Internationale Situationniste, Numéro 10
 
1977

Über die Entfremdung

Untersuchung mehrerer konkreter Aspekte

Die kolonisierte Kommunikation

1965 ist in den Vereinigten Staaten eine neue Technik erstellt worden, die es den Leuten erlauben soll, einander zu begegnen und zu heiraten. Durch eine elektronische Rechenanlage wird die maximale Harmonie zwischen zwei durch Lochkarten vertretene Individuen bestimmt, auf denen deren Geschmacksrichtungen und Verlangen durch ihre Antworten auf 70 Fragen vollständig definiert werden. Darüber Le Monde vom 25.11.65: „So hat sich im Laufe der Jahre eine Tendenz behauptet, die so unabänderlich wie unaufhaltsam ist: die Rechenmaschinen sind dazu berufen, alles machen zu können … Sie werden im Unterrichtswesen eingeführt, um sie fest in der Rolle von Hilfslehrer anzustellen. Man lässt sie an der Ausarbeitung militärischer bzw. Handels‚strategien‘ teilnehmen. Mit einer Beharrlichkeit, die letztlich fruchtbar sein sollte, wird von ihnen verlangt, perfekte Dolmetscher zu werden. Jeder und jede, die auf der Suche nach dem Anderen ist, braucht nur eine Karte auszufüllen, die dann aussagt, wer er ist und wonach er sich sehnt. Es genügt dann, den Locher eingreifen zu lassen, um Angebot und Nachfrage in eine Serie von sinnvollen Löchern auf einer Karte umzuwandeln. Nachdem die Marktlage, wenn man so sagen darf, damit festgesetzt worden ist, bleibt nur noch die systematische Erforschung des Marktes, um das zu entdecken, was die Wünsche eines jeden befriedigen soll — was selbstverständlich um so besser geschieht, je breiter der Markt ist … Im vorliegenden Fall kostet das Experiment nicht viel Geld — nur 3 Dollar. In weniger als 3 Monaten haben mehr als 7.000 Studenten der Colleges und Universitäten Neu-Englands die Sorge für ihre persönliche Zukunft bzw. ihre Freizeit einem Rechenautomaten anvertraut … Gibt es keine Rechenautomaten, die ‚in der wirklichen Zeit‘ arbeiten und dem Lauf der Ereignisse folgen können, in dem Maße, wie diese stattfinden? Warum nicht diese Idee in die Organisation von Begegnungen mit den besten Erfolgschancen übertragen?“.

Die Gesellschaft, die das maximale an Trennung zwischen den Menschen und ihrer Trägheit, sowie zwischen den Menschen selbst verwirklicht hat, teilt ihnen einseitig die Bilder ihrer eigenen Welt wieder in der Form einer von der ökonomischen-staatlichen Macht monopolisierten Information zu. Indem diese Gesellschaft zu einer neuen Entwicklungsstufe der Unterwerfung unter und der Angleichung an ihre fortschreitende Maschinerie gelangt, träumt sie davon, über die Herstellung der Information als Ersatz für die beraubte Wirklichkeit hinauszugehen — jetzt kommt es für sie darauf an, die positive Herstellung der Wirklichkeit der individuellen Existenz als der Ausführung der vorhandenen Information auszuprobieren. Individuen sollen es akzeptieren, sich in sich selbst und in ihrer Beziehung zum Anderen gemäß einem zwangsläufigen, für frei und objektiv gehaltenen Schlüssel zu erkennen. Aber die Programmierer mussten selbst programmiert werden. Die Kriterien ihrer für Begegnungen angefertigten Fragebögen sind dieselben gesellschaftlichen Kriterien, die überall die Trennung erzeugt haben. Wenn jeder nach dem anderen sucht, um in dieser Beziehung die Veräußerlichung seiner eigenen Wirklichkeit zu entdecken, sichert das Schutzmittel der elektronischen Berechnung die reziproke Entdeckung derselben Lüge.

Die systematische Enteignung der intersubjektiven Kommunikation, die Kolonisation des alltäglichen Lebens durch eine autoritäre Vermittlung ist kein notwendiges Resultat der technischen Entwicklung. Im Gegenteil macht es gerade dieses Selbständigwerden der sozialen Macht notwendig, dass jede mögliche Technik sich in ihre besonderen Zwecke der Selbstregulierung des Bestehenden fügt. Seit Jahrzehnten werden in allen Ländern Radiosender und -empfänger durch eine absolute Rechtskontrolle zum Schweigen gebracht, die einen ständig offenen Dialog aus jeder Entfernung ermöglichen würden. Ihre Benutzer, die schon durch dieses aufgezwungene Schweigen selektiert werden, dürfen nur Botschaften über ihre Technik, die Witterungsverhältnisse oder SOS für irgendeine Überlebensmöglichkeit austauschen. Diese Technik der Kommunikation an der Basis wird selbstverständlich wegen des möglichen Reichtums ihrer subversiven Verwendung verboten.

Kulturelle und polizeiliche Freiheit

Wer sagt, dass der Urbanismus polizeilich ist, und dass in der Zeit des konzentrierten Kapitalismus der Polizist gern zum Urbanisten wird, tut weiter nichts, als an eine offensichtliche Tatsache zu erinnern. Der wichtige Bereich des Freizeitkonsums steht in enger und nicht so oft beleuchteter Beziehung zu diesen beiden Spezialgebieten. 1965 hat die Polizei in Frankreich „28 Freizeitzentren“ für die Jugend während der Sommerferien eröffnet, die sonst durch die Langeweile zur Kriminalität hätte kommen können; „14 davon werden von der CRS und 14 von der jeweiligen Stadtpolizei kontrolliert und sie haben insgesamt mehr als 5.000 Jugendliche vereinnahmt, was anscheinend nur der Anfang ist“ (Le Monde, 2.9.65). Der Verfasser dieses Artikels fügt hinzu, dass die CRS von nun an „ihre Rolle als eine Kraft zur Aufrechterhaltung der Ordnung bagatellisieren will … Die Bildung der Freizeitzentren für die Jugend war diesen Sommer so etwas wie eine Public-relation-Operation, eine Art Entmystifizierung des herkömmlichen Bildes des Polizisten.“ Man darf es nicht versäumen, nebenbei die vollständige, durch seine lange soziologische Modezeit vorbereitete Umkehrung des Wortes „Entmystifizierung“ zu bewundern. Von nun an ist also die Mystifizierung das gekünstelte, barocke, utopische, unverständliche — um alles zu sagen: situationistische — Bild eines Polizisten, der als Mitglied von Kräften zur Aufrechterhaltung der Ordnung tätig sein könnte. Einem entmystifizierten Bewusstsein wird ein Polizist als das erscheinen, was er im wesentlichen ist: ein Spaßmacher, ein Psychologe und ein Humanist. Ebenso „sollte man in den Polizeirevieren Empfangsdamen einstellen, um die Leute zu empfangen und ihnen Auskunft zu geben. Dieser revolutionäre Vorschlag wurde gestern von den Polizisten selbst gemacht, anlässlich einer Pressekonferenz des ‚Intersyndikalkomitees der Polizei und der Nationalen Sicherheit‘ … Denn das Intersyndikalkomitee möchte die Beziehungen zwischen Polizei und Öffentlichkeit menschlicher machen …“ (France-Soir, 12.6.65). Und in Liaisons, dem Informationsbulletin der Polizeipräfektur, wird im Editorial der Nummer 97 (6.9.65) darauf hingewiesen, dass „die Polizei sich seit frühesten Zeiten mit der Stadt identifiziert hat“, und daher wird ihre umfangreiche Aufgabe dann wie folgt beschrieben: „Außer unter bestimmten außerordentlichen Umständen, in denen das Zusammenhalten der Nation zu einer instinktiven Antwort auf ein als widrig erscheinendes Schicksal wird, erweist sich die Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft als schwierig. Jede Gruppe neigt dazu, sich in sich selbst abzuschließen, sich so sehr gemäß den eigenen Sorgen, Bestrebungen und Sprache zu verhalten, dass es manchmal passieren kann, dass dasselbe Wort für jeden Bewohner einen besonderen Sinn hat. Der Einzelne öffnet sich denen nicht immer spontan, die nicht unmittelbar an seinen Sorgen teilhaben und er neigt manchmal dazu, sich mit denen zu identifizieren, die diese Sorgen mitempfinden, woraus ein buntscheckiges System einer teilweisen, weil auf eines der Elemente des Ich beschränkten, Solidarität entsteht. Von da an wird der Kontakt im philosophischen Sinne sehr schwierig und das, was ein Dialog sein sollte, ist oft nur das Nebeneinander zweier Monologe. Die Polizei sollte diese teilweise Solidarität berücksichtigen …“ Diese Suche nach einer polizeilichen Transparenz, einer Sprache des kybernetischen Geständnisses und einer spontanen, über alle wirklichen, sozialen Trennungen stehenden Solidarität kann ihre Schlussfolgerungen nach einer höchst konkreten Perspektive richten: „Zivilisation heißt sicherlich materielle Planung, aber auch moralische Begriffe, Sicherheit und Ordnung. Man kann also nicht die Entwicklung des Urbanismus betrachten, ohne gleichzeitig die Mittel zu berücksichtigen, die der Polizei zur Verfügung gestellt werden müssen, damit sie einer schwerer gewordenen Verantwortung nachkommen kann. Sagen wir es noch einmal: man kann sich mit dem schon Vorhandenen nicht zufriedengeben, man muss das ins Auge fassen, was sein wird — und diese Zukunft ist schon bekannt“.

In dieser schon bekannten Zukunft, die also bloß die räumliche Erweiterung der bestehenden Ordnung ist, verfügen also die Superpolizisten über die ihrer schwerer gewordenen Verantwortung angemessenen Mittel. Laut ihrer AFP-Depesche aus New York (1.12.65) „wurde gestern in New York eine besondere Fernsehkamera vorgestellt. Sie kann dank einem Heliumlaser, der einen ultraroten Strahl projiziert, auch in vollständiger Dunkelheit filmen. Dieser Apparat kann von der Polizei zu Überwachungsoperationen und zu wissenschaftlichen Zwecken gebraucht werden.“ Wenn die wissenschaftliche Entwicklung aber ihre erste Anwendung bei der Polizei findet, weitet sich die Rolle der Polizei von einer rein unterdrückenden bis zu der der vorbeugenden Integrierung immer mehr aus. Hier ist das Spezialkorps der soziologischen Sicherheit kampfbereit. Wie kann man die atomisierte und fernsehbesessene Menge in den Trabantensiedlungen des neuen Urbanismus zu diesem „Kontakt im philosophischen Sinne“ führen, von dem die Polizei sich die schwierige Ausrottung jedes „besonderen Sinns“ verspricht? Das ist die Rolle der Kultur, dieser neuen Richtware in der Zeit des Freizeitkonsums. Der französische Staat übernimmt dieses Produkt in Selbstverwaltung und das Kaufhaus, in dem es zur Schau getragen wird, wird „Haus der Kultur“ genannt, gerade die Epoche, die die größte kulturelle Leere geschaffen hat, muss das Museum ins alltägliche Leben einführen, um darin dieselbe Leere tautologisch auszuschmücken. Im Juni 1965 wurde ein „Kolloquium von Trabantensiedlungssozialarbeitern“, wie es sich gehört, in Sarcelles abgehalten. Das Journal Officiel vom 30. November hat den Erlass veröffentlicht, der „Kunstberater und Delegierte der künstlerischen Schöpfung“ einsetzt, die in so vielen „regionalen Handlungsbezirken“ verteilt werden kann.

Durch das Spektakel wird nur die allgemeine Entwertung zur Schau gestellt: das Gold der alten Kritik wird rekuperiert, in Blei verwandelt und jeder mögliche Wert ist im Weltall des Spektakels unsichtbar. Seine „Sozialarbeiter“ sind so komisch, dass wir uns flohgelaunt von der alten Kulturwelt trennen können, einer bloßen Fassade für die Manipulatoren einer Licht- und Tonshow, die die ganze gesellschaftliche Oberfläche mit derselben gekünstelten Armut beleuchtet. In Bourges, einer Stadt, die wegen ihres ersten vielversprechenden Experimentalergebnisses — „63.000 Einwohner — 63.000 Zuschauer in 8 Monaten“ (!) nach der Schlagzeile von France-Soir vom 15.11.64 — von der Presse „die Hauptstadt der kulturellen Freizeit“ genannt wird, erklärte de Gaulle bei seinem Besuch am 15.Mai 1965: Die Kultur ist in unserer modernen Welt nicht nur ein Zufluchtsort und ein Trost mitten in einer hauptsächlich mechanischen, materialistischen und übereiligen Zeit. Sie ist auch die Bedingung unserer Zivilisation. Da sie immer vom Geist beherrscht wird, wie modern sie auch sein mag und wie moderner sie auch werden wird …"

Oft scheint der Geist sich vergessen, sich verloren zu haben; aber innerlich sich entgegengesetzt, ist er innerliches Fortarbeiten — wie Hamlet vom Geiste seines Vaters sagt: „Brav gearbeitet, wackrer Maulwurf!“ — bis er, in sich erstarkt, jetzt die Erdrinde, die ihn von der Sonne, seinem Begriffe, schied, abstößt, dass sie zusammenfällt.

(Hegel).

Die Rolle von Godard

Godard vertritt zur Zeit in der Filmkunst die formale Pseudofreiheit und die Pseudokritik der Gewohnheiten und der Werte — d.h. die beiden untrennbaren Manifestationen jeden Ersatzes für die rekuperierte moderne Kunst. So bemüht sich jeder darum, ihn als einen verkannten Künstler vorzustellen, der durch seine Kühnheit Anstoss erregt und zu Unrecht unbeliebt ist, und jeder lobt ihn, von der Illustrierten Elle bis zum schwachsinnigen Trottel Aragon. Damit wird trotz der kritischen Leere, der Godard gegenübersteht, eine Art Ersatz für die berühmte Theorie des zunehmenden Widerstands im sozialistischen Regime entwickelt. Je mehr Godard als der geniale Führer der modernen Kunst begrüßt wird, desto eiliger wird er gegen unglaubliche Verschwörungen in Schutz genommen. Bei Godard wirkt die Wiederholung derselben Plumpheiten wie durch ein Postulat verwirrend. Sie geht über jeden Versuch einer Erklärung hinaus; sogar seine Bewunderer müssen in einer Verwirrung, die aus der des Autors folgt, eine Auswahl treffen, da sie in ihr den sich selbst immer gleichen Ausdruck einer Subjektivität erkennen. Was ganz und gar stimmt — nur befindet sich diese Subjektivität auf der landläufigen Ebene eines von den Massenmedien informierten Pförtners. Godards „Kritik“ geht nie über den integrierten Witz des Kabaretts bzw. der Zeitschrift MAD hinaus. Seine zur Schau gestellte Kultur deckt sich mit der seines Publikums, das gerade dieselben Seiten in denselben, in den Bahnhofskiosken verkauften Taschenbücher gelesen hat. Die beiden bekanntesten Verse aus dem am meisten gelesenen Gedicht des überschätztesten spanischen Dichters („Oh, dieses schreckliche 5 Uhr abends!“ — „Das Blut, ich will es nicht sehen!“ im Film Pierrot le Fou) — das ist der Schlüssel zu Godards Methode. Der bekannteste Renegat der revolutionären Kunst, Aragon, hat in den Lettres Francaises vom 9. September 1965 seinem jüngeren Kollegen eine Huldigung dargebracht, die von einem solchen Fachmann vortrefflich passt: „Die heutige Kunst, das ist Jean-Luc Godard … eine übermenschliche Schönheit … eine fortwährende hohe Schönheit … Godards einziger Vorgänger war Lautréamont … dieses geniale Kind …“ Auch die Naivsten können sich nach solchen Zeugnissen nur mit Mühe täuschen.

Godard ist ein Schweizer aus Lausanne, der die Schweizer aus Genf um ihren Schick und darüberhinaus die Champs-Elysées beneidet hat und das Provinzlerische dieses Aufstiegs ist das beste Merkmal seines erzieherischen Wertes in dem Augenblick, wo davon die Rede ist, viele arme Leute ehrfurchtsvoll zur Kultur — „wie modern diese auch sein mag“ — zu geleiten. Wir sprechen hier nicht von dem schließlich konformistischen Gebrauch einer Kunst, die bahnbrechend und kritisch sein möchte. Wir weisen auf den unmittelbar konformistischen Gebrauch der Filmkunst durch Godard hin.

Gewiss haben der Film oder auch das Chanson an sich eine Konditionierungsmacht über den Zuschauer — eine Schönheit, wenn man will, über die diejenigen verfügen, die zur Zeit zu Wort kommen dürfen. Bis zu einem gewissen Punkt können sie diese Macht geschickt gebrauchen. Es ist aber für die allgemeinen Verhältnisse unserer Epoche kennzeichnend, dass ihre Geschicklichkeit so beschränkt ist, dass die trügerischen Grenzen ihres Spiels sehr schnell durch ihre grobe Verbindung mit den herrschenden Gewohnheiten an den Tag gebracht werden. Godard ist das für den Film, was Lefebvre oder Morin in der Kritik der Gesellschaft sein können: er besitzt den Schein einer bestimmten Freiheit in seiner Rede — in dem Fall ein Minimum an Ungeniertheit gegenüber den staubigen Dogmen der Filmerzählung.

Aber diese Freiheit selbst haben sie anderswoher entnommen — und zwar aus dem, was sie von den fortgeschrittenen Experimenten der Epoche begreifen konnten. Sie sind der „Club Mediterranée“ des modernen Denkens (siehe weiter unter Die Verpackung der Freizeit). Sie benutzen eine Karikatur der Freiheit als absetzbaren Schund anstatt der authentischen Freiheit. Das wird überall praktiziert — auch mit der Freiheit des formalen künstlerischen Ausdrucks als einem einfachen Sektor des allgemeinen Problems der Pseudokommunikation. Die „kritische“ Kunst eines Godard und dessen bewundernde Kritiker bemühen sich alle darum, die aktuellen Probleme einer Kritik der Kunst zu verdecken, das wirkliche Experiment, um es mit der S.I. zu sagen, einer „ihre eigene Kritik enthaltende Kommunikation“. In letzter Konsequenz ist es die gegenwärtige Funktion des „Godarsimus“, den situationistischen Ausdruck im Film zu verhindern.

Seit einiger Zeit entwickelt Aragon seine Collage-Theorie der ganzen modernen Kunst bis zu Godard. Sie ist nichts anderes als ein Interpretationsversuch der Zweckentfremdung mit dem Zweck der Rekuperierung für die herrschende Kultur. Zugunsten einer eventuellen „togliattistischen“ Variante des französischen Stalinismus befürworten Garaudy und Aragon einen „uferlosen“ Kunstmodernismus, so wie sie mit den Pfaffen „von der Verdammung zum Dialog“ übergehen. Godard kann sich zu ihrem Kunstteilhardismus entwickeln. Eigentlich ist die in der Auflösung der bildenden Künste von den Kubisten bekannt gemachte Collagetechnik nur ein besonderer Fall — ein zerstörendes Moment — der Zweckentfremdung: sie stellt die Verlagerung dar. Die Untreue des Elements. Die Zweckentfremdung, die ursprünglich von Lautréamont formuliert wurde, ist eine Rückkehr zu einer höheren Treue des Elements. In allen Fällen wird die Zweckentfremdung durch die Dialektik Entwertung — Aufwertung des Elements in der Bewegung einer vereinheitlichenden Bedeutung beherrscht. Aber die Collage des einfach entwerteten Elements wurde weit und breit angewandt, bevor sie sich im modernistischen Snobismus des zweckentfremdeten Gegenstandes (z.B. das zur Gewürzdose gemachte Schröpfglas) zur pop-art-Doktrin konstituiert.

Diese Anpassung an die Entwertung wird jetzt auf eine Methode des kombinatorischen Gebrauchs neutraler und endlos austauschbarer Elemente erweitert. Godard ist ein besonders langweiliges Beispiel für einen solchen Gebrauch — ohne Negation, Behauptung und Qualität.

Auflösung und Rekuperierung

Die Auflösung der Werte und Formen der alten einseitigen Kunstkommunikation — in den bildenden Künsten wie in allen Aspekten des Sprache — begleitet das, was man undeutlich die „Kommunikationskrise“ in der Gesellschaft nennt und was gleichzeitig die monopolisierte Konzentration der einseitigen Kommunikation (deren bloßer technischer Ausdruck die Massenmedien sind) und die Auflösung aller gemeinsamen und mitteilbaren Werte ist. Diese Auflösung wird durch den Vernichtungskrieg erzeugt, der auf dem ökonomischen Gebiet durch den gegen den Gebrauchswert gerichteten Tauschwert erkämpft wurde.

Der revolutionäre Sinn, der die ganze wirkliche moderne Kunst beherrscht hat (und dessen Verlust dieser modernen Kunst ein qualitatives Ende setzt) kann nicht verstanden werden außerhalb einer Perspektive des Kampfes gegen die herrschenden Verhältnisse, d.h. außerhalb des Projekts einer neuen Kommunikation. Die Opfer der verschiedenen Mystifizierungen dieses Projektes — vom Neo-Dadaismus zum Stalino-Sartrismus — erkennen insgesamt die Originalität und die Wiederholung in der modernen geistigen Produktion an, da sie diese nur äußerlich sehen; es fällt ihnen die Verwandtschaft mit der Familie auf. Diese Familie ist aber soviel wie die der Atriden wert. Wenn z.B. Pérec, der Konsument der „Dinge“, in Partisans, der Zeitschrift des „offenen Stalinismus“, schreibt, dass „die Krise der Sprache eine Verweigerung der Wirklichkeit ist“, ignoriert er die Wirklichkeit der Verweigerung. Diese „Verweigerung der Wirklichkeit“, die er sich platt in der Form eines die Wirklichkeit ablehnenden Künstlers vorstellt, hat einen ganz anderen Sinn und zwar die Ablehnung des Künstlers durch die Wirklichkeit, die Röntgenaufnahme einer Verweigerung, die durch die sozial hergestellte „Wirklichkeit“ den Tendenzen des wirklichen Lebens entgegengesetzt wird. Ist in der modernen Kunst „das Unaussprechliche ein Wert und das Unsagbare ein Dogma“ (Pérec), so geschieht das, weil es sich um eine Weit handelt, in der man nichts sagen darf. Diese empörte Feststellung der modernen Kunst wird ohne Empörung und sogar mit Bewunderung durch die Neo-Literatur von Robbe-Grillet und Konsorten wiederaufgenommen. Das ist nur ein Zeichen von vielen anderen des verallgemeinerten Verzichts der kritischen Intelligenz, den der Zusammenbruch der revolutionären Bewegung in den 20er Jahren nach sich zog. So entledigt sich Sartre so gut er kann vor dem Kongress der „Europäischen Schriftstellergemeinschaft“ im Oktober 1965 in Rom des für ihn allzu komplizierten Problems der kulturellen Avantgarde, indem er behauptet, diese sei nur in einem entkolonisierten Land denkbar. Und während einer — selbstverständlich schon an der Wurzel gefälschten — „Konfrontation“ zwischen Gläubigen und Ungläubigen bei der „17. Woche der katholischen Intellektuellen“ (die den „Wochen“ des angeblich marxistischen „Denkens“ des roten Pfaffen Garaudy sehr nahe stehen), die u.a. P.H. Chombart de Lauwe, Ricoeur, Philonenko und Balandier um einen Jesuiten zusammenbrachte, „waren sich alle darin einig anzuerkennen, dass die Geisteswissenschaften im Gegensatz zu dem, was im letzten Jahrhundert geschehen ist, gegenüber dem religiösen Phänomen ihre Grenzen entdeckt haben“ (Le Monde vom 16.3.65).

Die industrielle Rekuperierung der künstlerischen Neo-Auflösung wird aber schon in größter Breite organisiert. Indem die „op-art“ unmittelbar in die Dekoration und die Bekleidung überging, bringt sie den Augenblick zum Ausdruck, in dem die Kunst, die nur noch eine Mode war, direkt zur Kunst der Mode wird. In Elle vom 16. September 1965 kann man z.B. lesen: „Der Elle-Stil 1966 macht sich den ‚op-art‘-Stil zu eigen. Beide waren wie füreinander geschaffen. Der Elle-Stil ist eine Art, mit seiner Zeit zu leben, sich das Neue, wenn es ernst ist, und das Vernünftige, wenn es ein wenig verrückt ist, zu eigen zu machen … Lassen Sie diesen köstlichen Taumel in Ihr Zuhause eintreten, machen Sie sich die optimistische Op-art zu eigen!“

„Pop“- und „op-art“ sind eigentlich dieselbe „Prop-art“, die propagandistische Kunst, die einen dazu nötigt, mit seiner Zeit zu überleben. Eine Maschine namens Abraham Moles tritt überall auf und hofft, dass ihr eine schöpferische Funktion zuerkannt wird, indem sie die Theorie der „Schöpfungsmaschinen“ verteidigt. Zum Genuss aller Roboter kann eine kombinatorische Schrift elektronisch das herstellen, was der Poesie, der Skulptur, der Musik, der Malerei — um nur einige Gebiete zu erwähnen — folgen soll. Ihr großes Können konnte man sowohl in der Revue d’Esthétique (Zeitschrift für Ästhetik), Nr. 2 1965 bewundern, als auch während einer — zusätzlichen — „Woche“ in Bordeaux, bei der es gelungen war „Chaban-Delmas zu überzeugen, sich für die Sache zu interessieren“ (L’Express vom 3.11.65). Und auf Malraux’s letzter — und seiner Meinung nach „gelungenster“ — Biennale kamen die Ziele dieser integrierten Rekuperierung des entwerteten Fragments am besten zum Vorschein. Laut der immer wieder unbefangenen und zufriedenen Le Monde (30.9.1965) „zeigen diese Konfrontationen von jungen Leuten aus der ganzen Welt, dass die Auffassungen über die Kunst sich auf eine gewisse Art angleichen. Die Franzosen, die Italiener, die Japaner, die Schweizer oder die Türken bieten nichts grundsätzlich Verschiedenes. Es sind dieselben bemalten Formen, dieselben geklebten Fetzen und derselbe zusammengeschweißte Schrott: die aktuelle Kunst ist wirklich international. Eine weitere Feststellung: der Künstler kümmert sich heute nicht nur um das Bild, sondern auch um den Platz der Kunst in der Stadt. Bildhauer, Maler und Architekten haben sich gemeinsam bemüht, diese ‚idealen‘ Städte, diese Kirchen und Häuser der Jugend aufzubauen … Wer über über die letzten Momente der jüngsten Kunst auf dem Laufenden gehalten werden will, sollte zur Avenue du président Wilson gehen.“

Das Holding der vereinigten Überlebensgesellschaft

Ein Kolloquium über die Probleme des Überlebens hat am 2. März in Paris stattgefunden. Es wurde vom „Internationalen Institut der humanistischen Forschung“ und von der „Pariser Theologieschule“ organisiert, die von Frau Amédée Ponceau und Pfarrer Marchal geleitet werden. Während dieser Zusammenkunft, an der Bischof Jobit, der Philosoph Axelos und die Professoren Birault und Ricoeur teilnahmen, wurden Texte von Nietzsche, Simone Weil, Kierkegaard und Saint-Jean-de-la-Croix von Germaine Lafaille vorgetragen.

Le Monde, 6.3.1966.

Die Verpackung der Freizeit

Durch ihre Werbekunst, die Überbleibsel jeder partiellen kritischen Schlussfolgerung wiederaufzutischen, wird unsere Epoche die versöhnlichsten Geister darüber belehren, dass diejenigen, die ungefähr dieselben Fragen behandeln und fast dieselben Formeln gebrauchen, deshalb einander nicht „nahe“ zu stehen brauchen und genau entgegengesetzte Orientierungen ausdrücken können. Das zeigt wunderbar eine „Werbeuntersuchung“ über „die Ferienkrankheit“ (die in verschiedenen Publikationen, u.a. Le Nouvel Observateur vom 1.4.1965 inseriert wurde). Es handelt sich darum, den „Club Méditerranée“ in solchen Worten anzupreisen, die die „gebildete“, in den ersten Jahren nur schlecht vertretene Kundschaft anlocken können. Mit dem für die Zeitschrift Planète üblichen Stil — „Wir stehen am Rand der Verwandlung“; „man muss hierher kommen, um unsere morgige Zivilisation zu entziffern“ — verspricht der Marktschreier, man könne sich dort „in das Denken und die Künste, die Geschichte und die Wissenschaften“ einweihen lassen und „aus jeder Geste entstehe Freundschaft“ bei dieser ‘Musterorganisation der Freizeit in Europa, dem Laboratorium der Ferien der Zukunft’. Diese Institution ist jedoch rücksichtsvoll genug, um „den Ministern, Gelehrten, Künstlern, Erziehern — sogar den Helden“ die Sorge dafür zu überlassen, „eine neue Moral zu schaffen, freiere Sitten zu fördern oder die industrielle Gesellschaft zu reformieren“, denn „ihre Rolle beschränkt sich auf ein Zwölftel des Lebens.“

Eine Organisation der Ferien nimmt die bestehende Organisation der Arbeit zum Ausgangspunkt und bereitet sich darauf vor, die Abfälle dieser Arbeit industriell zu behandeln. Ihre Pseudofreiheit ist die der Spontaneität von Robotern zugedachte Zeit. Wie können sie sich treffen? — Auf der Basis ihrer wesentlichen Entfremdung. Das Prinzip ihres Zwölftes an Freundschaft heißt im Gegensatz zu Montaignes Wort, „weil er es nichts war, weil ich es nicht war.“ Aber die Organisatoren der Ferienindustrie kritisieren das Handwerkswesen der „konventionellen Ferien“ heftig, indem sie überall sonst eine tatsächliche „Nivellierung durch die Mittelmäßigkeit“ entlarven, gegen die sie allein das Heilmittel herstellen: „Heute dringt der Sonntag des Menschen allmählich in die ganze Woche ein: Was wird er aus dieser Freiheit machen? Sich noch mehr Verpflichtungen, Abhängigkeiten und Entfremdung schaffen? Und was wäre, wenn der große Ferienjahrmarkt nur eine Droge, ein neues Opium des Volkes ist?“

So wird eine Gesellschaft zum Verkauf des neuesten Opiums der Armen — der Ware Freiheit — gebildet, die nur auf ihre Integrierung in den Staat wartet: „In keinem Land der Welt gibt es schon eine kohärente Freizeitpolitik.“ Alle anderen Sklaven helfen mit, ihr die Kundschaft zu liefern und ihre Werbung merkt sich das wohl: „Dass das städtische Leben, dem gegenüber jeder vor sich selbst die Rolle eines Hüters, Spions und Professors übernommen hat, die Zeit in Scheiben zerteilt hat, um in ihnen die Menschen, deren Herzen und Kräfte zu trennen, könnte man vielleicht noch übersehen …“ Dem „Club Méditerranée“ stände es schlecht an, das nicht zu übersehen, da er selbst nach einer Konzession für nicht weniger als eine globale „Scheibe“ eines Zwölftels dieser Zeit strebt. „Dank der verheißungsvollen Automation und der neuen Betriebspsychologie überlässt die Arbeit der Freizeit von nun an immer mehr Zeit und Raum“. Vor dieser Perspektive erschrecken die Manager nicht, die doch nun wissen, wie sie die Leute noch im Zwischenraum der Arbeit festhalten können, von der sie folglich annehmen können, dass „sie sich sehr entwürdigt hat und sogar zum Zeichen der Frustration geworden ist. Für viele Leute ist sie nur ein notwendiger Alpdruck, ein Alibi, das die Ferien möglich macht … In den überentwickelten Ländern fangen die Gewerkschaften schon an, Zeit statt Geld zu fordern.“

Und für diese Ferien, die so viel Trost und Werte gewähren müssten, bieten die Quacksalber des „Club Méditerranée“ schon eine anspruchsvolle Ideologie, die natürlich ein Minimum an Abklatsch der modernen kritischen Theorie in einem kombinatorischen Stil rekuperieren muss. Wenn der Käufer der Ware Freiheit nur die uralte Lust zum Spiel und zur Fete in sich wiederauftauchen ließe, die darin besteht, jedesmal Regeln zu improvisieren, die nur einmal gebraucht werden, würde er die unterbrochene Kommunikation mit dem Anderen wiederherstellen. „Wir sprachen oben vom Ferienspiel, das darf aber nicht mit den Kinderspielen verwechselt werden. Es handelt sich um das Spiel, das, wie weit man immer auf die früheren Zivilisationen zurückgreifen mag, die Zeremonien, den Sport, das Theater, den Zirkus, die Phantasie in der Kunst — mit einem Wort: die Intelligenz — erzeugt hat. Dieses Spiel wiederherstellen heißt darum wetten, dass jeder Einzelne, wenn er Unbekannten gegenübersteht, die sich ihm ohne Maske zeigen, aufhören kann, ein misstrauischer oder folgsamer Zuschauer seines eigenen Lebens zu sein, um dagegen zu dessen Gestalter zu werden.“

Das fassen also gewisse Leute im „Club Méditerranée“ ins Auge. Wir meinen allerdings etwas ganz anderes, wie wir es bereits ab und zu gesagt haben.

Die Produktion des Verfalls

„Es gab schon Maschinen, die eigens dazu hergestellt wurden, zu nichts zu dienen. Jetzt gibt’s noch Besseres: in New York wird für einen Dollar eine Maschine verkauft, die sich selbst verschlingt. Kaum haben Sie einen bestimmten roten Knopf gedrückt, setzt ein lärmender Mechanismus an und langsam und unausweichlich klemmen sich die Bestandteile der Maschine fest, zerspringen und fallen ab. Nach einer Viertelstunde bleibt nur ein Haufen von auseinandergegangenen Stangen, Federn, Rollen und Räderwerk übrig! Der höchste Luxus dabei: für den Kauf dieser Maschine verspricht die Werbung — und zwar mit großer Schrift — dass das Ganze nicht wiederzuverwerten ist, nachdem man einmal damit gespielt hat!“ (Elle, 2.9.65)

In Amerika hat 1965 das Auto, dessen Wuchern den Gebrauchswert immer mehr beschränkt, so dass es sogar allmählich zum Gadget wird (die Verkehrsverantwortlichen in New York beginnen, die Notwendigkeit eines lokalen Verbots seines Gebrauchs ins Auge zu fassen), eine Verbreitungsrate von zwei Stück in einem Viertel aller amerikanischen Familien (11 Mio.) erreicht. Laut einer Untersuchung des Wall Street Journal werden die Käufer dadurch motiviert, „das Beste zu besitzen“ und ihre Nachbarn in Bewunderung zu versetzen — ein Sisyphus-Unternehmen, da die Nachbarn zwangsläufig dasselbe tun. Diese Käufe werden durch den leichten Kredit — die Rückzahlung darf bis in 42 Monatsraten geschehen, und die verlangten Garantien werden auf ein Minimum reduziert — weit über den sozialen Sektor hinaus gefördert, dessen Reichtum eine solche Akkumulation möglich macht. Neue Gadgets, die sich die beträchtliche Ausweitung der Kriminalität zunutze machen, erscheinen auf dem Markt. In New York wird alle sechs Stunden ein Vergewaltigungsversuch und alle 12 Minuten ein Überfall gemeldet. Laut einem Bericht von Michel Gordey, der in dieser Stadt eine bisher unbekannte „kollektive Zwangsvorstellung des Verbrechens“ feststellt (France-Soir vom 27.7.65) bieten Schaufenster und Zeitungsanzeigen Gadgets an, „die den Angreifer mit einem Elektroschock von 4.000 Volt treffen, Taschenzerstäuber, die ihn mit einer unauslöschlichen Farbe und einem von weit her erkennbaren Duft bespritzen (um die polizeilichen Ermittlungen zu erleichtern)“. 1.200 Spezialpolizisten sind für die Überwachung der U-Bahn bestimmt, in der bewaffnete Überfälle und sonstige Verbrechen von 1963 bis 1964 um 52% gestiegen sind. „Die Avenues mit den großen Läden sind jetzt leer, sobald es dunkel geworden ist. Wenn ich allein gehe, fangen die seltenen Passanten, die mich von weitem erblicken, an zu laufen“. Ein langer Fernsehdokumentarfilm zeigt „die Selbstverteidigung eines Wohngebäudes“ nach mehreren Einbruchsfällen und einem Mord: „Die 45 Mieter des Hauses und ihre Familien haben sich in einem Verteidigungsverein zusammengetan, die Männer bewachen der Reihe nach den Hausflur und die Aufzüge und patrouillieren im Kellergeschoss und den Kellern. Am Ende der Sendung erscheint ein Polizeikommissar auf dem Schirm, um andere Wohnhäuser dazu anzuregen, sich ähnlich zu ‚organisieren‘ und praktische Ratschläge zu geben …“ Gordey schließt daraus, dass man „die New Yorker Psychose nicht auf die leichte Schulter nehmen kann. Was in größerem Maßstab in New York passiert, interessiert alle Großstädte, die sich in der Wachstumskrise befinden. Unsere Planer, die den amerikanischen Urbanismus für das Paris im Jahre 2.000 studieren, wissen, dass ähnliche soziologische Krisen schon in anderen Formen in Europa ausgebrochen sind bzw. ausbrechen werden“.

„Vietnam bringt die permanente Gewalt ans Tageslicht, die sich hinter dem Lächeln und der Urbanität des amerikanischen Lebens verbirgt“, stellte im Oktober das Bulletin des „Vietnam Day Comitee“ richtig fest. Doch beschuldigt der Bericht der nach dem Watts-Aufruhr vom kalifornischen Staat ernannten Untersuchungskommission — die zugestehen muss: „die Lage ist so ernst, dass noch schlimmere Unruhen stattfinden könnten, es sei denn, dass angemessene Maßnahmen ergriffen werden“ — die „extremistischen“ schwarzen Führer, nicht nur die Massen zum Aufruhr angestachelt zu haben, sondern auch „die Lösung des schwarzen Problems aufrechtzuerhalten“. Man kann sogar sagen, dass im allgemeinen die „Extremisten“ — zu denen wir gehören — „die Endlösung des Problems des Menschen“ im KZ-Sinne, die die Kybernetiker der Macht zur Zeit wohl programmieren, auf skandalöse Weise aufhalten. Werden alle Gesellschaftsgruppen durch die Barbarei des Überflusses zur Selbstverteidigung genötigt, müssen nur hier und da die Werte und die zu verteidigende. Lebensweise neu definiert werden.

Im August 1965 fragte sich Irving Kristol im Encounter nach Gründen für die unglaubliche Revolte der amerikanischen Studenten. Er sieht richtig, dass die Unterstützung der Forderungen der Schwarzen nur die Gelegenheit war und für die seit fünf Jahren begonnene Bewegung „der Vietnamkrieg selbst in dem Fall genausoviel ein Vorwand wie ein Grund ist.“ Kristol schreibt weiter: „Wie lässt sich dieser ‚Linksrutsch‘ der amerikanischen Studenten erklären mitten in einem Wohlstand und unter einer Regierung, die auf dem Gebiet des Paternalismus ihre Errungenschaften mit unerwarterer Dynamik erweitert? Dieses Rätsel konnte bis zum heutigen Tag kein Soziologe lösen. Eine Erklärung ist ganz einfach, dass diese jungen Leute Langeweile haben.“ Für einen Kritiker, der das schon paradox findet, entstehen daraus „einige Paradoxien“: „So waren alle diese jungen Leute mit fortgeschrittenen Ideen in der Situation, von ihrer Regierung nicht verlangen zu können, dass sie einen einzigen gesetzgebenden Beschluss bewilligte“. Hier kann man am besten die Neuheit und die Originalität der Kritik entdecken, die zur Zeit in Amerika auf der Suche nach sich selbst ist, wenn man sie nach dem Maßstab von Irving Kristols Erstaunen misst. Er beurteilt von oben herab das, was ihm unverständlich bleibt — das Auftreten von Fremden in seinem Land und seinen Gewohnheiten. Aber er zeigt diese Bedeutung die er selbst nicht sieht, wenn er folgendes feststellt: „Etwas Befremdendes ist es, einer fortschrittlichen Bewegung zuzusehen, die auf der Suche nach einer fortschrittlichen Sache ist — im allgemeinen geht es umgekehrt“.

Die Umwandlung einer Gesellschaft und die politischen Kämpfe zur Veränderung einiger bestimmter Punkte innerhalb einer akzeptierten Gesellschaft sind zwei ganz verschiedene Dinge. Hier steht das Programm vor der Bewegung, dort die Bewegung vor dem Programm, das sich im Laufe des Prozesses selbst aufstellt. In derselben überentwickelten Zone des Nordostens Amerikas, in der der gigantische Stromausfall, der im November 30 Mio. Einwohner für Stunden lahmgelegt hat, gezeigt hat, welche Möglichkeiten in den hochindustriellen Ländern für Guerillas bestehen, nimmt der neueste Versuch einer Freien Universität in New York an der Suche nach der Aufstellung eines solchen Programms teil. Laut ihrem Manifest will die Free University „die Begriffe ausarbeiten, die für die Einsicht in die Ereignisses dieses Jahrhunderts notwendig sind“ und damit „auf den geistigen Bankrott“ des amerikanischen Erziehungswesens antworten. Diese selbstverwaltete und von Anfang an auf eine aktive Kritik gerichtete Universität, die sich noch vor jeder festen Niederlassung in irgendwelchen Gebäuden einrichtet und sich bereit erklärt, halb im Untergrund zu leben, indem sie auch in der Stadt zerstreut funktionieren kann, „ist notwendig, weil unserer Meinung nach aus den amerikanischen Universitäten bloße Institutionen der geistigen Knechtschaft gemacht worden sind. Die Studenten wurden systematisch entmenschlicht und unfähig dazu gemacht, ihr eigenes Leben zu führen — sexuell, politisch und was das Studium betrifft“. (Adresse der Free University of New York: 20 E 14th Street, New York City).

Die Szenerie und die Zuschauer des Selbstmords

Durch die Eröffnung von „Anti-Selbstmordzentren“, von denen eins auf nationaler Ebene bestehen soll, hat man in den Vereinigten Staaten vor, diese Art Seuche zu bekämpfen, die in diesem Land 1965 als sechste Todesursache und unter den jungen Leuten sogar an dritter Stelle stand. Über den unerklärlichen Selbstmord des 37-jährigen Bernard Durin (eines seit 15 Jahren mustergültigen Angestellten, der nach einstimmiger Meinung „alles hatte, um glücklich zu sein“: „Eine 10-jährige Tochter, Agnes, eine gute Schülerin. Eine charmante Ehefrau … Eine Stellung als mittlere Führungskraft bei IBM … 2.500 F Monatslohn. Eine schmuck und modern eingerichtete Wohnung. Einen Peugeot 404. Einen Fernsehapparat, eine Waschmaschine, einen Kühlschrank und sogar ein Aquarium“) schrieb Ch. Caron in France-Soir vom 24.12.64: „Die Räume der Firma, wo Durin arbeitet — ein hohes Glashaus … In der Mitte ein Büro aus Metall. Von da aus Regale, so weit das Auge sieht. Metallene. Gleichfalls metallene Aktenschränke. Dort befinden sich die Einzelteile, die Durin in die ganze Provinz verschickt. Kein Fenster. Neonbeleuchtung. Unterschiedliche Arbeitszeiten: der Laden hat von 7 Uhr bis Mitternacht geöffnet. Alle 2 Wochen ist Schichtwechsel. Einmal steht Durin um 5.30 Uhr auf und ist um 16 Uhr mit seiner Arbeit fertig, einmal fängt er um 14.30 Uhr an und ist erst um 1 Uhr in der Nacht wieder zuhause. Durin ist ein mustergültiger Angestellter. Man weiß nicht, wie man ihn anspornen könnte, über seine bisherigen Fähigkeiten hinauszugehen. Es wird ihm nahegelegt, Englisch zu lernen. Er macht das. Er lernt also abends und auch am Samstag und Sonntag. Wenn er den Laden in Vincennes verlässt, fährt Durin mit dem Peugot 404 nach Hause nach Bonely. Dann gibt es die allen bekannten Autoschlangen. Erstarrte Schlangen. Durin erblickt die Lichter der großen Sozialwohnungssiedlung von Bonely. Gerade Linien. Beton, mit einem Einkaufszentrum in der Mitte. Niemand hat seinen Platz in diesem riesigen Sortierkasten. Bernard Durin wohnt in der Wohnung Nr. 1153, 13 rue Léon-Blum, III. Stock. Das ist also Durins Leben: elektronische Maschinen, Trabantensiedlungen, Autos, Kühlschränke und Fernsehapparate. Das ist auch Durins Tod.“

Seit Jahren und zumindest in Amerika passierte es bekanntlich relativ oft, dass unsichere Verzweifelte vor den Augen der bewegten Menge damit drohten, sich in die Leere hinabzustürzen. Da das Publikum jetzt durch besser gemachte Schauspiele abgestumpft oder beansprucht wird, will es nur unter der Bedingung auf einen seiner als „wilder Star“ anerkannten Mitbürger aufmerksam werden, dass er schnell springt. Unseres Wissen kam diese neue Tendenz zum erstenmal am 16. April 1964 in Albany im Staat New York zum Vorschein. Während der 19-jährige Richard Reinemann schon seit fast zwei Stunden am Gesims des 12. Stockwerks mit dem Sprung zögerte, riefen ihm 4.000 ungeduldig gewordene Personen zu: „Spring doch!“. Man konnte sogar eine Frau hören, die erklärte: „Ich kann hier doch nicht die ganze Nacht warten, ich habe schon mein Lieblingsfernsehprogramm verpasst!“

Die Abenteuer des parzellierten Resultats

Freud meinte, dass die Entdeckungen der Psychoanalyse letztlich für die herrschende soziale Ordnung unannehmbar seien — für jede auf eine unterdrückende Hierarchie gegründete Gesellschaft. Aber Freuds „zentristische“ Position, die aus seiner absoluten und überzeitlichen Identifizierung der „Zivilisation“ mit der Unterdrückung durch die Ausbeutung der Arbeit folgte, und also seine Handhabung einer teilweisen kritischen Wahrheit innerhalb eines nicht kritisierten globalen Systems führten die Psychoanalyse dazu, offiziell unter allen verkommenen Varianten, die sie inspirieren kann, „anerkannt“ zu werden, ohne jedoch in ihrer ganzen Wahrheit — d.h. ihrer möglichen kritischen Anwendung — akzeptiert zu werden. Natürlich ist dieser Misserfolg nicht gerade Freud zuzuschreiben, sondern vielmehr dem Zusammenbruch der revolutionären Bewegung in den 20er Jahren als der einzigen Kraft, die die kritischen Möglichkeiten der Psychoanalyse zur Verwirklichung hätte bringen können. Die in Europa folgende Periode der äußersten Reaktion verdrängte sogar die Befürworter des psychoanalytischen „Zentrismus“. Die zur Zeit wenigstens verbal Mode gewordenen psychoanalytischen Überbleibsel haben sich entwickelt, indem sie von diesem ursprünglichen Verzicht ausgingen, der das als Geschwätz annehmen ließ, was in seiner kritischen Authentizität nicht angenommen werden konnte. Indem die Psychoanalyse es geduldet hat, ihre revolutionäre Spitze einzubüßen, hat sie sich der Gefahr ausgesetzt, von allen Hütern des bestehenden Schlafs benutzt und gleichzeitig vom ersten besten Psychiater bzw. Moralisten wegen ihrer Unzulänglichkeiten getadelt zu werden.

So hat Professor Baruk, von dem es heißt, er wirke seit fast einem halben Jahrhundert als Oberarzt in Charenton Wunder, bei der letzten Sitzung der „Bichat-Gespräche“ großes Aufsehen erregt, als er die Psychoanalyse heruntergemacht hat — er meint, er habe weit Besseres gefunden —, indem er Freud vorwarf, er habe keine andere Lösung als „die der Befriedigung des Individuums zum Schaden der Gesellschaft“ gesucht. Andere Verteidiger der Gesellschaft haben aber seit fünf Jahren das für das Konzil ergreifende Experiment einer systematischen Psychoanalyse aller Benediktiner einer Klosters in Cuernauca in Mexiko unternommen. Under the volcano arbeitet das ganze Pack der Irrenanstalten und des neo-römischen Teilhardismus daran, die Erinnerungen an eines der furchtbarsten Ausbrüche zu rekuperieren, die bisher begonnen haben, die moralische Ordnung zu erschüttern. So nimmt ein Lacan in den Pariser Salons unter Bewunderung aller Schwachköpfe Heideggers Rezept wieder auf (mit dem dieser so erfolgreich war, dass viele Schöngeister nicht glauben wollen, dass ein so tiefer Denker wirklich ein Nazi gewesen sein kann). Heidegger und Lacan übernehmen diese dunkle Zersplitterung der Sprache, die sie in der letzten Entwicklungsstufe der modernen poetischen Literatur gefunden haben (und gerade dort hatte diese Zersplitterung einen tiefen Sinn) mit dem einzigen Motiv, Spiegelfechterei zu betreiben. Sie nehmen diesen Stil auf der untersten Stufe des literarischen Talents, aber in ihrem „Spezialfach“ wieder auf. Dann wertet der vermeintliche Ernst des Philosophen bzw. Psychoanalytikers die Dunkelheit auf, die bei den letzten Dichtern als ein unmotiviertes und die Bequemlichkeit des Lesers störendes Spiel so sehr kritisiert wurde. Dafür aber verdeckt die hier wirklich leere und hochtrabende Dunkelheit das Nichts ihrer Reden und macht es dem einen und dem anderen möglich, die kulturelle Schau einer Fortsetzung dieser alten philosophierenden Formen des getrennten Denkens zu organisieren, die seit langem vom Denken getrennt, versteinert und tot sind. Ihr Modernismus bekleidet sich in Pompei.

Das politische Jahr 1965: Eine Anthologie der Fehlleistungen

Das hier und dort durch die ersten Wochen des Jahres 1966 vollendete Jahr 1965 ist eine Art vollständige Parade des Scheiterns aller Varianten der bestehenden Macht gewesen, sowie die ihrer Ersatzlösungen in der Opposition. Die bestehende Ordnung ist nach wie vor durch keine Negation bedroht worden, aber ihr eigenes Funktionieren hat überall Fehltritte, Lähmungen und Enttäuschungen angehäuft. Da die gegenwärtige Welt schon durch ihre Ökonomie und die Notwendigkeit der Unterdrückung einheitlich ist, gelingt es keiner der Mächte, die sie im Griff halten, sie ganz zu beherrschen bzw. durch eine zufriedenstellende Verteilung ins Gleichgewicht zu bringen oder ihr irgendwo eine Orientierung aufzuzwingen, die den Anspruch auf Rationalität erheben könnte. Es konnte auch keine Macht ein einziges ihrer Projekte durchführen trotz des Preises, den sie zu bezahlen und die anderen bezahlen zu lassen fähig ist.

Der Mythos des „sozialistischen Lagers“ hat sich im öffentlichen und wiederholten heftigen Streit seiner Regenerierungen, in den jetzt sogar Beschimpfungen zwischen Kuba und China mit hineingezogen werden, ganz aufgelöst. Alle seine Abteilungen mit China an erster Stelle haben sich als unfähig erwiesen, effektiv auf den offenen Angriff der Vereinigten Staaten in Vietnam oder sonstwo zu antworten. Die mit Stalin-Mao-Soße gewürzte „Richtung der Geschichte“ wird durch die allgemeine amerikanische Offensive verhöhnt. Seit der „Raketenkrise“ in Kuba sehen wir einer „wilden Flucht“ zu, „die eine neue Periode im Gleichgewicht der Weltteilung einleitet“ wie wir im Januar 1963 in der S.I. geschrieben haben, indem wir zeigten, dass das gemeinsame russisch-amerikanische Spiel (keinen thermonuklearen Krieg führen, „indem man sich aber immer höher im Spektakel eines möglichen Krieges emporschwingt“) Russland dazu führte, die Folgen „seiner falschen Berechnung der theatralischen Weltstrategie“ ertragen zu müssen. Daraus folgte eine Beschleunigung der Zersetzung der internationalen bürokratischen Vereinigung sowohl auf politisch-militärischer als auch ideologischer Ebene.

Die inneren Schwierigkeiten der bürokratischen Staaten kommen immer mehr als tieferliegende Gründe zum Vorschein. Während sie der Verwaltung der Industrie und noch deutlicher der der Landwirtschaft entspringen, zeigen sich diese Schwierigkeiten überall in der Sphäre der politischen Kontrolle aller Aspekte des Lebens. In Russland erweitert sich die geheime Opposition der Intellektuellen. In Kuba wird die Universität in Habana von ihren „Homosexuellen“ gesäubert; die durch die Mordversuche an Castro hervorgerufene Bestürzung lässt die „sozialistische“ Wirklichkeit eines Regimes ermessen, das von einem einzigen Mann abhängig ist, und in der Selbstkritik des Angeklagten Cubela, eines Revolutionärs, der „ein ausschweifendes Leben geführt hat“ und „nicht verstehen kann“, wie er dazu gekommen ist, sich gegen den von ihm so geliebten Castro zu verschwören, taucht der Bucharin der Moskauer Prozesse wieder auf. Der Quotidien du Peuple gibt im August 1965 „den unvermeidlichen Unterschied des Lebensstandards der Konsumenten als in der sozialistischen Gesellschaft erlaubt und notwendig“ zu (Ideologie der Erweiterung der Schichten, denen die bürokratische Verteilung des Mehrwerts zugutekommen darf). Und der Obergerichtshof der Föderativen Republik Russlands beschließt, die Jugendkriminalität zu bekämpfen, indem er die Eltern verklagt (AP-Moskau 2.6.65), d.h. also, dass er die Familien für gesetzlich verantwortlich hält für die unmittelbare Anwendung ihrer Autorität, die für den Staat unerlässlich ist.

Die über die mächtigsten Mittel verfügenden Vereinigten Staaten, die zudem in der Lage sind, diese in immer weiteren Gebieten einzusetzen, haben die wenigsten endgültigen Misserfolge gehabt — sie konnten es jedoch nirgends zum Erfolg bringen. Während im Inneren die Aufstände der Schwarzen und die Revolte der Universitätsjugend, die auf dieser Stufe der ökonomischen Entwicklung eine beträchtliche Gesellschaftsschicht darstellt (zahlenmäßig sind es 5 Mio. Leute), beginnen, das Herannahen einer neuartigen Krise zu beleuchten, konnte die massenhafte militärische Überseeintervention nicht den Widerstand der vietnamesischen Kämpfer brechen — und auch nicht die Ordnung zugunsten der Generäle in Santo-Domingo wiederherstellen. Dafür hat in einem sehr großen Teil Lateinamerikas ein Partisanenkrieg angefangen. Im direkten Verhältnis zu ihrem Gewicht werden die Vereinigten Staaten in endlosen Konflikten versumpfen: das Unglück ihrer Politik besteht darin, dass sie immer wieder der Veränderung gerade dort entgegentreten müssen, wo sie am notwendigsten und dringendsten ist — und alle Rechenautomaten ihrer Psychosoziologen können sie nicht davon befreien.

Die Reserveverwaltung des westlichen Kapitalismus — das Modell des zum Sozialismus tendierenden Reformismus — hat sich noch einmal bewährt — in Deutschland dadurch, dass sie nicht zur Macht kam und in England dadurch, dass sie zur Macht kam. Die deutsche Ex-Sozialdemokratie wurde bei den Septemberwahlen fast zufällig geschlagen —, denn der „engagierte Schriftsteller“ Günther Grass war vielleicht der einzige, der nicht wusste, dass die Versöhnung mit den demo-christlichen Grundsätzen so weit vervollkommnet worden war, dass man sich in keinem Punkt mehr von ihnen unterscheiden konnte. So dass ein Mitglied des Stabs von Willy Brandt laut Le Monde vom 14.9.65 sagen konnte: „Auch wenn wir nicht gewinnen, haben wir dieses Jahr doch einen Sieg davongetragen. Keiner — oder fast keiner — hält uns noch für Rote!“ Ohne Wilson für einen Roten zu halten, kann einem der Sinn für Humor auffallen, den er seit dem Wahlsieg der englischen Linken an den Tag legt. Die Labour-Regierung hat wie keine andere dem Massenmord in Vietnam Beifall gespendet. Gegen die Sezession der Rassisten in seiner Rhodesien-Kolonie ist er deutlich schlimmer als De Gaulle vorgegangen, obwohl er nicht durch eine Verschwörung der Siedler von Salisbury zur Macht gelangte. Seine hauptsächliche Arbeit im Inneren besteht darin, aus den Gewerkschaften die perfekten Ausführungsorgane der ökonomischen Beschlüsse der Macht zu machen und vor allem zu versuchen, die Arbeiter durch Gesetze gegen die „wilden Streiks“ ganz und gar auf die Rolle der Ausführenden der Befehle der Gewerkschaften zu reduzieren. Und doch hatte der Machtantritt Wilsons zu den klassischen Vergeltungsmaßnahmen der „Mauer des Geldes“ geführt, die alle Analytiker der „Industriegesellschaft“ für seit 1924 nicht mehr möglich gehalten hatten; was sogar Le Monde vom 23.12.64 zu folgendem fürchterlichen Schluss geführt hatte: „Die große Lehre, die aus der aktuellen Krise in Großbritannien zu ziehen ist, heißt, dass die westlichen Gesellschaften immer noch vom Kapitalismus beherrscht werden“.

Was das betrifft, was in den Zeitungen die „Dritte Welt“ genannt wird, hat sie gerade eine phantastische Anhäufung von Zusammenbrüchen erfahren müssen, die keiner ihrer trügerischen Ansprüche und Hoffnungen überleben wird. Zusammenbruch des „fortschrittlichen Lagers“ in der arabischen Welt, von dem nur Machtfragmente übrigbleiben, die genauso zerbrechlich wie die des reaktionären Lagers im Dienst des Westens sind. In Ägypten häuft die bürokratisch-militärische Verwaltung Misserfolge an und muss zusehen, wie die Verschwörungen der dunkelsten Kräfte herannahen. Sie hat außenpolitisch genau so wenig Glück: im Yemen, wo mit Saudi-Arabien um die junge Republik gefeilscht wird; im Irak, wo die Anerkennung des „Rechtsnasserismus“ schließlich die Macht der reinen Rechten und die Rückkehr der vor 1958 amtierenden Minister legitimiert hat. Die Baath-Partei, die aus dem Irak vertrieben und auf ihre „syrische Provinz“ reduziert wurde, lässt dort ihre verschiedenen putschistischen Fraktionen sich untereinander zerstören. Militärs und Zivilisten, „Extremisten“ und Gemäßigte folgen einander an der Macht genau so vergeblich, und alle „Persönlichkeiten“ der Partei und Chancen haben sich hier erschöpft. Was den „Benbellismus“ betrifft, ist er in einer einzigen Nacht zusammengebrochen.

Die Grundlagen einer „revolutionären“ Vereinigung der afrikanischen Staaten sind genauso vollständig zusammengebrochen. Die quasi nicht vorhandene Organisation der Afrikanischen Einheit hat sich selbst am Tage nach der Unabhängigkeitserklärung Rhodesiens das Urteil gesprochen, indem sie nicht das Risiko auf sich nahm, militärisch in dieses Land einzugreifen. Sie musste sogar gestehen, dass sie unfähig sei, mit England zu brechen, nachdem sie es der ganzen Welt in einem sehr kurzfristigen Ultimatum angekündigt hatte. In Ghana sind „der Erlöser“ Nkrumah und seine Partei plötzlich vor einer einfachen militärischen Verschwörung entschwunden, genauso wie sechs andere Regime des afrikanischen Kontinents in den vorhergehenden Tagen. Diese Tatsachen sind so viele zusätzliche Misserfolge der unsinnigen Außenpolitik Pekings.

Nichts ist jedoch so stark wie der blutige Zusammenbruch des indonesischen Stalinismus, der durch seine bürokratische fixe Idee so weit verblendet war, dass er sich eine Machtergreifung nur von einer Verschwörung und Palastrevolution versprach, während er eine riesige Massenbewegung kontrollierte, die er zur Vernichtung führte, ohne sie kämpfen zu lassen (Man spricht jetzt von 300.000 Erschießungen). Obwohl der unverfrorene Sukarno immer noch über die verschiedenen Untergebenen seiner Getreuen erhaben ist, hat das zweite „Bandoeng“-Treffen, das schon nicht mehr in Algier stattfinden konnte, seine besten Stars verloren. Der neutralistische indische „Sozialismus“ führte zum Pandschab-Krieg, zur militärischen Unterdrückung der Minderheiten und der Arbeiterdemonstrationen, zur Hungersnot. So gesteht die durch den Druck rivalisierender Imperialismen zerrüttete spektakuläre Verbrüderung der afro-asiatischen Staaten im Sterben, dass sie nur in der Illusion vorhanden war.

Da alle überall ein wenig geführten Repressionen gleichfalls scheitern, kennzeichnen diese wasserfallartigen Misserfolge eine erbärmliche Welt, in der keiner seine Ziele durchsetzen kann; in der die Ereignisse ganz anders stattfinden als der Wille derer, die sie zu leiten glauben, es sich vorgestellt hatten; in der die List der Ware weiterhin die menschliche Geschichte irreführt. Diese Folge zwerchfellerschütternder Gags in der Komödie der Macht ist nur der politische Ausdruck der universellen Trennung zwischen allen Systemen und allen Realitäten.

Aktuelle Mittel und Ziele des Spiels

In France-Soir vom 4. August hat Marcel Guiglaris berichtet, wie die amerikanische Armee die gewaltige Konstruktion eines Geländes und einer Reihe von Ereignissen mit riesigem Aufwand durchgeführt hat, um die Anwendung ihres Einsatzes in Vietnam zu experimentieren. „Sollte für die Veränderung des amerikanischen Strategiekonzepts im Vietnamkrieg ein Datum genannt werden, dann wäre es das der ‚Silver Land‘-Operation. Ab hier improvisieren die Amerikaner nicht mehr. Mit der größten Genauigkeit, die sie erreichen können, üben sie an der Westküste der USA jede Operation im voraus, die sie dann in Vietnam durchführen wollen. Im Frühjahr dieses Jahres (1965) haben die Amerikaner auf einer den ganzen westlichen Teil des Landes umfassenden Zone (von Seattle bis zur mexikanischen Grenze der Küste entlang — mehr als 2.000 Kilometer — bis nach Las Vegas im Inneren — also mehr als 1.000 Kilometer Tiefe) verschiedene Länder nachgezeichnet. ‚Lancelot‘ (Südvietnam) erstreckte sich über Südkalifornien und war“ein Land, in dem Partisanen die Regierungskräfte so sehr störten, dass ‚Lancelot‘ im Dezember die UNO zu Hilfe rufen und um die militärische Unterstützung der USA bitten musste. ‚Merlin‘ (Nord-Vietnam) ist ein nördlich von ‚Lancelot‘ gelegenes und von einer diktatorischen Macht beherrschtes Land, das ‚Lancelots‘ Partisanen beeinflusst, bewaffnet, versorgt und unterstützt. ‚Modred‘ (China), ein großes, sich jenseits von ‚Merlin‘ erstreckendes Land besitzt Atomwaffen, gehört zum selben politischen Lager wie ‚Merlin‘ und hält dieses Land sogar in seinem Einflussbereich. ‚Neutrala 1‘ und ‚Neutrala 2‘ (Laos und Kambodscha) schließlich grenzen an ‚Merlin‘ und ‚Lancelot‘. Man braucht kein Fachmann zu sein, um die Ähnlichkeiten zu bemerken: für den Fall, dass sie einem doch entgehen, wurden sechs vietnamesische Dörfer mit dazugehörigem Geruch, Hühnern und schwarzen Schweinen nachgebaut. Da die Eingeborenen fehlten und damit es doch Sprachschwierigkeiten gibt, hatte man dort Leute einquartieren lassen, die nur spanisch sprachen — vermutlich Mexikaner. Für die ‚Silver Land‘ Operation waren nicht nur 80 Schiffe von Flugzeugträgern bis zu nuklearen U-Booten, sondern auch zehntausende von Menschen eingesetzt worden. Die Spielanweisungen waren nach Herzenswunsch kompliziert. Sie wurden übrigens im Laufe der Übung so oft und in so kurzer Benachrichtigungszeit modifiziert, dass manche Einheitsführer nicht mehr zu schlafen wagten".

Durch seinen materiellen Umfang und seine Wertlosigkeit, durch seine Art, das Spiel zu entfremden und die praktische Schändlichkeit seiner Ziele kann dieses amerikanische „Kriegsspiel“ als das umgekehrte Beispiel des Begriffs einer „konstruierten Situation“ betrachtet werden, den wir gebildet haben, um die Befreiungsmöglichkeiten dieser Epoche zu behandeln.

Le Monde als Spiegelbild

Le Monde ist die angesehenste Zeitung französischer Sprache. Neben dem üblichen Journalismus stellt sie eine qualitative Information dar; ihre Redakteure legen ein bestimmtes Talent an den Tag und diese Zeitung ist nicht an die rohen alltäglichen Tatsachen gebunden: sie versucht dagegen, deren Ursprung und Entwicklung zu zeigen. Was ihre allgemeine Haltung betrifft, so besteht sie in der Unparteilichkeit, dem Respekt vor den Tatsachen und der Aufrechterhaltung dieser geistigen Werte, auf die sich die aufgeklärte Bourgeoisie damals bezog. Da jede Kultur zur wohlbekannten Prestigeangelegenheit geworden ist, bedeutet Le Monde in erster Linie eine illusorische geistige Aufwertung für die meisten ihrer Leser; dann — was kein Widerspruch ist — liefert sie das Maximum an unter den bestehenden Verhältnissen zugänglicher Information, und sie wird tatsächlich vor allem von den Führungskräften in Verwaltung und Wirtschaft gelesen.

Der absolute Respekt vor den Tatsachen in Le Monde ist der absolute Respekt vor dem Geschehenen, das wohlwollende Verständnis für das Vollendete, eine Höflichkeit, die über die ideologischen Zusammenstöße hinaus allen als grundsätzlich gleich anerkannten Besitzern einer Staatsräson gleich zugestanden wird. Le Monde kritisiert zwar sehr oft die Macht, sei es in Frankreich oder in irgendeinem anderen Land, das geschieht aber immer wieder vom Standpunkt des maximalen Interesses der Macht aus. Dieser wird immer ein universaler guter Wille angerechnet und Le Monde macht ihr edelmütig Vorhaltungen, die sie verbessern möchten. Die Tatsachen, die einer Macht entgegentreten, werden nicht verheimlicht, wenn sie über einen bestimmten Grad der Offensichtlichkeit hinaus zum Vorschein kommen; es wird aber versichert, man werde Herr über sie werden, bzw. bedauert, man werde es damit nicht so leicht haben. Wird die gestrige Legalität durch irgendeinen Putsch verändert? Le Monde bemüht sich sofort darum, die Nachfolger zu rechtfertigen. In der darauffolgenden Stunde werden sie mit dem Recht auf die Macht von Gottes Gnaden gesalbt. Die bereitwillige Anerkennung aller Mächte zugleich ist der beste Ausdruck dieses Zynismus und dieser Naivität, die von der unparteilichen Information nicht zu trennen sind. Der Realismus von Le Monde besteht darin anzunehmen, dass jede Macht den gleichen Wert habe, und ihre Wertlosigkeit besteht darin zu glauben, dass die Hellsichtigkeit, mit der sie jede Einzelheit behandelt, mehr wert ist als die irgendeiner Macht. Le Monde hat keine einzige Macht kritisiert und hat sie folglich niemals besser verstanden, als diese Macht sich selbst verstehen kann. Le Monde hat genau dieselbe Haltung wie der gebildete und ehrfurchtsvolle Zuschauer, zu dessen Bildung sie bei ihren Lesern beiträgt.

Nach der neusten Wahlkampagne in Frankreich, der gewissen Manifestation der absolutesten „Entpolitisierung“, die es je gegeben hat (da die Wähler es massenweise gewählt haben, ihre Macht für 7 Jahre dem einen oder anderen der beiden Figuren zu übertragen, die ihnen nicht einmal die geringste Möglichkeit ließen, über ein Programm oder die Kontrolle über ihre späteren Handlungen nachzudenken), hat Le Monde behauptet, die Franzosen seinen wieder politisiert. Diese ununterbrochen wiederholte Erfindung wird in folgendem Vorwort „einiger Organisationen und Persönlichkeiten“ genau zusammengefasst, die am 30. April in Grenoble ein „sozialistisches Treffen“ veranstalten wollen, das denselben Ton anstimmen wird: „Die Wahl des Präsidenten hat im Gegensatz zu pessimistischen Interpretationen der Tendenzen der ‚Industriegesellschaft‘ bewiesen, dass die öffentliche Meinung in Frankreich keineswegs den Staatsangelegenheiten gegenüber gleichgültig geworden ist“ (21.1.66). Ein solcher Ton der zurückhaltenden Verherrlichung wird auf pittoreske Weise schwierig, wenn es sich darum handelt, den bürokratischen „Sozialismus“ anzupreisen, der es seinen Bewunderern nicht leicht macht (vgl. selbst Sartre in einigen Augenblicken seiner Laufbahn). So schrieb Maurice Duverger in Le Monde vom 10. Dezember: „Vor 10 Jahren empörte die Herrschaft der UdSSR über Osteuropa mit Recht das westliche Bewusstsein und das fiel auf den ganzen Kommunismus zurück. Seit dieser Zeit hat sich die Lage beträchtlich verändert, und sie wird sich noch mehr verändern.“ Wer diesen Satz liest, kann nur verstehen, dass das betreffende Bewusstsein sich verändert hat. Zehn Jahre, das ist eine lange Zeit und man kann die Müdigkeit der Bewunderer verstehen. Aber eben dieselben gewissenhaften Leute schrecken auf, weil sie jetzt wieder zu dienen haben, während sie glaubten, endlich das Recht auf Schweigen erworben zu haben. Nach der Verurteilung der satirischen Schriftsteller Daniel und Siniavski schreibt Le Monde in ihrem „Auslandsbulletin“ vom 16. Februar: „Ungefähr 50 Jahre nach der Revolution und während ihrer bemerkenswerten Erfolge in der Eroberung des Weltalls ereifert sich die UdSSR gegen zwei Schriftsteller … Das ist eine große Enttäuschung für alle, die der Ansicht waren, dass die UdSSR, nachdem sie ihren stalinistischen Teufel ausgetrieben hatte, sich zu einer echten sozialistischen Demokratie entwickeln würde.“ Enttäuschungen dieser Art werden diejenigen allerdings sehr oft erfahren müssen, die den Erfolg einer Revolution mit einer sozialistischen Demokratie gleichstellen, deren Wirkungen nur auf dem Mond festzustellen sind. Es genügt, dass ein Aragon, der für seine 35-jährige absolute Ergebenheit in die verbrecherischsten Betrügereien allgemein bekannt ist, dazu bestimmt wird, ein leichtes Bedenken der französischen Stalinisten zum Ausdruck zu bringen, damit die Hoffnung der Befürworter der bürokratischen Demokratisierung wieder bis zum Kosmos aufschnellt!

Von den algerischen Ereignissen bringt Le Monde für seine Leser nur einige wegen ihrer Harmlosigkeit ausgewählte Flugblätter heraus. Ein aus Algerien ausgeübter Druck hat sie davon abgehalten, andere zu zitieren (vgl. ihre Verteidigungsrede vom 27.8.65 nach einigen Beschlagnahmen: „Ist das die Beschwerde gewisser Behörden in Algier gegen Le Monde?“). Wenn sie doch einmal über die gewaltsamen Straßendemonstrationen und den ersten Studentenstreik in Algier (1.2.1966) berichten muss, so verbindet sie ihre betrübte Diagnose mit einer Huldigung der schönen Seelen des „Boumediennismus“, die die vorigen Helden innerhalb von einer Stunde abgelöst haben: „Durch diese Ereignisse wird die immer deutlichere Trennung zwischen der Nationalen Vereinigung der algerischen Studenten (UNEA) und der FNL veranschaulicht. Da die Beziehungen zwischen der UGTA (Nationale Vereinigung der algerischen Arbeiter) und der Partei kaum besser sind, wird deutlich, dass die hauptsächlichen nationalen Organisationen in ihrer abwartenden Haltung gegenüber einem Regime bleiben, dessen Stabilität zur Zeit nur auf der Armee und der Polizei beruht trotz seiner aufrichtigen Bemühungen, den Missbräuchen des alten Regimes zu begegnen.“ Le Monde ist der Staatsanzeiger jeder Macht. Wir gebrauchen sie in diesem Sinne.

Die Worte und ihre Arbeitgeber (Fortsetzung)

Präsident Johnson grüßte mehrere Tausend Studenten, die diesen Sommer in verschiedenen Regierungsorganen ein Praktikum gemacht hatten, als „revolutionäre Genossen“. „Mein ganzes Leben lang“, sagte er weiter, „bin ich ein Revolutionär gewesen, indem ich gegen den Fanatismus, den Pauperismus und die Ungerechtigkeit gekämpft habe.“

AP, Washington, 5.8.65

Wie man die S.I. nicht versteht

In Le Monde Libertaire vom 14. Dezember 1964 konnte man folgendes lesen: „Unbestreitbar steht die S.I. an der Spitze der revolutionären Kritik des alltäglichen Lebens. Ein Gebiet aber, das weit davon entfernt ist, seine Bedeutung verloren zu haben, entgeht ihr — die Arbeit.“ Wir sind jedoch der Meinung, dass wir sozusagen nie ein anderes Problem behandelt haben als das der Arbeit in unserer Epoche — deren Verhältnisse, Widersprüche und Ergebnisse. Vielleicht ist der Irrtum der Le Monde Libertaire auf die Gewohnheiten des undialektischen Denkens zurückzuführen, das einen Aspekt der Wirklichkeit auf dem ihm zugestandenen Gebiet absondert, so dass dieser dann nur konventionell behandelt werden kann.

In einer Rezension der früheren Sonderausgabe der Times über die Avantgarde schrieb Le Figaro Littéraire am 3. September 1964: „So streiten sich Michèle Bernstein und Jörgen Nash von einer Seite zur anderen. Beide befürworten den ‚internationalen Situationismus‘. Beide verlangen, dass die Kunst nicht mehr von der Welt getrennt wird, und die Gesellschaft so umgewandelt wird, dass das Individuum frei ist, ‚sein Leben zu spielen‘. Und doch schließt Michèle Bernstein Nash aus. Hier begegnet man einem der Hauptzüge der Avantgarde … Sie neigt zum Absoluten“. Uns scheint es vollkommen unpassend zu sein, nach einem Absoluten des „Situationismus“ zu greifen, um einen Nash loszuwerden. Es ist wirklich nicht schwer, sich relativ zurechtzufinden.

In Holland beschäftigte sich das Rotterdamsch Nieuwsblad vom 5. Dezember 1964 auf einer ganzen Seite mit den „Situationistischen Zügen im Gesicht unserer Epoche“. Durch diesen Titel wird ein wenig einnehmendes Gesicht vorgestellt, da man dort in einem großen Durcheinander die S.I. zusammen mit etwas Nashismus, etwas Happening und sogar dem Bild des Avantgarderoyalisten George Mathieu, hier noch einmal als ein unglücklicher Kandidat, findet. Debord wird „der große Prophet der Bewegung“ genannt und man wundert sich darüber, dass er das Wort „Situationismus“ ablehnt. In diesem Artikel kommt nur die Dummheit rein zum Vorschein.

Wir wollen die vielen konfusionistischen Artikel in der skandinavischen Presse übersehen, die kaum mehr gelten als ihr in Politiken vom 11. Oktober 1964 erschienenes gemeinsames Vorbild, in dem allen Ernstes nach den Gründen der „nashistischen Abweichung“ gesucht wurde, die dem Lokalpatriotismus geschmeichelt hatte. Genauso schlecht verstanden (und auch schlecht übersetzt und schlecht zitiert) sind wir in der 2. Nummer der Bulletins Anschlag, das eine zaghafte Suche nach einer radikalen Position in Deutschland zum Ausdruck bringt. Und noch schlechter z.B. in dem zwar lobenden, aber unklugen Artikel, in dem ein Lapassade-Anhänger, René Lourau, geglaubt hatte, sich in der Nummer 82 der Tour de Feu mit der S.I. beschäftigen zu müssen. Nichts ist doch so viel wert wie die seltsame Andeutung Paolo Marinottis, des Direktors des Internationalen Zentrums der Künste und Bräuche in Venedig, der in einer Veröffentlichung dieses Zentrums über eine frühere Ausstellung Jorns im Palazzo Grassi berichtet. Da Jorn ein Mitbegründer der S.I. war und seitdem andere Verdienste von ihm anerkannt wurden, schreibt Marinotti: „Erinnern wir uns an die ‚Bewegung für ein Imaginistisches Bauhaus‘ und an diese ‚Situationistische Internationale‘, die beide von 1954 bis 1962 von Jorn gegründet wurden.“ Das ist wirklich ein undeutlicher Historiker. Soll das heißen, dass die S.I. 1962 am Ende war? Wir sind aber immer noch nicht zu einem für die Kulturgeschichte so beruhigenden Gegenstand geworden. Oder meint Marinotti, Jorn habe seine erste Bewegung 1954 und die S.I. 1962 gegründet? Das würde uns jünger machen, als wir sind. Muss man den Satz aber nicht so verstehen, dass Jorn 8 Jahre gebraucht hat, um beide Bewegungen zu gründen? Wenn er allein handeln musste, kann man die Dauer dieser Herkulesarbeit verstehen! Aber es stellt sich dann eine tieferliegende Frage, die eine Vorbedingung für die lyrische Begeisterung des Direktor Marinotti ist: wie kann man sich nur an das erinnern, was man noch nicht kennengelernt hat?

Was den Ex-Observateur betrifft, so hatte er, kurz bevor er verschwinden musste (1.10.64), Gefallen daran gefunden, in einer kleinen Notiz, scherzhaft Die Revolution der Genies betitelt, zuzugeben, dass unsere Zeitschrift es wegen ihrer „revolutionären Art und Weise, auf jeder Ebene an die moderne Welt heranzutreten“ verdiente, „mit Sorgfalt untersucht zu werden“ — und dies „trotz ihrer Maßlosigkeit“. Was diesen Punkt betrifft, erfahren wir also nie etwas. Wie Pancho Villa am Ende des schönen Films von Jack Conway können wir nur fragen: „Welche Maßlosigkeit?“.

Die Ideologie des Dialogs

Die situationistische Praxis des Bruchs mit denen, die irgendein Fragment der gegenwärtigen Ordnung bejahen (sie ist besonders sichtbar gegenüber den Verantwortlichen für die Kultur und die Politik der Unterwerfung), sowie deren Grenzfall — der Ausschluss einiger S.I.-Mitglieder — ist unsere am meisten missverstandene Haltung, obwohl sie auch die natürlichste ist, die unmittelbar aus unseren grundsätzlichen Positionen folgt. Darüber haben gewisse Kommentatoren die meisten gehässigen Interpretationen verbreitet, die sogar halb unterrichtete Leute beunruhigen konnten. In diesem bestimmten Fall ist die Wirklichkeit sehr einfach. Diejenigen, die eine bzw. mehrere Varianten des vorhandenen falschen Dialogs akzeptieren, werden zu Verteidigern einer neuen Art des Freihandels im Namen eines abstrakten Rechts auf den Dialog um jeden Preis (wobei dieser in Form von ausgesprochenen Zugeständnissen an die Lüge bezahlt werden muss) und werfen uns vor, den falschen Dialog zu unterbrechen. Wir können uns jedoch nur dadurch und nicht anders als Träger des wirklichen Dialogs behaupten. Was das Problem der Ausschlüsse betrifft, sind wir der Meinung, dass wir auf experimentelle Weise das wünschenswerte Vorbild der nicht-hierarchisierten Organisation eines gemeinsamen Projekts gefördert haben, das nur durch die Selbstdisziplin der Individuen aufrechterhalten werden kann, die sich selbst in der Kohärenz der Theorien und der Handlungen erproben, durch die jeder den Anspruch erheben kann, alle anderen zu verpflichten. Die einseitigen Auffassungen Stirners über die Beziehungen des Egoisten zur Organisation, die er je nach Laune wählt und verlässt (obwohl sie einen wahren Kern dieses Aspekts der Freiheit enthalten), ermöglichen seiner passiven und entwaffneten Schattenorganisation keine selbständige Basis. Sie besteht als Organisation nur um momentan einen einzigen „Egoisten“ anzulocken, dessen persönliches Spiel mit Recht den groben Soziozentrismus dieser belanglosen Organisation verachtet (tatsächlich kann das stirnerianische Individuum genau so gut dem reaktionärsten Verein beitreten, um aus ihm seinen persönlichen Vorteil zu ziehen). Aber jede freie Vereinigung — „ein Band und keine Macht“ -, in der mehrere Individuen auf gemeinsamer Basis zusammenkommen, kann nicht der passive Gegenstand einer einzigen Laune sein. Diejenigen, die weder beurteilen noch befehlen wollen, müssen jeden von sich weisen, dessen Verhalten sie verpflichten will. Wenn die S.I. jemanden ausschließt, fordern wir von diesem Individuum keine Rechenschaft über sein Leben, sondern über das unsrige, über das gemeinsame Projekt, das er — zu feindlichen Zwecken oder aus Mangel an Einsicht — fälschen wollte. In unseren Augen bleibt jeder für sich selbst frei (dass diese Freiheit im allgemeinen arm ist, ist eine andere Frage, ohne die solche Unternehmen wie die S.I. zur Zeit überhaupt nicht notwendig wären) und indem wir ein Individuum, das immer autonom geblieben ist, seiner alleinigen Freiheit übergeben, teilen wir dadurch nur mit, dass diese Autonomie sich innerhalb unseres gemeinsamen Projekts nicht entwickeln konnte: Indem wir einen nach den Spielregeln zurückweisen, deren Annahme er geglaubt bzw. vorgetäuscht hatte, weisen wir eigentlich unseren eigenen Verzicht zurück.

Es scheint uns von Nutzen zu sein, diese Äußerungen durch Auszüge aus zwei Briefen zu präzisieren, die wir vor kurzem an einen unserer Korrespondenten in Osteuropa geschrieben haben.

(Aus dem ersten Brief.) Einige unserer theoretischen Positionen — über das Spiel, die Sprache usw. — würden nicht nur Gefahr laufen, unwahr und wertlos zu werden, sondern sie wären heute schon wertlos, wenn wir sie in Koexistenz mit dem Dogmatismus einer Lehre verteidigen würden, welche immer diese auch sein würde. Wir sind alle mit Ihnen der Meinung, dass „die Freiheit, alle ungewohnten Wege zu gehen“ absolut sein muss — und nicht nur auf dem künstlerischen bzw. theoretischen Gebiet, sondern auch in allen Aspekten des praktischen Lebens. Aus tausenderlei Gründen, von denen die östliche Erfahrung am offensichtlichsten ist, wissen wir, dass eine an die Macht gelangte Ideologie aus jeder teilweisen Wahrheit eine absolute Lüge macht … Wir sind keine Macht innerhalb der Gesellschaft, so dass unsere „Ausschlüsse“ nur unsere Freiheit zum Ausdruck bringen, uns von dem um uns herum oder sogar unter uns vorhandenen Konfusionismus zu unterscheiden, der dieser bestehenden sozialen Macht viel näher steht und all ihre Vorteile besitzt. Nie wollten wir irgendwen daran hindern, seine Gedanken auszudrücken oder nach seinem Willen zu handeln (und wir haben nie versucht, die praktische Stellung zu erlangen, die es uns ermöglicht hätte, einen Druck in dieser Richtung auszuüben). Nur weigern wir uns, selbst gegen unsere Überzeugungen und Neigungen mit dem Konfusionismus vermischt zu werden. Beachten Sie, dass es um so lebenswichtiger ist, da wir fast gar keine Möglichkeiten haben, unsere eigenen Überzeugungen und Neigungen frei auszudrücken, so wie sie wirklich sind, da sie deutlich gegen den Strom schwimmen. Unsere „Intoleranz“ kann nicht mehr als eine — sehr begrenzte — Antwort auf die praktisch sehr starke Intoleranz und Ausschließlichkeit sein, auf die wir besonders bei der „etablierten Intelligenz“ überall stoßen (und die viel stärker sind als die, unter denen der Surrealismus gelitten haben mag) und die uns kaum überraschen. So wie wir keineswegs eine Kontrollmacht in der Gesellschaft sind, weigern wir uns, eines Tages durch irgendeine politische Modifizierung zu einer solchen zu werden (auf diesem Gebiet befürworten wir die radikale Selbstverwaltung, Arbeiterräte, die jede — staatliche oder sogar „theoretische“ — getrennte Macht abschaffen). Wir lehnen es sogar ab, uns in dem kleinen, uns gegenwärtig möglichen Maßstab in irgendeine Macht zu verwandeln, indem wir es nicht akzeptieren, Jünger anzuwerben, die uns zusammen mit diesem Recht auf eine Kontrolle über sie und auf ihre Führung einen größeren anerkannten sozialen Wert verleihen würden — aber als eine übliche künstlerische bzw. politische Ideologie … Man kann die praktischen Bedingungen eines freien Denkens hier und im Osten — oder z.B. in Spanien — nicht verwechseln. Dort, wo nichts offen ausgedrückt werden darf, muss man selbstverständlich das Recht auf den Ausdruck für alle fordern. Aber unter Verhältnissen, in denen jeder sich ausdrücken darf — wenn auch mit enormer Ungleichheit —, muss ein radikales Denken zuerst — ohne selbstverständlich diese praktische Freiheit abschaffen zu wollen — sein Recht darauf fordern, zu existieren (einen „ungewohnten Weg“ dieses Möglichen), ohne „rekuperiert“ und vertuscht zu werden durch eine Ordnung, die offensichtlich diese offene Konfusion und Kompliziertheit beherrscht, die sichtbar sind und sogar schließlich das Monopol der Erscheinung besitzen (vgl. unsere Kritik des „Spektakels“ in einer Gesellschaft des Konsums von im Überfluss vorhandenen Waren). Letzten Endes ist die herrschende Toleranz einseitig und dies auf Weltebene trotz der Antagonismen und der Kompliziertheit der verschiedenen Typen von Ausbeutungsgesellschaften. Die überall etablierte Macht — sie wird grundsätzlich von den toleranten Leuten toleriert, die das Wort führen. Sie sagen, Sie leben in X … Sie würden in Paris erleben, wie unsicher diese toleranten linken Intellektuellen letztlich sind — voller Verständnis und Toleranz auch gegenüber den in X bzw. in Peking etablierten Verhältnissen. Die „Richtung der Geschichte“ — so nennen sie ihre hegelianische Billigung all dessen, was sie täglich in den Zeitungen lesen.

(Aus dem zweiten Brief.) Eine radikal andere Ausgangsbasis stellt faktisch zuerst die Wahrheit der vergangenen Befreiungsversuche wieder her. Von der alten Konfusion muss man sich deutlich unterscheiden und folglich auch von deren offenen oder verhohlenen oder einfach unbewussten Anhängern. Natürlich müssen wir die negative Last der von uns gewählten Haltung ertragen. Dieses Negative müssen wir zugeben … Wir sind mit Ihnen einverstanden über die Einheit des Problems der aktuellen Avantgarde. Wir fangen praktisch mit dem Dialog überall dort an, wo diese Geistesverfassung in einem radikalen Sinn zur Erscheinung kommt. Denn diese Geistesverfassung ist in sich selbst durch einen Kampf zwischen ihrer Wahrheit einerseits und ihrer durch die Macht organisierten Rekuperierung andererseits geteilt.

Über zwei Bücher und ihre Autoren

Im Mai 1965 sind bei Julliard gleichzeitig zwei Bücher von Francois George — Obduktion Gottes — und von seinem Bruder Jean-Pierre — Veranschaulichung der tragischen Illusion — herausgekommen. In ihrer Gesamtheit legten diese Bücher — selbstverständlich in der alleinigen Verantwortung ihrer Verfasser — einen Teil der Probleme und sogar der besonderen Antworten und Formulierungen dar, die die Zeitschrift Situationistische Internationale zuvor bekannt gemacht hat.

Zuerst soll darauf hingewiesen werden, dass die Presse Francois und J.-P. George sofort — vorgeworfen hat, ihre Werke „bei einem bürgerlichen Verlag“ veröffentlicht zu haben (L’Express vom 17.5.65). Die Umschlaggraphik, deren Avantgardismus tatsächlich ziemlich bedauernswert ist, da er in Deutschland schon seit den 20er Jahren veraltet und in Frankreich in der Nachkriegszeit durch die Veröffentlichungen der Zeitschrift K bekannt gemacht worden war, wurde sogar zum Inhalt der Kritik eines scharfen Denkers namens Jean Freustié, der uns dann folgendes mitteilte: „Dass unsere Gesellschaft auf eine Gesellschaft der ‚entfremdeten‘ und von der Werbung verzehrten Konsumenten reduziert und dass in ihr der Mensch zum Gegenstand wird — das hat man schon bedacht.“ (Nouvel-Observateur vom 17.6.65). Durch das viele Denken hat Freustié aber nicht einmal in diesen Büchern die klassische Banalität seiner eigenen geistigen Umwelt gesehen. In ihnen werden „kunterbunt durcheinander Stalin, Chruschtschow, Sartre, Louis Armand und Bloch-Lainé“ angegriffen, bemerkt er, „was ihn trotz allem verblüfft“, wie er zugibt, bevor er eine solche Haltung als einen „romantischen Verzicht“ bezeichnet. Es ist gar nicht interessant, auf die Beziehungen zwischen Sartre und Stalin zu antworten, sondern vielmehr auf die zwischen dem kritischen Denken und dem Verlagswesen (wobei die genauen Absichten und Verdienste der beiden betreffenden Bücher nicht berücksichtigt werden). Es liegt auf der Hand, dass es zur Zeit auf der Welt nur vier Verlagsformen geben kann: die bürokratisch-staatliche; die bürgerliche, die halb wettbewerbsmäßig ist, obwohl sie einer wirtschaftlichen Konzentrationsbewegung unterworfen ist; die unabhängige dort, wo eine radikale Theorie sich selbst unter legalen Verhältnissen veröffentlichen kann und letztlich die geheime. Die S.I. — und natürlich jede, irgendwo hervortretende kritische Strömung — praktiziert die zwei zuletzt aufgezählten Formen und wird sie auch weiterhin praktizieren; sie kann die zweite in vielen Fällen benutzen (um eine qualitativ andere Verarbeitung zu erlangen), da diese Form potentiell so viele Widersprüche enthält wie eine anarchische Konkurrenz und nicht geplante ideologische Unsicherheiten in ihr übriggeblieben sind. Sie lässt sich natürlich nur mit der ersten absolut nicht vereinigen, aus dem sehr einfachen Grund, falls es notwendig ist, daran zu erinnern: ein Verlag bürgerlich-wettbewerbsmäßigen Typs will keinen Zusammenhang zwischen sich und seinen verschiedenen Autoren garantieren; seine Autoren werden für sein Wesen nicht verantwortlich gemacht und umgekehrt ist der Verleger für das Leben bzw. die Ideen eines Autors überhaupt nicht verantwortlich. Nur der bürokratisch-staatliche Verlag (bzw. der von Parteien, als Ausdruck einer solchen, im Entstehen begriffenen Bürokratie) haftet auf wechselseitige Weise vollständig für seine Autoren: er muss auf jedem Gebiet für seine Autoren bürgen und seine Autoren müssen auch für ihn bürgen. Dadurch stellt er für jeden revolutionären Ausdruck eine doppelte Unmöglichkeit dar.

Durch eine andere unredliche, von einem gewissen Bernard Lambert in Arts vom 9. Juni an den Büchern der Brüder Georges geübte Kritik wird enthüllt, dass sie „zufällig einen gemeinsamen Lehrer“ — die S.I. — „bestohlen haben“ — und dies ohne Talent: „Nur deshalb verweile ich so lange bei der S.I. (zu beachten ist: er hat gerade 30 besonders schwachsinnige Zeilen über sie geschrieben!), weil jedes dieser beiden Bücher eine Art Unterarbeit von ihr darstellt, das Werk eines Kopisten, der ein Verfahren kommerzialisiert“. Man möchte glauben, das Lamberts Strenge durch die persönliche Überlegenheit gerechtfertigt wird, die ihm von denen, die ihn zufällig kennen, auf dem Gebiet des Kokettierens mit subversiven Neuigkeiten zuerkannt wird. Diese Art aber, Bezug auf situationistische Positionen zu nehmen, von denen die „intellektuelle“ Presse nie spricht, als ob sie von allen angenommen bzw. diskutiert würden, ist höchst verdächtig. Alles wird klar, wenn dieser Kritiker ungeschickterweise hinzufügt: „Man versteht, wie verlockend diese Bewegung sein kann und es wundert einen nicht zu sehen, wie viele Intellektuelle (wie z.B. Joubert in Strassburg) sich zusammen mit den Gründern oder nicht dieser schönen Übung hingeben, bei der oft die Intelligenz das ist, was man am wenigsten entbehrt.“ Es wird genügen zu wissen, dass dieser Joubert aus Strassburg, der hundertmal unbekannter als die Brüder George oder Lambert selbst ist, eine Zeitschrift von modernistischen Protestanten leitet, in der man sich rühmt, ab und zu die S.I. und Marx zu zitieren. Schon im ersten Augenblick, in dem solche Theoretikerlarven versucht haben, uns näher zu kommen, haben wir geantwortet, dass wir uns niemals mit Pfaffen unterhalten würden, wie abweichend sie auch immer sein bzw. werden könnten. Auf solch armes Wild sind also zur Zeit die Journalisten angewiesen, die auf einen französischen Nashismus — „zusammen mit den Gründern oder nicht“ — lauern. Vom selben Standpunkt aus kann verstanden werden, warum die Kritiker, die nie auf ein einziges der doch schreienden Plagiate von situationistischen Veröffentlichungen durch Modedenker (von denen Henri Lefebvre der unglücklichste war) hingewiesen haben, die Brüder George gern dessen beschuldigen würden, da diese sehr viele unserer Ideen bzw. Sätze übernommen haben und uns auch auf vielen Seiten offen zitiert haben.

Nachdem Francois und J.P. George diese Bücher als persönliche Werke veröffentlicht hatten, die den Situationisten vollständig zustimmten, ersuchten sie die S.I. um ihren Beitritt. Sie kamen ziemlich lange und oft mit mehreren von uns zusammen. Schließlich mussten wir beide ablehnen — aber aus verschiedenen Gründen. Da beide öffentlich unseren Boden betreten hatten und wir meinten, dass wir sie dort nicht aufhalten konnten, müssen wir sagen, warum denen unsere Gründe mitteilen, die sie eventuell zu berücksichtigen haben. Wir diskutierten nicht über den Inhalt — und selbstverständlich noch weniger über den theoretischen Inhalt — ihrer Bücher, sondern über ihre Fähigkeit, selbständig zu denken und zu leben. Vom Monat Juli an mussten wir uns weigern, Francois weiter zuzuhören, der alle langweilte. Er legte die offensichtlichste Unfähigkeit an den Tag, auch nur den geringsten Gebrauch von den Konzepten und dem Lebensstil zu machen, die er mit lobenden Worten in seiner Obduktion Gottes vorgestellt hatte. Ein solches Lob kann uns unmöglich genügen, uns verlocken und seine Träger für uns interessant machen. Der durch zwei oder drei armselige Zwangsvorstellungen gedrungene theoretische Pudding, den der sich selbst überlassene Francois George anzubieten hatte, zeigte leider, dass er sich keinen Punkt der Theorien hatte aneignen können, die er in seinem Buch mit unwissender Begeisterung übernommen hatte. Da er grundsätzlich zum Dialog unfähig war, sowohl aus einer albernen Angst vor jedem Abenteuer des Lebens als auch aus einer voreiligen Verbitterung wegen der Mühe, zur theoretischen Information und Kohärenz zu gelangen, hätte Francois George sich auf eine typische Anhängerhaltung beschränken müssen, der trotz seiner Ansprüche einer einseitigen Belehrung unterworfen bleibt. Das widerspricht aber vollkommen unseren Zielen und Neigungen. Eine solche Belehrung, egal ob der Anhänger ihr ehrfurchtsvoll zuhören oder sie kindisch beanstanden will, hat unter den Situationisten keine wirkliche Existenzgrundlage. Wenn jemand seine Beziehung zu uns eine Belehrung nennt — wobei es nicht von Bedeutung ist, ob er sich darüber freut oder beklagt — so schaffen wir sie sofort ab und beweisen dadurch praktisch, dass sie gewiss nicht für eine positive Lehre gehalten werden kann.

Jean-Pierre George verfiel dieser subjektiven Inkohärenz nicht und die Diskussion, die mit ihm unter besseren Umständen angefangen hatte, dauerte bis zum Herbst. Dann nahm aber eine objektive Inkohärenz überhand. Es wurde ohne Mühe entdeckt, dass er ein allzu biegsames Rückgrat hatte — und zwar nicht nur uns, sondern auch anderen gegenüber (vgl. seine Unterschrift in der Nummer 3 des Magazins Pariscope neben Jean Cau). An diesem Punkt glaubte er, er könne zu einer Art Flucht nach vorn greifen: er kam zu uns und sagte mit unbefangener Miene, dass nach seinen neuesten Berechnungen jedes radikale Denken damit viel (wie viel eigentlich?) gewinnen würde, sich offiziell vom Begriff des „Kompromisses“ loszusagen. Darin war er ein Vorläufer des geschickten Domenach, der seither jede Spur des Wortes Entfremdung abschaffen wollte; nur hatte er sein Publikum nicht so gut gewählt. Da wir in der S.I. mehr oder weniger ergebene Anhänger gar nicht brauchen, können wir nur diejenigen, die unsere Genossen sind bzw. es werden wollen, vor einigen bestimmten unter uns oder öffentlich eingenommenen Haltungen warnen, die gewiss jeden Dialog unmöglich machen würden. Eine solche Warnung ermüdet uns bereits und ist uns zuwider, da sie ihre eigene Unfähigkeit zur kohärenten Autonomie innerhalb der S.I. zur Genüge zu erkennen gibt. Die Wiederholung derartiger Warnungen bei verschiedenen Gelegenheiten ist ein genügendes Symptom, um den zurückzuweisen, der so unsicher ist. Aus um so besserem Grunde ist es nicht einmal denkbar, dass wir ihnen Vorwürfe machen, wenn sie eine einzige dieser Warnungen nicht berücksichtigen. Dann haben wir ihnen buchstäblich nichts mehr zu sagen.

Indem wir Francois und Jean-Pierre George mit fast übermäßiger und auf jeden Fall lobenswerter Geduld beachteten, konnten wir sie genügend kennenlernen, noch bevor sie der S.I. beitraten; sie brauchten nicht „ausgeschlossen“ zu werden — sie sind vergangen. Es bleibt nichts von ihnen übrig. Das können Sie selbst feststellen, wenn Sie es nicht glauben wollen.

Die Reservearmee des Spektakels

Die kleine Zeitschrift Front Noir ist nur wegen einer lustigen Einzelheit nennenswert, des einzigen allgemeinbedeutenden Merkmals in einem Gewebe alter „avantgardistischer“ Banalitäten, das für den Familienbedarf dieser Tribüne zugeschnitten wird: es wird dort über die Situationisten polemisiert, ohne sie zu nennen. Die aus dem erschöpftesten Randgebiet des Surrealismus hervorgegangene Front Noir bezeichnet also andeutungsweise die S.I. als „eine mit dem offiziellen Surrealismus rivalisierende Gruppe“. Die Front Noir-Ideologen, die in den Gedichten, die sie ungeniert veröffentlichen, ihre deutliche Herkunft vom Surrealismus — aber vom letzten Bodensatz — aufzeigen, haben geglaubt, sie hätten jede Spur durch die Verkündung verwischt, dass sie beschlossen haben, über jede „kontrollierte Benennung hinaus nur Künstler“ zu sein — genauso wie sie hoffen, sich mit einem Schlag vom Avantgardebegriff zu befreien, indem sie ihn ganz und gar mit der leninistischen Praxis identifizieren. So verteidigen sie also ihr Recht auf dieses poetische Stammeln gegen „die bei den Karrieremachern sehr beliebte Theorie der Aufhebung“ — hier soll der gebildete Leser die S.I. und andere mehr erkennen. Der Dichtung von Front Noir-Autoren wird ihr Wert und sogar ihre sonst recht fragliche poetische Qualität dadurch verliehen, dass sie sehr strenge Revolutionäre sind. Was sie noch vor kurzem dadurch bewiesen, dass sie Trotzkisten waren. Jetzt — vgl. Nummer 7/8 — geben sie bekannt, dass sie noch revolutionärer sind, da sie sich der Theorie der Arbeiterräte angeschlossen haben; das geschah, als sie den Marxologen Rubel kennengelernt haben, der bei ihnen unter unauffälligen Anfangsbuchstaben das unterbringt, was seit der Einstellung von Arguments unveröffentlicht in seinem Schubfach bleiben musste. Da sie nie weder die wirkliche Ausarbeitung noch die Anwendung einer revolutionären Theorie ins Auge gefasst haben, begnügen sich die Front Noir-Autoren damit, ihre eigene, bis heute tatsächlich ziemlich rein erhaltene öffentliche Nicht-Existenz allen anderen, von ihnen entweder zurückgewiesenen oder kopierten Strömungen entgegenzustellen, die sie so vorstellen, als ob sie — die S.I. wie auch der Surrealismus oder Robbe-Grillet — von der herrschenden Mode in gleicher Weise akzeptiert wurden. Diese rasende Unehrlichkeit bringt genügend die elende Eifersucht ans Tageslicht, von der Front Noir heimgesucht wird. Als einzige gegenwärtige Kompensation eignet sie sich gerade auf der winzigen Ebene ihres Monologs die Sprache der aktuellen Macht selbst an, die ihre Gegner denunziert, ohne genau zu sagen, wer sie sind, und natürlich auch ohne ihre wirkliche Positionen näher zu bestimmen.

Über Front Noir können wir das sagen, was wir schon über andere „reine Seelen“ gesagt haben, die der S.I. den nach ihrer Meinung allzu guten Erfolg vorgeworfen haben, bevor sie in Lacans Psychoanalyse oder dem rheinländischen Urbanismus einen Platz gefunden haben: diejenigen, die einen solchen „Erfolg“ im Namen ihrer vergangenen und gegenwärtigen Untätigkeit denunzieren, werden schließlich irgendetwas akzeptieren, wenn ihnen nur die Gelegenheit gegeben wird. Die Strenge solcher Leute wurde nicht nur nie auf die Probe gestellt, da sie für alle vollkommen uninteressant waren, sondern der Stil, den sie schon in ihrer sauren Einsamkeit zur Schau stellten, gibt noch dazu alle Garantien dafür, dass sie sich gegebenenfalls wie ihre glücklicheren Konkurrenten in diesem kulturellen Spektakel behaupten würden, dass sie bisher sitzen ließ.

Über einige Forderungen ohne Gebrauchsanweisung

Der orientalische Despotismus von Karl Wittfogel ist hauptsächlich ein wichtiger Beitrag zur marxistischen Theorie über die zentrale und vernachlässigte Frage der ökonomischen Bedeutung des Staates in der Geschichte. Es ist leicht, die vielen Irrtümer in diesem Buch schon wegen ihrer Ungeheuerlichkeit abzuweisen. Der ganzen aktuellen Orientierung Wittfogels liegt die quasi geographische Identifizierung des „orientalischen“, aus der „hydraulischen Produktionsweise“ hervorgegangenen staatlichen Totalitarismus mit der aktuellen bürokratischen Zone der Welt zugrunde. Dabei übersieht er einerseits das Vorhandensein einer industriellen Entwicklung in der aktuellen bürokratischen Gesellschaft, die tatsächlich ihren ersten Aufschwung in den Verhältnissen der Bourgeoisie des europäischen Mittelalters hatte, die aber seitdem überall angepasst und verwaltet werden musste; andererseits unterlässt er, seine Analogien bis zur entscheidenden Rolle des Staates im konzentrierten, westlichen Kapitalismus auszudehnen. Gerade in dieser von Wittfogel vernachlässigten Perspektive zeigt sich die universelle Aktualität einer Macht am besten, die Marx’ Analysen wegen ihres vorübergehenden wirtschaftlichen Zurücktretens zwischen dem Mittelalter und dem XIX. Jahrhundert unterschätzt haben, wodurch der kumulative „Start“ der Ökonomie und schließlich die Erscheinung eines ökonomischen Denkens effektiv ermöglicht wurden). Wittfogels Schematisierung will zu dem Schluss führen, dass die westliche Freiheit die hydraulischen Sklaven so schnell wie möglich durch einen Krieg zurückdrängen muss, die sie von Moskau und Peking aus belagern. Am Schluss seines Buches zitiert Wittfogel Herodots Satz, in dem behauptet wird, dass wer weiß, was Freiheit ist, „nicht nur mit der Lanze, sondern auch mit der Axt“ für sie kämpft. Dieser spezielle Optimismus, der hier Doktor Strangelove zustimmt, wird übrigens durch die Tatsache als falsch bewiesen, dass oft gerade diejenigen, die die Freiheit nie kennengelernt haben, am besten für sie gekämpft haben, wie die Vietnamesen und die Massen in Santo Domingo es Wittfogels „marines“ schon gezeigt haben. Der Leser könnte sich also in den Wahnbildern, in denen Wittfogel sich verläuft, allein zurechtfinden. Das wird durch das pedantische Vorwort aber gewiss nicht erleichtert, in dem Pierre Vidal-Naquet schnell seine eigene „linke“ Gegeninterpretation eigenmächtig ohne die Erlaubnis des Verfassers eingeschoben hat. Diese „linke Kritik“, über die der Leser nachdenken soll, bevor er zum — sicherlich rechten — Denken des Autors gelangen darf, ist sowohl inhaltlich als auch in ihrer Präsentationsweise autoritär. Vidal-Naquet kriecht so sehr vor dem Neo-Stalinismus, dass er dazu beiträgt, eine Teilung der Welt à la Wittfogel fortbestehen zu lassen. Lüge gegen Lüge — man braucht nur die Wahl zu treffen. Ein ausreichend schändliches qualitatives Beispiel: Vidal-Naquet gestattet sich in einer Fußnote auf S. 41 seines Vorwortes zu schreiben: „Unter Marxisten verstehen wir die Mehrheitsströmungen der internationalen kommunistischen Bewegung. Offensichtlich haben die stalinistischen Thesen überhaupt keinen Einfluss auf diejenigen, die ihrem Wesen nach antistalinistisch waren. Deren Position hier studieren zu wollen, wäre für unser Thema uninteressant.“

Gabels Buch Das falsche Bewusstsein (Editions de Minuit) ist im großen und ganzen ein ausgezeichneter Vergleich zwischen Schizophrenie und politischer Ideologie, in dem gezeigt wird, wie beide aus einem Verlust der dialektischen Erfassung der Wirklichkeit entstehen. Gleichzeitig führt jedoch der Mangel an einer daraus resultierenden Kritik der Praxis der politischen Ideologie (bei Gabel überwiegt die psychiatrische Beschreibung vollständig die Erkennung der mit der ideologischen Entfremdung in gegenseitiger Beeinflussung stehenden Interessen) zu einer bestimmten Schwäche Gabels gegenüber der stalinistischen Orthodoxie, sowie gegenüber dem westlichen akademischen Denken — siehe z.B. den unwillkommenen Versuch, Bergsons Lehre zu retten. Das falsche Bewusstsein, in dem jede revolutionäre Theorie und Aktion zusammen mit den Abwässern der Ideologie zurückgewiesen wird, stellt sich letzten Endes als ein Buch der „Spezialisation ohne Bezug“ heraus und eines Spezialisten ohne Perspektive, das nicht wissen will, wozu es dienen und wem es nützlich sein kann. Nun kann das von Gabel oft erwähnte dialektische „Wieder auf die Beine Stellen“ — nach Marx’ Behandlung der hegelschen Methode — keineswegs als die bloße Verbesserung der dialektischen Rede im Buch selbst aufgefasst werden. Wie Karl Korsch in Marxismus und Philosophie richtig darauf hinwies, ging Hegels Umkehrung weiter. Ein dialektisches Buch in unserer Zeit ist nicht nur ein Buch, das dialektisch eine Schlusskette entwickelt; es ist ein Buch, das seine eigene Beziehung zur wirklich umzuwandelnden Totalität erkennt und kalkuliert.

Maurice Pianzolas Buch Maler und Bauern (Verlag „Cercle d’Art“ 1962) hat den Verdienst, die Beteiligung der hauptsächlichen Künstler der damaligen Zeit an dem Bauernkrieg von 1525 — und oft in einer führenden Rolle unter den Aufständischen — zu zeigen. Leider ist diese Abhandlung im Rahmen eines Kunstbuches begrenzt.

Kostas Papaioannous’ Taschenbuch Die Marxisten in der Sammlung Das Wesentliche stellt eine vortreffliche, klug und redlich kommentierte Auswahl dar. Doch beschränkt sich dieses Verständnis der Texte auf die Perspektive eines Historikers, der eine vollendete Periode behandelt. Es ist seltsam, solche Texte herauszubringen, ohne deren Zukunft zu ahnen. Der mögliche Gebrauch seines Buches entgeht dem Autor, der anscheinend sogar glaubt, es habe gar keinen. Das ist ein Beispiel für ein grundsätzliches Kennzeichen der gegenwärtigen Massenkultur. Wegen der Widersprüche und oberflächlichen Unsicherheiten dieser Kultur können viele abstrakt brauchbare Informationen in ihr übermittelt werden — aber in einer praktischen Inkohärenz. Die seltsame, partielle, verhaltene Kohärenz von Papaioanous Arbeit ist der obere Grenzfall dieser Inkohärenz.

Sehr unterschiedlich zu den eben genannten Büchern, die lesenswert sind, ist Francoise Choays Sammelwerk Urbanismus — Utopie und Wirklichkeit (Verlag „Le Seuil“) Es ist nur wegen der Leistung nennenswert, dieses Thema behandelt zu haben, ohne auch nur eine einzige situationistische These erwähnt zu haben.

Der Historiker Lefebvre

Bekannt ist, wie Henri Lefebvre von 14 eilig abgeschriebenen situationistischen Thesen ausging, um vorgeblich eine neue Interpretation der Pariser Kommune herzustellen (vgl. das im Februar 1963 herausgegebene S.I.-Flugblatt In die Mülleimer der Geschichte). Da sein Buch, Die Proklamation der Kommune, dessen — importierte — Schlussfolgerung er schon Ende 1962 zur Bewunderung freigegeben hatte, endlich 1965 bei Gallimard herausgekommen ist, müssen noch einige Bemerkungen über dieses lange, nochmal überdachte und jetzt ganz zugängliche Werk gemacht werden, sowie über dessen allgemein sehr erfolgreiche Aufnahme.

Die situationistische Formel: „Die Kommune ist die größte Fete des XIX. Jahrhunderts gewesen“ ist als Leitgedanke dieser „Suche“ nach einer „totalen Geschichte“ anerkannt worden (aber selbstverständlich ohne das geringste Bewusstwerden einer theoretischen Erneuerung, zu der sie nur den Grund legen wollte) und wurde gleich von drei Vierteln der Kritiker begrüßt. „Das, was Lefebvre in seinem Buch eine ‚Fete‘ nennt. Tatsächlich war alles eine Fete in den Tagen und Nächten der Kommune“ (Duvignaud im Nouvel Observateur vom 22.4.65). „Der Aufstand vom März 1871 war zuerst eine Fete …“ (C. Mettra, Express vom 5.4.65). „Henri Lefebvres Werk über die Kommune läuft nicht Gefahr, unbeachtet zu bleiben. Die Pariser Kommune ist ‚eine ungeheuerliche, eine herrliche Fete‘, ‚eine revolutionäre Fete und die Fete der Revolution zugleich‘ gewesen. So wird der Ton angegeben“ (A. Duhamel, Le Monde vom 6.9.65). „So hat Henri Lefebvre Recht, der gleich betont hat, wie wichtig der Stil in den großen historischen Ereignissen sei, darauf hinzuweisen, dass der Stil der Kommune die Fete war“. (J. Julliard, Critique vom Dezember 1965). Und Michel Winock in Esprit vom Februar 1966: „Was bietet uns die Kommune außer ‚dem Ende des Staates und der Politik‘, welches ist ihre tiefere Bedeutung? Die breiteste, die man sich vorstellen kann: ‚die Verwandlung des alltäglichen Lebens in eine endlose Fete, in eine Freude, die keine andere Grenze und kein anderes Maß kennt als den schicksalhaften Tod‘. Lefebvre tritt hier nicht vor der utopischen Literatur zurück: gerade aus der aufmerksamen, tagtäglichen Beobachtung der Pariser Ereignisse von 1871 — derer, die manchmal die am wenigsten ‚historischen‘ zu sein scheinen — folgert er den ‚Fetenstil‘ als ‚den eigenen Stil der Kommune‘. Das Wort klingt nicht übertrieben … Was Lefebvre dann dazu führt, in der Kommune ‚den einzigen Versuch eines revolutionären Urbanismus‘ zu sehen … Von nun an kann man nicht mehr von der Kommune sprechen, ohne Henri Lefebvres Ideen zu kennen.“

Man sollte übrigens nicht glauben, dass Lefebvre seine historische Nachforschung darauf beschränkt hat, augenblicklich unveröffentlichte Texte auszubeuten. In der im April 1962 herausgegebenen Nummer 7 der Zeitschrift Situationistische Internationale waren folgende Zeilen zu lesen: „Der Ansturm der ersten Arbeiterbewegung gegen die gesamte Organisation der alten Welt ist schon lange zuende und nichts könnte ihn noch einmal zum Leben erwecken. Er schlug fehl, nicht ohne großartige Ergebnisse erzielt zu haben, die aber nicht das angestrebte Resultat waren. Zweifellos ist diese Abweichung in Richtung teilweise unerwarteter Resultate die allgemeine Regel menschlicher Aktionen, aber die Ausnahme ist eben gerade der Moment der revolutionären Aktion, der qualitative Sprung, das Alles oder Nichts. Man muss die klassische Arbeiterbewegung wieder mit offenen Augen zu studieren lernen, und vor allem klaren Kopf bewahren gegenüber den verschiedenen Arten der politischen und pseudotheoretischen Erben, denn diese haben nur ihre Schlappe geerbt. Die augenscheinlichen Erfolge dieser Bewegung sind ihre fundamentalen Fehlschläge (der Reformismus oder die Einrichtung einer staatlichen Bürokratie), und ihre Fehlschläge (die Pariser Kommune oder die Revolte in Asturien) sind bisher ihre aufschlussreichsten Erfolge für uns und für die Zukunft.“ Drei Jahre später kann man diesen Absatz umgewandelt in Lefebvres Denken wie folgt lesen: „Heute müssen wir die Arbeiterbewegung wieder ganz neu studieren lernen — und zwar gleichzeitig mit klarem Kopf und kühn. Der erste, auf Europa begrenzte Ansturm dieser Bewegung gegen die alte Welt ist teilweise ein Fehlschlag. Er hat die Lage tief verändert und zu großartigen Ergebnissen geführt, die aber nicht dem entsprechen, was die Menschen der ursprünglichen Theorie und Praxis wollten. Einige von denen, die die politischen und theoretischen Erben der Kommune sein wollen, haben nur ihre Schlappe geerbt, deren Sinn sie gerade deswegen verloren haben, weil sie glauben bzw. behaupteten, erfolgreich gewesen zu sein. Gibt es nicht eine Dialektik des Sieges und der Niederlage, des Misserfolgs und des Erfolgs? Die Erfolge der revolutionären Bewegung haben ihre Misserfolge verschleiert; die Misserfolge sind dagegen — u.a. der der Kommune — auch Siege, die aufschlussreich für die Zukunft sind“ (Die Proklamation der Kommune, S. 39).

Aber, wird man sagen, Lefebvre konnte doch nicht ein so dickes Buch schreiben, indem er nur drei „situationistische“ Seiten weitläufig ausführte? Sicher nicht. Er hat vier bis fünf seit einigen Jahren passend erschienene Bücher gelesen, dank denen er ohne Mühe aber auch ohne Einheitlichkeit mehrere Untersuchungen über den Ablauf der Ereignisse vermengen konnte (so z.B. Dautrys und Schellers Buch Das ZK der zwanzig Pariser Bezirke, Editions Sociales, 1960). Schließlich hat Lefebvre, vermutlich um seinem letzten, damals noch lebenden Lehrer Gurvitch einen Gefallen zu tun, eine Verherrlichung des ihm vollkommen unbekannten Proudhon unternommen, dem er gelassen anrechnet, so etwas wie der Erfinder der Arbeiterautonomie zu sein! Gerade dieser Proudhon, ein ständiger Befürworter der Ordnung, der die bestehende Ordnung im Privateigentum (durch das Genossenschaftswesen) und überall sonst verbessern will; der unpolitische Feind jedes gewaltsamen Kampfes; der rückständige Geist, der mitten im XIX. Jahrhundert keine andere Wahl für die Frau sieht und duldet als die zwischen dem Zustand einer Prostituierten und dem einer Hausfrau; der Mann, der seine ganze Untüchtigkeit als Moralist trefflich zusammengefasst hat, indem er sich gerade gegen das bestehende Minimum an Arbeiterautonomie entschied: „Es gibt genauso wenig ein Streikrecht wie ein Recht auf Inzest und Ehebruch.“

Das ist aber nicht alles. Schon am Anfang seines Buches zeigt Lefebvre, was für eine armselige Vorstellung der Fete bzw. der Revolution er hat. Er forscht geistlos danach, wie literarische Formen — wie die Lyrik oder das Drama — damals in Paris diese Fete ausgedrückt haben, die er gemäß seiner Hypothese dort wiederfinden muss. Damit lässt er erkennen, dass er absolut nicht verstehen kann, dass das befreite Leben über diese Formen hinausgehen und selbst als Ausdruck und Aktion dermaßen selbständig werden kann, dass es in sich selbst seine Lyrik bzw. sein Drama besitzt in einer Qualität, die sich vollkommen von diesen wiedererweckten Kunstmasken des alten Karnevals der Trennung unterscheidet. Da er die Formel in unseren Thesen, die suggeriert, dass die offizielle Geschichte der herrschenden Gesellschaft dazu geneigt ist, die subversive Bedeutung einer Epoche sogar auf dem Gebiet ihrer künstlerischen oder poetischen Ausdrucksformen „verschwinden zu lassen“, schlechthin auf dem geistigen Niveau des Hauswartsklatsches missverstanden hat, glaubt Lefebvre gewagt andeuten zu können, Lautréamont sei ermordet worden (S. 169). Wie von den Autoren des berühmten „Fantomas“-Abenteuer geschrieben — jeder der Reihe nach ein Kapitel — ist Lefebvres historisches Monument mit derselben halbschlafmäßigen Lässigkeit wie ein intellektueller Abenteuerroman verfasst, dessen Höhepunkt in dieser verblüffenden Idee besteht, Marx hätte auf die Pariser Kommune gewartet, um die Zerstörung des Staates theoretisch zu befürworten.

Das situationistische Gespenst, das in Lefebvres Denken und in einigen anderen Kleinköpfen der gegenwärtigen spektakulären Kultur umgeht, wird hier durch den einem geheimnisvollen Guy Debord abgestatteten Eingangsdank ausgetrieben, der damit aber in dieser glücklicherweise gespenstischen Form an der Ausarbeitung und Billigung dieses Buchs teilhat. Seit Stalinud, den der treue Henri Lefebvre hoffnungslos 30 Jahre lang geliebt hat (es sei denn, er hatte Garaudisk noch lieber) konnte man keine tüchtigere Verbesserung der historischen Genauigkeit erleben — typographisch (mangels besserer Mittel).

Der Denker aus Nanterre — wie kein anderer in der ganzen Pariser Gegend gegen die Lächerlichkeit immun — hat durch seine Handhabung einer glänzenden Dialektik ein schwieriges Thema gemeistert.

Äusserungen eines Schwachkopfes

Noch schlimmer als der alte ist der Nouvel Observateur, ein Niagarafall der Dummheit — 6.810.000 Liter pro Sekunde — wobei ein beträchtlicher Teil dieser Ausflussmenge zwei seiner besonders verdienstvollen Redakteuren — Katia Kaupp und Michel Cournot — zuzuschreiben ist. Ihre Schriften werden als wertvolle historische Dokumente bei der Untersuchung der höchsten Entwicklungsstufe der spektakulären Auflösung der Kultur gelten: die mit der Ausdrucksvulgarität verbundene Dummheit macht aus ihnen einen Jean Nocher der Linken (einer Linken, die genauso grundsätzlich wie Jean Nocher der herrschenden Gesellschaft beipflichtet, bis auf einige, die „Modernisierung“ dieser Herrschaft betreffende Nuancen). Für ihren Einführungsfeldzug musste diese Wochenschrift zu Sonderleistungen greifen. So war in ihrer ersten Nummer (vom 19.11.1964) das fünfseitige Interview mit einem Star des Denkens zu lesen. Wir wollen hier einige seiner außergewöhnlichsten Äußerungen hervorheben, wobei die in Klammern gesetzten Bemerkungen jeweils von uns stammen und natürlich nicht von der Nouvel Observateur-Marionette, die vorgab, sich mit dem Wahrsager zu unterhalten.

„Vielleicht sind die jungen Leute, die mir heute begegnen“, so der Schwachkopf, „weniger Hitzköpfe als früher, mir fällt aber am meisten auf, dass sie politisch oft so weit sind wie ich. Ihr Ausgangspunkt ist mein Endpunkt … Vor ihnen steht außerdem ein ganzes Leben, um auf der Basis aufzubauen, die mein Ergebnis ist.“ (Selbstverständlich möchten die jungen Leute, die nicht zum selben Punkt des politischen Verfalls gelangt sind, keinesfalls den Schwachkopf sehen; für diejenigen, die leider dahin gekommen sind, könnten vielleicht hundert „vor ihnen“ liegende aufeinanderfolgende Leben nichts auf der Basis seines Endpunktes aufbauen, da alles zeigt, dass er eine geistige Sackgasse ist).

„Indem man die ‚yeah-yeah‘-Erscheinung benutzt hat, wollte man aus der Jugend eine Klasse von Konsumenten machen“. (Eine perfekte Umkehrung der Wirklichkeit: gerade deswegen, weil die Jugend in den modernen kapitalistischen Ländern zu einer sehr wichtigen Konsumentenkategorie geworden ist, treten Erscheinungen wie „yeahyeah“ auf.)

„Sie können nur auf die marxistische Ideologie anspielen. Meines Wissens gibt es heute keine andere. Die bürgerliche Ideologie glänzt nicht durch ihre Stärke, sondern durch ihre Abwesenheit.“ (Wer Marx gelesen hat, weiß, dass seine Methode eine radikale Kritik der Ideologien ist; wer aber nur Stalin gelesen hat, kann den „Marxismus“ dafür loben, die beste Ideologie geworden zu sein: die mit der stärksten Polizei.).

„Der Sozialismus kann als Idee rein sein — oder vielleicht erst viel später, wenn er zum Regime aller Gesellschaften wird. Inzwischen hat seine Verkörperung in einem besonderen Land zur Folge, dass er durch unendlich viele Beziehungen zur übrigen Welt gemacht und definiert wird. Dadurch verdirbt sich die Reinheit der Idee, wenn die Wirklichkeit Gestalt annimmt“. (Da sehen wir also einen marxistischen Ideologen mit seiner ideologischer Nummer! Die Ideen sind im Himmel rein und sie verkörpern sich in der Fäulnis. Dieser Denker kommt offensichtlich darüber hinweg, eine in ihren „Beziehungen zur übrigen Welt“ verdorbene Ware zu sein, da er selbst wirklich ist und von dem Grundsatz ausgeht, dass jede Verwirklichung in der Welt ein wesentliches Verderben sein muss — und uns dazu führen soll, so angegangenes Aas wie ihn zu bewerten.)

Gleich danach gibt der Schwachkopf folgende, von ihm sehr bewunderte Äußerung eines Malers wieder: „Unser Sozialismus wird dadurch bedingt, dass wir ein Binnenland ohne Zugang zur See sind“. (Ist er auch vielleicht nicht ein wenig durch die Abwesenheit eines Industrieproletariats in Mali bedingt? Eine Kleinigkeit, gegenüber der Geopolitik eines so gewichtigen Denkers!)

Auf die Vorstellung, dass alle Industriegesellschaften viele gemeinsame Kennzeichen hätten, erwidert der Schwachkopf: „Um das behaupten zu können, sollte man beweisen dass es in den sozialistischen Ländern einen Klassenkampf gibt, d.h. dass die einigen eingeräumten Vorteile angehäuft werden. Das ist aber nicht der Fall. Es gibt zwar sehr wirkliche Ungleichheiten, aber das von einem Betriebsdirektor verdiente Geld kann in der UdSSR nirgends reinvestiert werden. Es wird ausgegeben und kann in seinen Händen weder wiederhergestellt noch vermehrt werden, um zur Grundlage einer Klassenmacht zu werden“. (Diese Grundlage liegt anderswo — und zwar im Besitz des Staates. Das, was der Privilegierte in der UdSSR gewinnt, begründet nicht seine Macht, sondern bringt sie klar zum Ausdruck.)

„Die Sowjetmenschen nehmen daran Anstoß wenn einer glaubt, das Geld könne bei ihnen Macht verleihen.“ (Natürlich — es ist genau umgekehrt.)
„Sicherlich haben diese ‚oberen Funktionäre‘ zahlreiche Vorrechte, aber in genau dem Maße, in dem das Regime autoritär ist, gibt es eine gesellschaftliche Wandelbarkeit, ein Durcheinandergeraten, Stürze, ein ständiger Luftzug, durch den die Ankömmlinge von der Basis zum Gipfel befördert werden. Sollte es in der UdSSR zu Konflikten kommen, so würden sie die Gestalt des Reformismus und nicht die der Revolution haben.“ (Also ist die Willkür selbst gegen das Vorhandensein einer herrschenden Klasse in der UdSSR Zeuge, so dass man bei einem solchen Grad der Herausforderung der Intelligenz behaupten könnte, dass der Kapitalismus der freier Konkurrenz zu Marxens Zeit auch sozialistisch war, da viele Industriebesitzer durch dessen ökonomische Gesetze ruiniert wurden und es passieren konnte, dass einige Arbeiter zu Unternehmern wurden … — daher die Wandelbarkeit, das Durcheinandergeraten usw.)

Aber die Idee eines reinen Schwachkopfs solchen Umfangs wäre tatsächlich eine „reine Idee“. Ein solcher, wirklich vorhandener Schwachkopf muss sich noch dazu mit einer unterdrückenden Macht fest identifiziert haben. Demselben lag es nach dem bewaffneten Aufstand des ungarischen Proletariats in einem dieser „sozialistischen Länder“ in denen „man jetzt beweisen sollte“, dass es Klassenkämpfe geben kann, so sehr am Herzen, die Interessen der russischen Bürokratie zu verteidigen, dass er noch weiter rechts als Chruschtschow stand, als er schrieb: „Wahrscheinlich war der Bericht Chruschtschows der größte Irrtum, denn die öffentliche und feierliche Entlarvung und die detaillierte Darstellung all der Verbrechen eines heiligen Helden, der so lange das Regime vertreten hat, ist ein wahnsinniges Unternehmen, wenn eine beträchtliche Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung eine solche Aufrichtigkeit vorher nicht möglich macht … Das hat dazu geführt, den Massen die Wahrheit bekannt zu machen, die für sie nicht bereit waren.“

Der Denker, von dem wir gesprochen haben, ist Sartre, und wer immer noch ernsthaft über den philosophischen, politischen oder literarischen Wert (in einem solchen Salat gibt es keine Einzelteile) dieser wahren Null diskutieren will, die durch die verschiedenen Autoritäten aufgebläht wurde, der büßt gleich das Recht ein, selbst als Gesprächspartner akzeptiert zu werden von denen, die auf das mögliche Bewusstsein unserer Epoche nicht verzichten wollen.

Die Berufsrebellen — Zeugnisse und Fähigkeiten

Laut einer Associated-Press-Depesche vom 6. Mai 1965 „kam der nach 4 1/2 Jahren Gefängnis aus Algerien ausgewiesene Dr. Ronald B. Ramsey, ein schwarzer amerikanischer Psychologe, Mittwoch abend per Flugzeug in einem Rollstuhl in New York an. Er behauptete, er sei von der algerischen Geheimpolizei ‚misshandelt und gefoltert‘ worden. Er erklärte weiter, die Polizisten hätten ihn mit einem Strick an der Decke aufgehängt und sechs Stunden lang derartig durchgeprügelt, dass er einen Wirbelknochenbruch erleiden musste. Der Psychologe bestätigte, dass er den Grund nicht wüsste, warum er festgenommen worden war. ‚Denn‘, so sagte er, ‚ich stimme der algerischen Regierung zu‘. Dr. Ramsey erklärte weiter, er sei ebenfalls mit Strom gefoltert worden und er könne wegen seiner Inhaftierung und der Folgen der Misshandlung nur noch mit größter Mühe gehen und er leide an ständigen Kopfschmerzen und sonstigen Übelkeiten. Er sagte aber, dass er nicht verbittert sei: ‚Ich empfinde nur Liebe, Bewunderung und Ehrfurcht vor Ben Bellas Regierung. Wenn ich wieder gesund werde, bin ich gern bereit, noch einmal nach Algerien zu gehen‘, sagte er zum Schluss.“

Man weiß, dass die bolschewistische linke Opposition, als sie in einem bestimmten Augenblick festzustellen glaubte, dass Stalin damit begann, sich „seiner Rechten“ zu widersetzen, es im Inneren von Sibirien für ihre Pflicht hielt, ihn zu unterstützen. Sie hielt es für dringend, ihn daran zu erinnern, dass er die Disziplin in den Fabriken noch verstärken sollte, um seinen revolutionären Kurs bis zum Ende gehen zu können, ohne von Störern belästigt zu werden. Vergleicht man diese römischen Selbstverleugnungen mit der von Ben Bellas Onkel Tom, so wird dieser überrascht sein — sie haben gemeinsame Wurzeln. Die unmittelbaren Agenten wie auch die geistigen Lakaien der bürokratischen Macht haben eine Menge absurder Verbrechen akzeptiert, als ob sie das Wesen der Revolution selbst ausmachten. Gerade weil sie keineswegs geglaubt haben, dass die als Verräter behandelten Menschen tatsächlich solche waren, rührt sie die Bestätigung desselben Verfahrens nicht, wenn sie ihre subjektive Treue trifft. Sie meinten, dass dort, wo gehobelt wird, Späne fallen müssen, so dass sie sich nicht darüber wundern können, wenn sie selbst eines Tages unter den Spänen sind, die zum immer unsichtbaren Ergebnis dieses Hobelns beitragen. Wenn die „Revolutionäre“ dieses Jahrhunderts einmal akzeptiert haben, dass das erste revolutionäre Projekt, das den Übergang der Menschen in die bewusste Geschichte bezweckt, über den Umweg einer passiv manipulierten und vom Recht zu verstehen ausgeschlossenen Arbeiterklasse verwirklicht werden kann, haben sie damit gleichzeitig akzeptiert, den Preis dafür zu bezahlen, indem sie selbst passiv und wie Leichen manipuliert werden. Genau wie auf eine eigene, bewusste Aktion verzichteten sie auch auf die Aktion und das Bewusstsein der Massen und sie haben sie wie ein lästiges Problem der Polizei ausgeliefert.

Diese schöne Bescheidenheit, die die gesamte Wirklichkeit und die möglichen Erfolge der Forderungen der anderen munter preisgibt und das Offensichtlichste im Möglichen aus eigener Macht verheimlicht, d.h. aus der Macht von patentierten Revoltenexperten, ist eine einheitliche Bescheidenheit: sie gibt auf jedem Gebiet auf. Raymonde Borde (an dessen Karriere wir in S.I. Nr. 9 erinnert haben) schreibt z.B. in der Sonderausgabe der Zeitschrift Positif über den Erotismus (Sommer 1964): „Das liebe, sehr liebe Lesbierinnen-Phantasma hat Festungsarrest. Dieser bezaubernde Erotismus liegt in den geheimen Geistesprojektionen verborgen, denn er ist mehr als irgendein anderer terrorisiert. Und doch bricht im Leben eines Mannes die Erscheinung der ersten Lesbierinnen auf der schwarzen Leinwand der Phantasie wie das natürlichste Wunder der Welt hervor. Das geschieht etwa mit 16 Jahren. Eines Tages verdoppelt der Geist eine nackte, begehrte und willige Frau und durch diese einfache Summierung wird das vervielfacht, was sie in süßem Taumel vereinigt (…) Aber erbarmungslose Verhaltensregeln bringen diese Betörung zum Schweigen. Zuerst bekommt das Phantasma keine Antwort; umsonst sucht es nach Objektivierung. Die Hälfte der Menschheit — die Frauen — erklärt mit nur wenigen Ausnahmen, sie sei dafür unempfindlich (…) Ein allzu glühender Traum, um ihn zu berühren, ein Gedanke ohne Körper, ein geistiger Ritus … Die Phantasie kann unmöglich ungestraft träumen, wenn nie etwas an die Tür klopft.“ (Hervorhebungen von uns.). Borde kommt dann zu dem Schluss, dass „die große lesbische Filmkunst noch immer in den Kinderschuhen steckt, sie hat aber zweimal ihre Dichter gefunden“, und er erklärt, es seien Franju und Nico Papatakis.

Ohne über die jämmerliche Literatur zu ironisieren, durch die Borde uns sein Leben — sein Überleben — erzählt, kann man auf manche aufschlussreiche Punkte hinweisen: die Verdinglichung „der Lesbierin“ nach den schlimmsten Albernheiten der pseudo-sexologischen Spezialisierung, die unterwürfige Anerkennung des moralischen Terrorismus ohne das geringste praktische Experimentieren, der bei einer solchen Untertänigkeit tatsächlich vollkommen wirksam wird; der blinde Glaube daran, was Frauen solchen Meinungsforschern wie Borde sagen, eine ebenso bestürzende Naivität wie dieser soziologische Fragebogen, aus dem vor wenigen Jahren herauszulesen war, dass nur ein winziger Prozentsatz der in einem hochindustrialisierten Land befragten Arbeiter eine Revolution erwartete. Es gibt aber noch Schlimmeres: Borde ist ein stalinistisch-surrealistischer Revolutionär und einer der französischen Spezialisten für den revolutionären Film. Seit ungefähr 10 Jahren wiederholt er diese Rolle. Was macht einen Borde aus? Das sehen wir hier. Auf das, was Borde mit 16 Jahren wollte, um bei seinen eigenen Erklärungen zu bleiben, hat er verzichtet. Deshalb möchte er, dass der Film ihm das zeigt. Und indem er das fordert, gilt er als ein freier Geist, ein fortschrittlicher Filmemacher und ein Spezialist für den Erotismus — im Film. Sein erster Verzicht machte gerade diesen Spezialisten aus ihm. Aber die Diener des Spektakels, denen am vorderen, pseudo-kritischen und pseudo-revolutionären Rand dieses Spektakels ein Platz gegönnt wurde, bekommen selbstverständlich nur den kümmerlichsten Teil ab. Ihr träumerischer Reformismus ist deshalb zwangsläufig frustriert und hämisch, da das Spektakel als Ganzes es nicht nötig hat, ein Bild zu geben, das der wirklichen, von ihm verdeckten und aufrechterhaltenen, ausgebeuteten Existenz völlig widerspricht. Der erotisch-libertäre Aspekt des Spektakels wird immer nur ein streng kontrolliertes Bild sein gemäß einer Gebrauchsfunktion, durch die dem erotischen Bildmaterial in der direkten Werbung z.B. ein breiteres Betätigungsfeld offensteht als in der Film„kunst“. Warum sollte die unterdrückende Welt, der Borde und seinesgleichen einen solchen Respekt zollen, ihrer Ohnmacht sogar dieses Vergnügen zuteil werden lassen? Borde hat den Film, den er verdient. Wenn die tiefer liegende Zensur in der Gesellschaft und im Kopf der Zuschauer (deren Passivität Leute wie Borde vertreten, indem sie sie als Vorbildlich darstellen) einmal zusammenbricht, dann hat niemand mehr ein nur auf den Film beschränktes erotisches Interesse. So werden die Vorstehhunde des Spektakels immer wieder zu spät sein und immer wieder für die Verspätung arbeiten. Sie spenden ohne Widerspruch dem Beifall, was sie nicht tun und zugegebenerweise nicht tun können, wenn andere es ihnen von weitem und einseitig vormachen. Sie geben zu, das es für sie gut genug ist — und gerade durch dieses Geständnis werden sie als die anspruchsvollsten Menschen im Spektakel anerkannt — wenn Godard ihnen einen Film oder Mao Tse Tung ihnen ein Regime anbietet, das eine so „revolutionär“ wie das andere!

Sozialismus oder Planète

Mit Sicherheit behaupten wir das in vielen unserer Äußerungen anscheinend Gewagte, da wir überzeugt sind, dass die historische, unwiderlegbar schwerwiegende Bestätigung folgt. Je begrenzter unser Thema ist, wenn wir z.B. einen nebensächlichen Punkt der Pseudokritik analysieren, die versucht, das ganze Feld der wirklichen Kritik der Gegenwart zu überdecken, desto schneller wird natürlich die Bestätigung folgen, obwohl die objektiven Grenzen selbst solcher Fälle nur in begrenzten, sich gerade damit beschäftigenden Kreisen eine Entmystifizierung bewirkt haben. Ein solches, jetzt offensichtlich gewordenes Ergebnis hatte der S.I.-Boykott gegen die Zeitschrift Arguments (1956-1962), die für den konzentrierten europäischen Ausdruck dieser Pseudokritik gehalten werden konnte.

Bekanntlich waren bei Arguments zwei fähige Köpfe — Axelos und Edgar Morin. Ihr weiterer Weg — nach dem Scheitern ihres höchsten Unternehmens — ist vielsagend. Schon im Juli 1964 stürzte sich Axelos in die Nummer 17 der Zeitschrift Planète, in der die Redaktion ihn als jemanden vorstellt, der „in Betrachtungen“ schwelgt, „die auch die unseren sind“, und versucht „ein offenes und mehrdimensionales, fragendes und weltperspektivisches Denken“ zu fördern. Im darauffolgenden Jahr hat Morin ernsthaft in mehreren Ausgaben von Le Monde Lehre und Methoden von Planète untersucht (wobei eine solche Pseudounparteilichkeit gegenüber dem Nichts schon so viel wie eine Versöhnung ist). Er hat übrigens eher positive Schlüsse gezogen, indem er Planète nur dazu aufforderte, noch „planetarischer“ und dadurch noch besser zu werden und er deutete auf seinen Spießgesellen Axelos als auf ein schon vorhandenes Zeichen dieses Fortschritts hin. Der Lohn für seine „public-relations“ -Dienste ließ nicht sehr lange auf sich warten. So konnte man in Le Monde vom 28. Januar 1966 folgendes lesen: „Louis Pauwels und Claude Planson, der ehemalige Leiter des ‚Theatre des Nations‘, haben einen neuen Verein, den A.R.C. — ‚Verein zur Erforschung von Kulturen‘ — in den Räumen der Zeitschrift Planète eingerichtet. Im Direktionskomitee sitzen u.a. Maurice Béjart, Jean Duvignaud, Edgar Morin, Jean Vilar, Jan Kott.“ Unterintellektuelle Manifestationen wie Planète sind nur die extremen Produkte der Auflösung einer gesamten Kultur. Diejenigen, die nicht imstande sind, die Totalität des politisch-kulturellen Spektakels abzulehnen — und mit seinen vielen Verteidigern nicht praktisch brechen wollen — können schließlich nicht einmal die ungeheuerliche, offensichtlich in Planète zur Schau gestellte Dummheit ablehnen. Selbst diese Grenze des „Planetarismus“ ist für jemanden nicht deutlich, der wirklich mit nichts in der organisierten gegenwärtigen Konfusion gebrochen hat. So wird einer, der nicht dem ganzen „Planetarismus“ zustimmt, doch etwas „Planetarismus“ akzeptieren — wie z.B. etwas Godard, etwas Psychosoziologie oder etwas bürokratische „Orthodoxie“. Früher schon akzeptierte er etwas Kritik — gut gemischt mit etwas anderem. Die ganze ehrfurchtsvolle, falsche Kritik wird letzten Endes eine Koexistenz mit dem „Planetarismus“ akzeptieren, da die vielen leeren Absichten, durch die diese Leute fast überall einander entgegengesetzt werden, sie nicht daran hindern, praktisch nebeneinanderzustehen und sich in demselben Rahmen des konfusionistisch-spektakulären Denkens gegenseitig zu unterstützen. Dieses Nebeneinanderstehen ist genau das Prinzip des gegenwärtigen intellektuellen Spektakels, das schizophrene falsche Bewusstsein unserer Epoche (vgl. z.B. J. Gabels Werke). Gleichwohl beleuchtet der Zusammenbruch von Arguments seine Vergangenheit als „linken Universitätsplanetarismus“, indem er gleichfalls den Prozess der osmotischen Ansteckung jeder Halbkritik enthüllt, die sich einer vollkommen klaren Wahl entzogen hat, die von klar entschiedenen Handlungen auf allen Gebieten der Aktivität — inklusive den Neigungen und Begegnungen im alltäglichen Leben — nicht zu trennen ist.

Die Gruppe um die Socialisme ou Barbarie führt Arguments weiter. Sie wird dasselbe Ende nehmen. In der Nr. 39 von Socialisme ou Barbarie (März 1965) kann sich derselbe Morin — vermutlich wegen des Mangels an mittelmäßigsten Redakteuren und da er sowieso nicht mehr befürchten muss, sich zu kompromittieren, indem er hier eine Rolle spielt — mit gutem Recht in dem Kreis um Cardan wie zu Hause fühlen, diesen erbärmlichen Theoretiker, der vor zwei Jahren „die Revolution neu beginnen wollte“ und praktisch seine eigene Anpassung an die gemeinsame Kultur der mittleren Führungskader besonders schlecht vollendet. Mothé, der mustergültige Arbeiter dieser alten revolutionären Gruppe, kündigt in seinem Buch Ein Militant bei Renault (Verlag Seuil) seinen freudigen Beitritt zur ehemaligen französischen Konföderation der christlichen Arbeiter an, durch deren Demokratie er sich stark angesprochen fühlt. Nun taucht er auf einmal in der Zeitschrift Esprit (Februar 1966) auf, in der er folgendes über die Präsidentenwahl offenbart: „Durch seine Privatisierung und Reduzierung auf den Zustand eines Konsumenten des Spektakels wird der Staatsbürger gezwungen, die Politik auf die Ebene von Haushaltsproblemen zu verlagern“. Hier zeigt sich die normale Folgeerscheinung des „Argumentismus“ — und zwar etwas verschwommenen „Situationismus“ in die vornehme Welt zu bringen — d.h. also verkommenes kritisches Denken aber auf einer verkommenen Tribüne, wobei eine Verkommenheit die andere ausgleichen soll! In derselben Nummer 39 von Socialisme ou Barbarie zieht der ehemalige Argumentist Yvon Bourdet gegen die I. Internationale, die er so gut mit den voneinander verschiedenen bürokratischen Mächten, die die beiden darauffolgenden Internationalen beherrscht haben, gleichstellt, dass er zu schreiben wagt: „Die drei Internationalen haben einander nichts vorzuwerfen“. Für ihn, der für jeden historischen Beweis taub ist (hier würde die Rolle Polens und der Polen im Exil in allen Kämpfen des XIX. Jahrhunderts an und für sich genügen), ist übrigens der Begriff des Internationalismus immer „nur auf der Ebene des vor allem aus Emigranten bestehenden Apparats (des Generalrats) erlebt worden“. Hier wird das doppelte Delirium sichtbar, durch das einerseits die moderne Wirklichkeit des Apparats als eines zeitlosen, mit all seinen Verbrechen ewig verbundenen Begriffs auf eine Zeit übertragen wird, die sie nicht kannte; dem es andererseits gelingt, die Qualität des Emigranten von seiner Herkunft zu trennen — von einem Kampf, der in verschiedenen Ländern aus denselben Verhältnissen spontan entstand und zu einer internationalen Aktionsgemeinschaft tendierte, zu einer Partei im spontanen Sinn, den Marx damals diesem Wort gab. Der Grad des Internationalismus ist dem des Bewusstseins der revolutionären Wirklichkeit genau gleich — einem immer schwach gebliebenen Bewusstsein, das durch die ganze geistige und moralische Organisation der herrschenden Gesellschaft, durch tausend Niederlagen und hunderttausend Cardan-Bourdets verdrängt wurde. Aber die Rückkehr des Verdrängten hat ihren Platz in der ganzen modernen Gesellschaft, die durch das Ende ihres Spektakels aufgedeckt werden wird. Bis dahin ist Socialisme ou Barbarie derselben Meinung wie der Historiker Rougerie in der Sondernummer von Mouvement Social über die I.A.A. (April 1965). Die Vorsicht seines weisen Schlusses über den Internationalismus führt mit hundert Jahren Distanz zu folgender bewundernswerten, unabsichtlichen Parodie, zu diesem Meisterwerk der Fragestellung: „Das Problem bleibt offen; im Augenblick haben wir keinen anderen Beweis für das Vorhandensein eines Arbeiterinternationalismus als das der Internationale selbst.“

Auf ähnliche Weise ist der einzige Beweis für das Vorhandensein des „Cardanismus“ das Denken von Cardan selbst. Das ist aber wenig! Die Verwirrung der gängigen Ideen, die Cardan in einem endlosen Artikel weiter durchknetet — dessen Ende von einer Nummer zur anderen trügerisch angekündigt wird, während er doch immer wieder rastlos nach vorn getrieben wird, ohne je angefangen zu haben — hat die endgültige Unmöglichkeit einer so etwas duldenden Gruppe offenbart. Cardans ideologischer Brei geht so weit, dass zehn Individuen — selbst wenn sie dem Schwachsinn nahe sind — sich nie über einen Text einig werden könnten, dessen eigener Autor sich in zerstreute Inselchen auflöst. Cardans Ideen sind so weit zersplittert, dass er sich von nun an nicht mehr fünf Jahre lang mit einem Pseudonym begnügen kann: um seine zusammenhanglosen Variationen und die Folgen seiner Plattheit zu verdecken, brauchte er eigentlich alle fünf Seiten ein neues Pseudonym.

Cardan, der vermutlich auf diesem Gebiet wie sonstwo glaubt, dass davon zu sprechen genügt, um etwas zu besitzen, plappert undeutlich immer wieder vom „Imaginären“, womit er mehr oder weniger seine wabbelige Wesenlosigkeit als Denker rechtfertigen will. Ganz wie die heutige offizielle Welt versteht er die Psychoanalyse als eine Berechtigung des Irrationalen und der tiefen Gründe des fehlenden Bewusstseins, während die Entdeckungen der Psychoanalyse ein tatsächliches — nur aus offensichtlichen sozio-politischen Gründen noch nicht benutztes — Material zur Verstärkung einer rationalen Kritik der Welt sind. Die Psychoanalyse verfolgt das fehlende Bewusstsein, dessen Elend und elende Unterdrückungsinstanzen noch tiefer, das seine Kraft und zauberhafte Pracht nur einer recht banalen praktischen Unterdrückung im alltäglichen Leben verdankt. Cardan verfehlt sofort den Weg, noch bevor er gesehen hat, dass es immer ein etabliertes Imaginäres gibt, das das wirkliche Denkbare verdeckt. Dem gesellschaftlichen Imaginären haftet nie die reine Unschuld und Unabhängigkeit an, die ihm von seinem Neubekehrten Cardan zugeschrieben wird. So ist z.B. das am höchsten politische Problem des Jahrhunderts eine Sache des Imaginären: man hat sich eingebildet, die sozialistische Revolution sei in der UdSSR erfolgreich gewesen. Das Imaginäre kann in einer versklavten Gesellschaft nicht frei sein. Warum würde man sich sonst — und nicht nur in Planète — so viele Cardanereien ausdenken?

In der Nr. 40 von Socialisme ou Barbarie breitet sich Cardans Fragestellung auf die „historische Herstellung der Bedürfnisse“ in der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft üppig aus. Cardan ist ein beachtlicher Fragesteller; er kann weit sehen; man soll ihm nicht mit den banalen „wahren Bedürfnissen“ kommen — er sucht auf höherer Ebene nach der Gewissheit der grundsätzlichen Unsicherheit aller menschlichen Unternehmen. So schreibt er (von uns hervorgehoben): „Vergeblich würde man diese Situation ausschließlich als eine ‚Ersatzantwort‘ darstellen, wie das Angebot von Substituten für andere Bedürfnisse — die ‚wahren‘ Bedürfnisse, die von der gegenwärtigen Gesellschaft nicht befriedigt werden. Denn angenommen, dass solche Bedürfnisse vorhanden und bestimmbar sind, fällt es um so stärker auf, dass eine solche Wirklichkeit völlig von einer ‚Pseudo-Wirklichkeit‘ überdeckt werden kann.“ So werden für Cardan die Unterdrückung selbst und all ihre genau orientierten Lügen, ihre gesamte spektakuläre Organisation der „Pseudo-Wirklichkeit“ problematisch, sie werden los und ledig gesprochen, da er sich selbst völlig auf die Seite der Pseudowirklichkeit der Kritik geschlagen hat. Anstatt zu versuchen, die erstaunliche, „auffallende“ Funktion des sozialen Scheins im modernen Kapitalismus zu erklären (was den Schlüssel zu jedem neuen revolutionären Versuch ist) zeigt Cardan die platte positivistische Sicherheit des Komödienbourgois, der sagt: „Das wäre doch ein starkes Stück“, um ein Problem wegzuleugnen, das seinem Menschenverstand widerspricht. Er ist jetzt nicht nur blind geworden, sondern verneint auch, dass es etwas zu sehen gibt. Doch die Pseudowirklichkeit selbst zeigt — auf negative Weise — das, was sie verdeckt. Dass alle Bedürfnisse, die von der Warenproduktion hervorgerufen werden bzw. werden könnten, genauso künstlich wie willkürlich sind — gerade das wird durch den auffallenden Widerspruch der Werbung im sozialen Spektakel dementiert, die von dem spricht, was sie nicht verkauft und das nicht verkauft, von dem sie spricht. Sogar Soziologen können leicht sehen, was die für die Verbreitung irgendwelcher Waren tätige Werbung verspricht und nicht hält: sie verspricht Sicherheit und Abenteuer; die echte Entwicklung der Persönlichkeit und die Anerkennung durch die anderen; Kommunikation und vor allem die Erfüllung des erotischen Verlangens. Nach Freud und Reich z.B. weiß man tatsächlich besser als vorher, was der „wahre sexuelle Trieb“ ist, und seine vorherrschende Rolle in den Werbungsbildern zielt offensichtlich darauf ab, den Leuten einen Warenersatz für das zu verkaufen, was sie nicht haben, als zahllose, gleich annehmbare, imaginäre Möglichkeiten. Das vorhandene Imaginäre, von dem Cardan spricht, ist nicht das, was über einige elementare Bedürfnisse hinaus geht, sondern eine Schranke vor ihnen. Diese Bedürfnisse sind immer noch keineswegs erfüllt — außer dem einfachen Bedürfnis nach Nahrungsmitteln in nur einem Teil der Welt. Aber all diese Cardan entgangenen Wahrheiten bedeuten doch nicht, dass es diese „im wesentlichen unabänderliche menschliche Natur“ gibt, „deren Hauptmotivation die ökonomische ist“ — ein Irrtum, den Cardan in seiner totalen Ignoranz gegenüber dem dialektischen Denken glaubte, als das „verborgene Postulat“ des Marxismus (vgl. unser Zitat in S.I. Nr. 9) enthüllen zu können. Wir denken mit Marx, dass „die ganze Geschichte nur die fortschreitende Umwandlung der menschlichen Natur ist“. Nur muss man den gegenwärtigen Moment der Geschichte verstehen — hier und jetzt. Alle, die dies verstehen, verstehen gleichzeitig sehr gut Morins und Cardans Verständnislosigkeit und deren praktische Verbrüderung. Selbst die Auflösung von Socialisme ou Barbarie ist nichts Neues: sie folgt Arguments treu bis in den Mülleimer, den wir ihr im voraus zuteilen konnten.

Das Algerien des libertären Daniel Guerin

Im Dezember 1965 hat Daniel Guérin eine seltsame Analyse von Boumediennes Regime in seiner Broschüre Algerien unter Militärherrschaft? veröffentlicht. Für ihn ist im Juni nichts passiert. Getreu einem alten Schema sieht er sowohl vor als auch nach dem Putsch nur einen „Bonapartismus“ an der Macht, der auf klassische Art an zwei Fronten kämpft: gegen die „Konterrevolution der eingeborenen Besitzer und gegen die drohende Begeisterung der sich selbst verwaltenden Arbeiter“ Was die Außenpolitik betrifft, „streben beide (Ben Bella und Boumedienne, d.Übers.) nach dem gleichen, geschickten Gleichgewicht zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern“ (S. 6). „In keiner Erklärung des angeblichen ‚Revolutionsrates‘ kommt irgendeine Neuerung zum Vorschein, wird ein neuartiges Programm entworfen“ (S. 10). Als er am 5. November den Haupttext verfasst hatte, glaubte Guérin doch einige neue, aber nur potentielle Anhaltspunkte erkennen zu können — da die Putschisten wider Willen „nach rechts“ verleitet werden —, die „eine anti-sozialistische Politik anzukündigen scheinen“ (S. 11, von uns hervorgehoben). Glaubt man etwa, dass Guérin die beträchtlichen Unterschiede zwischen beiden Regimes vernachlässigt, weil er durch die gleiche Verachtung dazu geführt wird, die ein Revolutionär und erklärter Befürworter eines „libertären Sozialismus“ und der Selbstverwaltung für Ben Bella und Boumedienne empfinden kann? Keineswegs! Er empfiehlt keine andere revolutionäre Lösung für die Zukunft als Ben Bellas Restauration: „Das algerische Volk heute ohne Bezug auf Ben Bella oder durch eine globale politische Kritik des Benbellismus zur Opposition gegen das Regime der Obersten zusammenbringen zu wollen — das wäre ein aussichtsloses Unternehmen“ (S. 17). Und für Guérin waren die vielfachen Angriffe von Ben Bellas Regime vor dem 19. Juni gegen die Arbeiter, die Leistungen seiner Polizisten und Militärs — die tatsächlich dieselben sind wie heute — nur „Irrtümer, Zeichen der Schwäche und der Unvollständigkeit“ innerhalb einer annehmbaren Gesamtorientierung. Der König war schlecht beraten, schlecht informiert — nur nie verantwortlich. Da Guérin die offenen Kämpfe der benbellistischen Macht gegen die Massen nicht ignorieren kann (er liefert selbst ausgezeichnete Dokumente über sie u.a. über den Kongress der Landarbeiter), muss er die Geschichte neuschreiben, indem er Ben Bella vollständig von seinem eigenen Regime trennt. So S. 12: „Die Sabotage der Selbstverwaltung, die gewiss ohne Ben Bellas Vorwissen organisiert wurde“, S. 2: „Praktisch — das sieht man heute besser — hatte Ben Bella nie freie Hand; beinahe drei Jahre lang ist er Boumediennes Werkzeug, Gefangener und Geisel gewesen“. Kurz — man glaubte, Ben Bella sei an der Macht, sein Sturz zeigte aber, dass es nicht stimmte. Diese erstaunliche rückwirkende Beweisführung ließe sich genauso gut auf den Zar anwenden, den man sich vor 1917 als Alleinherrscher vorstellte. Aber der von Guérin behandelte Fall übersieht auch folgende Frage: wer, wenn nicht Ben Bella, hatte Boumedienne hervorgebracht, und zwar dadurch, dass er selbst durch Boumediennes Waffen zur Macht gelangte? Dass Ben Bella dann Lust bekam, sein Werkzeug loszuwerden und dass er bei diesem Spiel besonders ungeschickt gewesen ist, ist eine andere Sache. Gerade deshalb, weil er vor allem ein Bürokrat war, war er mit rationelleren Bürokraten zunächst solidarisch, bis er ihnen schließlich zum Opfer fiel.

Durch welches Geheimnis lässt sich die Verwirrung eines unserer berühmten Linksintellektuellen erklären und sogar eines der im Prinzip „libertärsten“ von ihnen? Durch denselben entscheidenden Einfluss ihrer gemeinsamen Praxis der mondänen Beziehungen, mit deren erbärmlicher Eitelkeit; durch die noch unter dem Lakaiengeist stehende Neigung, den Kopf vor lauter Freude zu verlieren, wenn sie mit den Großen dieser Welt gesprochen haben; durch dieselbe Schwachsinnigkeit endlich, die sie diese Größe unter die verteilen lässt, mit denen sie gesprochen haben. Ob sie die Selbstverwaltung der Massen oder eine Polizeibürokratie befürworten, die „Linksintellektuellen“ der Periode, die wir jetzt verlassen, erfahren immer wieder dieselbe bewundernde Verblendung gegenüber der Macht, der Regierung. Genau in dem Maße, wie sie einer Regierungsrolle nahestehen, faszinieren die Führer der „unterentwickelten“ Länder ihre lächerlichen Professoren der gauchistischen Museumskunde. In den für die grundsätzliche Niedertracht einer ganzen Intellektuellengeneration so aufschlussreichen Memoiren von Simone de Beauvoir genügt die Beschreibung eines Diners bei der russischen Botschaft, um das unbefangene Geständnis einer Kleinlichkeit zur Schau zu stellen, die zu unheilbar ist, um ahnen zu können, dass man über sie lachen wird.

Das Geheimnis ist: Guérin „kannte“ Ben Bella. Er fand ab und zu „Gehör“ bei ihm: „Als es mir für meinen bescheidenen Anteil Anfang Dezember 1963 gelang, eine kurze Audienz in der Villa Joly zu bekommen, um dem Präsidenten einen Bericht einzureichen, der das Ergebnis von einmonatigen Wanderungen und Beobachtungen im Land und in den selbstverwalteten Betrieben darstellte, hatte ich den Eindruck, einem verstockten Menschen gegenüberzustehen, der von Ali Mahsas und dem Industrie- und Handelsminister Bachir Boumaza mehr oder weniger gegen meine Schlussfolgerungen beeinflusst worden war“. (S. 7)

Guérin ist wirklich für die Selbstverwaltung — aber wie Mohammed Harbi begegnet er ihr, erkennt sie und hilft ihr mit seiner Weisheit lieber in der einen Form ihres in einem bevorzugten Helden verkörperten Geistes. Daniel Guérin ist der Weltgeist der Selbstverwaltung bei einer Tasse Kaffee begegnet — daraus folgt alles übrige.

Domenach gegen die Entfremdung

„Die Entfremdung — was steckt eigentlich hinter diesem Schlüsselwort zu einer ganzen Politik, einer Kritik und einer Soziologie? J.M. Domenach führt den erstaunlichen Wandel dieses bedeutungsreichen Begriffs von Hegel bis Jaques Berque vor unsere Augen. Dann prüft er ihn auf seinen Inhalt. Seiner Meinung nach ist es an der Zeit, auf diesen ‚Krankenhaus-Begriff‘ zu verzichten, in dem alle Krankheiten des Jahrhunderts angesammelt werden, und die Philosophie mit ins Spiel zu ziehen, die ihn ausgearbeitet hat.“

Dieser Notiz am Anfang der Zeitschrift Esprit vom Dezember 1965 entspricht vollkommen die außerordentliche Unverschämtheit von Domenachs Artikel, der unter dem Titel Um mit der Entfremdung Schluss zu machen diese Nummer eröffnet. Domenach, der Prinz des zeitgenössischen Konfusionismus in seiner wichtigen Provinz des gauchistischen Christentums, wirft dem Begriff der Entfremdung vor, konfus zu sein, missbraucht zu werden, eine starke historische Änderung erfahren zu haben und allzu viele „überholte und verschwommene“ Formeln entstehen zu lassen. Wäre all das Verschwommene so überholt, hätte das religiöse Denken die rationalistische Aufklärung nicht überleben können, die die bürgerliche Gesellschaft mit in die Welt brachte. Es müssen also in einer materiell geteilten Gesellschaft die verschwommenen Gedanken und die undeutlichen Anwendungen genauer Begriffe für bestimmte Kräfte nützlich sein. Die Geschichte des Begriffs Entfremdung, wie Domenach sie uns auf einigen Seiten vor Augen führt, stellt gerade ein Modell dieses verschwommenen Denkens dar, das einem bestimmten Konfusionismus nützlich ist. Wie kann man im Ernst von Hegel zu Jaques Berque übergehen? Genau wie diese Literaturprofessoren zwischen den beiden Weltkriegen, deren Schulbücher die Entwicklung der französischen Lyrik von Baudelaire bis Moréas schilderten. So revanchieren sich die Philister provisorisch, die sofort für die unangenehme Pflicht bezahlt werden wollen, die Existenz von Hegel bzw. Baudelaire berücksichtigen zu müssen. Und Berque macht es Domenach möglich, tiefe Auffassungen dieser Art zu bewundern: „Der Kapitalismus wäre nur eine Verwandlung des anthropologischen Zusammenbruches, der sich etwa im XVIII. Jahrhundert in der europäischen Zivilisation ereignete“. Hier kommt die idealistische Unehrlichkeit auf zwei Ebenen zum Vorschein: was geschah in der europäischen Zivilisation etwa im XVIII. Jahrhundert anderes als gerade der Triumph des Kapitalismus? Außerdem, wie kann man das als einen „anthropologischen Zusammenbruch“ bezeichnen, was nie mehr als ein — übrigens unvollendeter — theologischer Zusammenbruch war? Die Art und Weise, wie Feuerbach in zwei Zeilen erledigt wird, der doch den entscheidenden Punkt in der Übertragung der Hegelschen Entfremdung auf die neue anthropologische und politische Kritik darstellt, unterliegt derselben Unehrlichkeit. Das von Domenach halb angenommene Denken von Berque ermöglicht ihm, auf folgende Inkonsequenz in Marx’ Denken hinzuweisen: für Marx war die Entfremdung mit der „Herstellerfunktion“ verbunden; nun „hat die Entfremdung solche Gruppen maximal getroffen, die keine Produzenten waren“. Auch wenn man diese merkwürdige Idee akzeptieren würde, bedeutet es nur folgendes: der Kapitalismus ist gerade die ökonomische Form, die die Herrschaft über die ganze Erde und deren Umgestaltung durch eine Zone nach sich zieht, die über eine bestimmte qualitative Produktionsschwelle hinaus gelangt. Das Vorhandensein dieser neuen „Herstellerfunktion“ in Europa schickte zuerst Kriegsflotten zur Erschließung Indiens und Chinas und dann Ethnologen, um das Testament der melanesischen Gesellschaften zu registrieren.

Das Endergebnis der Geschichte der Entfremdung will Domenach durch folgende aktuelle Feststellung kennzeichnen: „Es ist ein Krankenhaus-Begriff, in der für alle Krankheiten des Jahrhunderts ein Bett zur Verfügung steht. Hier tritt der Christ wieder deutlich hervor, der für immer das Leid akzeptiert hat und der möchte, dass nicht mehr davon gesprochen wird. Denn letzten Endes, wenn ein Arzt vom Standpunkt der praktischen Suche nach der Genesung aus von einer alle Krankheiten versammelnden Klinik spricht, so klingt es gar nicht nach dem verachtungsvollen Spott gegenüber einer Gemeinheit, der herablassenden Beleidigung der Kanzelberedsamkeit — er kennzeichnet damit ein bevorzugtes Experimentierfeld und definiert die Bedeutung dessen, was auf dem Spiel steht. Domenach will mit dem Begriff der Entfremdung nicht einmal fertig werden, wie der in der Deutschen Ideologie erwähnte Philosoph, der die Menschen vom Gedanken der Schwere befreien wollte, damit keiner mehr ertrinkt. Domenach will von Entfremdung nichts mehr hören, weil es sich letztlich darum handeln soll, sich ihr zu fügen. Der Christ, der sich natürlich auf die stalinistische Orthodoxie bzw. den kybernetisierten „Marxismus“ eines Chatelet stützt (er erkennt sie um so lieber als Marxisten an, als seine Existenz als „Linksdenker“ selbst von einem solchen Marxismus abhängt), legt nach der Aufzählung einiger weniger ihrer Zusammenhanglosigkeit tatsächlich gut bei Chatelet gewählten Merkmale die Maske ab und gibt folgendes zu verstehen:“All diese ‚Entfremdungen‘ scheinen wohl zu einem allgemeinen Wesen des Menschen zu gehören„. Zum Schluss seiner Rede fordert er dann jeden auf,“seine ursprüngliche Entfremdung„anzunehmen — also den Schöpfer. Wie du mir, so ich dir — er macht dem ökonomistisch-mechanistischen Marxismus, der gute Aussichten hat, von allen modernen Pfaffen akzeptiert zu werden, folgendes Geschenk: die aus dem Bewusstsein verbannte Entfremdung wird vorteilhaft durch den „genauen“ Begriff der Ausbeutung ersetzt. Obwohl die im Westen und im Osten allgemeine Entfremdung effektiv auf die Ausbeutung der Arbeiter gegründet ist, steht doch fest, dass die Entwicklung des modernen Kapitalismus und noch mehr die bürokratische Ideologie — es vollauf geschafft haben, die marxistischen Analysen der Ausbeutung auf der Ebene der freien Konkurrenz zu verschleiern und deren Anwendung nur ungenau zu erlauben. Dagegen haben aber diese parallel laufenden Entwicklungen die Entfremdung einen Begriff philosophischer Herkunft — in die Wirklichkeit jeder Stunde des alltäglichen Lebens eingeführt. Deshalb glaubt der Christ, es“sei an der Zeit„, noch einmal seine herkömmliche Rolle (“Ihr müsst Euch darein fügen! Es kommt von weit her! Es ist der Wille unseres Vaters!") in der neuen Szenerie der Epoche zu übernehmen.

Gewiss müssen in einer Gesellschaft, die es nötig hat, eine Massensubkultur zu verbreiten und ihren spektakulären Pseudointellektuellen Gehör zu schaffen, normalerweise viele Ausdrücke sehr schnell allgemeinverständlich gemacht werden. Aus dem gleichen Grund aber neigen ganz einfache und aufklärende Worte zum Verschwinden — z.B. das Wort „Pfaffe“, so dass Domenach und seine Freunde sogar glauben können, keiner würde sich mehr an diese lästige Gemeinheit erinnern. Ebenso lächerlich sind die weltlichen Versuche eines Revel („In Frankreich“), eine Liste zu verwerfender Worte aufzustellen, in der einige reine Modealbernheiten und wichtige von der Kritik beanstandete Ausdrücke zusammengebracht werden, da man nicht erhoffen kann, gleichzeitig die theoretischen Entdeckungen unserer Zeit und die aus ihnen entstandene, eigennützige Konfusion abzuschaffen, um auf irgendeinen kurzsichtigen Rationalismus „zurückzukommen“, der die ihm jetzt von den nostalgischen Liberalen zugeschriebene Wirksamkeit nie hatte. Allen diesen Wortschatzkillern mangelt es an Dialektik. So griff der gewöhnlich dem Purismus etwas weiter entfernte Robert Le Bidois vor kurzem in seiner Sprachchronik in Le Monde die Redewendung „auf der Ebene“ an. Trotz der vielfachen unsinnigen Anwendungsbeispiele, die er anführen konnte, sollte man einsehen und annehmen, dass eine Gesellschaft, die die ökonomische Tiefe des heutigen Lebens bzw. das psychoanalytische Unbewusste kennt (auch wenn sie es sich unmöglich macht, ihre Kenntnisse kohärent zu benutzen), die gleichzeitig hierarchisierte Verwaltung all ihrer Sektoren erlebt (auch wenn sie das nicht ganz zugeben will), den Begriff der „Ebene“ in ihrem Sprachgebrauch anders benutzt als im bloßen, alten Sinn eines konkreten Maßes gegenüber dem Horizont oder als Synonym für die bildliche Redewendung: „seiner Aufgabe gewachsen sein“).

Da diese Domenachs selbst die Diener des Kulturspektakels der Macht sind, die die brennendsten Ausdrücke des modernen kritischen Denkens schnell anwenden und zu ihrem Nutzen gebrauchen will, werden sie nie annehmen wollen, dass die wichtigsten und echtesten Begriffe der Epoche gerade daran gemessen werden, dass die größte Konfusion und der schlimmste Widersinn mit ihnen durchgeführt werden — so z.B. mit Entfremdung, Dialektik oder Kommunismus. Die lebenswichtigen Begriffe werden gleichzeitig mit dem wahrsten und dem trügerischsten Sinn und mit einer Vielzahl von Zwischenstufen der Konfusion gebraucht, da der Kampf der kritischen Wirklichkeit mit dem apologetischen Spektakel zu einem Kampf um Worte führt, der mit um so größerer Heftigkeit ausgefochten wird, je wichtiger diese Worte sind. Nicht durch autoritäre Säuberung, sondern durch den kohärenten Gebrauch in der Theorie und im praktischen Leben haben wir die Wahrheit eines Begriffs an den Tag gebracht. Es bedeutet z.B. nicht viel, dass ein Pfaffe darauf verzichtet, auf der Bühne einen Begriff zu gebrauchen, den er niemals hätte gebrauchen können. Vulgär gesagt, da wir es mit Pfaffen zu tun haben: die Entfremdung führt überallhin — vorausgesetzt, man gibt sie auf.

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