im Gegensatz zu vielen Kritikern des „Hegelmarxismus“ verwarf Adorno aber nicht den Begriff der Totalität als solchen, sondern dessen positive Implikationen. Als Begriff, der auf die Kritik der gesellschaftlichen Realität in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften abzielt, kommt ihm große Bedeutung zu. „Totalität ist keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie.“ [24] Während nach dem Niedergang des Idealismus der Begriff der „Totalität“ als spekulativ verfemt wurde, habe sich die Gesellschaft in der Realität in bisher nicht gekanntem Ausmaß zu dem gewalttätigen und destruktiven System entwickelt, das von der idealistischen Philosophie rationalisiert und zum Reich der Freiheit verklärt worden war. „Was in der Theorie als eitel sich überführte, ward ironisch von der Praxis bestätigt. [… ] Die Realität soll nicht mehr konstruiert werden, weil sie allzu gründlich zu konstruieren wäre.“ [25] Die gesellschaftliche Totalität reproduziert sich auf Basis der Funktionen, die die von ihr abhängigen Mitglieder der Gesellschaft zu erfüllen haben. „Generell muß jeder Einzelne, um sein Leben zu fristen, eine Funktion auf sich nehmen und wird gelehrt, zu danken, solange er eine hat.“ [26]

Entgegen der Mannigfaltigkeit der empirischen Erscheinungen, die gerade heutzutage in der wissenschaftlichen Diskussion als Feier eines uneingeschränkten „Individualismus“ sich niederschlägt, ist die Gesellschaft“[… ] vorweg und vor aller Abstraktion und Generalisierung durch den Soziologen eine höchst ‚artikulierte‘ Einheit [… ], welche eben jene Mannigfaltigkeit in jedem einzelnen Zuge bestimmt, nämlich die Einheit des kapitalistischen Systems.“ [27] Der zentrale Begriff bei Adorno ist der des Tausches. „In dessen universalem Vollzug, nicht erst in der wissenschaftlichen Reflexion, wird objektiv abstrahiert; wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom Bedürfnis, das der gesellschaftliche Mechanismus beiher, als Sekundäres befriedigt. [… ] Die Abstraktheit des Tauschwerts geht vor aller besonderen sozialen Schichtung mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder zusammen. [… ] In der Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen. [… ] Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, daß alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem ‚Profitmotiv‘ geleitet werden oder nicht.“ [28]

Die Bestimmung der Totalität verwies auf die Marxsche Ökonomiekritik, wurde von Adorno aber nur mangelhaft geleistet. Die Rede von der Einheit des kapitalistischen Systems blieb unterbestimmt, da zwar gelegentlich von Tauschwert und Warentausch gesprochen wurde, ein ernsthafter Rückbezug dieser Begriffe auf die grundlegenden Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie – Ware, Wert, Geld, Kapital – jedoch unterblieb.

Die Entwicklung von Lukács zu Adorno erweist sich somit als durchaus zwiespältig. Lukács „Geschichte und Klassenbewußtsein“ stellte im Vergleich zu den von ihm kritisierten Theoretikern der II. Internationale in mancherlei Hinsicht einen Fortschritt dar, indem er sich auf den mit dem Kapitalismus einher gehenden Prozeß der Rationalisierung der Gesellschaft und dessen gesellschaftliche Grundlagen konzentrierte. „By characterizing capitalist society in terms of the rationalization of all spheres of life, and grounding those processes in the commodity form of social relations, he implicitly points to a conception of capitalism that is deeper and broader than that of a system of exploitation based on private property.“ [29] Allerdings waren diese vielversprechenden Perspektiven in eine als materialistisch verstandene Umdeutung der Hegelschen Geschichtsphilosophie eingebettet. War bei Hegel der Geist das Subjekt-Objekt der Geschichte, das die (Selbst-) Entfremdung überwinde, so nahm bei Lukács das Proletariat diese Rolle ein. Die von der Arbeiterklasse gebildete Totalität war der Standpunkt der Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.“[… ] Lukács identifies the proletariat in ‚materialized‘ Hegelian terms as the identical subject-object of the historical process, as the historical Subject, constituting the social world and itself through its labor. By overthrowing the capitalist order, this historical Subject would realize itself.“ [30]

Bei Adorno hingegen bezog sich der Begriff der Totalität nicht auf den gesamten historischen Prozeß, der mittels der Aktion des Proletariats (oder der Partei) zu einem guten Ende finden würde, sondern bezeichnete die schlechte, zu kritisierende Gegenwart. Dementsprechend ging es Adorno bei der Überwindung des Kapitalverhältnisses nicht um die ungehinderte Realisierung der Totalität, sondern schlicht und ergreifend um deren Abschaffung. „Dialektische Kritik möchte retten oder herstellen helfen, was der Totalität nicht gehorcht, was ihr widersteht oder was, als Potential einer noch nicht seienden Individuation, erst sich bildet. [… ] Nichts sozial Faktisches, das nicht seinen Stellenwert in jener Totalität hätte. Sie ist allen einzelnen Subjekten vorgeordnet, weil diese auch in sich selbst ihrer constrainte gehorchen und noch in ihrer monadologischen Konstitution, und erst recht durch diese, die Totalität vorstellen. [… ] Eine befreite Menschheit wäre länger nicht Totalität [… ].“ [31]

Adorno hat einer fundamentalen Kritik des falschen Ganzen warenförmiger Vergesellschaftung das Feld geöffnet. Doch obwohl der Totalitätsbegriff bei ihm eine bestimmte historische Epoche zu denunzieren suchte, blieb dessen gesellschaftstheoretische Fundierung aufgrund des oftmals konzedierten ökonomiekritischen Defizits unpräzise: Das Kapitalverhältnis geht im Begriff des Tausches nicht auf. Weil der Kapitalbegriff für Adorno wenn überhaupt, so nur eine untergeordnete Rolle spielte, blieb die Bestimmung der Totalität mangelhaft. Was die Kritik bestimmt zu negieren beabsichtigte, müßte zuallererst in einer Art und Weise bestimmt werden, die sich als historisch hinreichend präzise erweist. Im Zuge der (Wieder-) Aneignung der Marxschen Ökonomiekritik durch so unterschiedliche TheoretikerInnen wie Hans-Georg Backhaus, Moishe Postone, Nadja Rakowitz oder Michael Heinrich wurden die Grundlagen dafür erarbeitet, eine Kritik der kapitalistischen Totalität zu formulieren, die es ermöglicht, weder schlechte Geschichtsphilosophie in der Tradition Lukács‘ weiterzuführen, noch sich der Realitätsverweigerung „postmoderner“ Theorien hinzugeben, die die begriffliche Dekonstruktion der Totalität chronisch mit deren Abschaffung verwechseln.

[1Randy Martin: Rereading Marx: A Critique of Recent Criticisms, in: Science and Society 62, 1998/99, S. 514

[2Die Stelle scheint relativ unbedeutend für den methodischen Duktus der Kritik der politischen Ökonomie und befindet sich in: Das Kapital, Band 1, S. 392

[3Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, London 1923, S. 26

[4Ebd.: S. 34 f.

[5Ebd.: S. 86

[6Ebd., S. 202f.

[7Ebd.: S. 102 f.

[8Martin Jay: Marxism and Totality. Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, Berkeley 1984, S. 111

[9Lukács, a.a.O.: S. 207. Hervorgehoben im Original

[10Ebd.: S. 226

[11Karl Korsch: Die Marxsche Dialektik (1923), in: Ders.: Marxismus und Philosophie. Herausgegeben und eingeleitet von Erich Gerlach, Frankfurt/Main 1966, S. 165

[12Korsch: Marxismus und Philosophie, in: Ebd., S. 99

[13Vgl. Hans-Joachim Dahms: Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, Frankfurt/Main 1994, S. 69 ff.

[14Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders. : Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 181

[15Horkheimer: Autoritärer Staat, in: Dubiel/Söllner (Hg. ): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1984, S. 78

[16Horkheimer: Autorität und Familie, in: Ders. : Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 340

[17Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, a.a.O., S. 187

[18Horkheimer: Autorität und Familie, a.a.O., S. 344

[19Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie (1931), in: Ders. : Gesammelte Schriften 1, Frankfurt/Main 1997, S. 326

[20Ebd., S. 334

[21Ebd., S. 337

[22Adorno: Neue wertfreie Soziologie. Aus Anlaß von Karl Mannheims „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus“ (1937), in: Ders. : Vermischte Schriften II. Gesammelte Schriften 20.1, Frankfurt/Main 1997, S. 29

[23Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen, in: Ders. : Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse, Frankfurt/Main 1965, S. 90

[24Adorno: Einleitung zum „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969), in: Ders.: Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften 8, Frankfurt/Main 1997, S. 292

[25Adorno: Negative Dialektik (1966), Frankfurt/Main 1994, S. 34

[26Adorno: Gesellschaft (1965), in: Ders.: Soziologische Schriften 1, a.a.O., S. 10

[27Adorno: Neue wertfreie Soziologie, a.a.O., S. 17

[28Adorno: Gesellschaft, a.a.O., S. 13f.

[29Moishe Postone: Time, labor and social domination. A reinterpretation of Marx´s critical theory, Cambridge 1996, S. 73

[30Ebd.

[31Adorno: Einleitung zum „Positivismusstreit“, a.a.O., S. 292

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