Streifzüge, Jahrgang 2022
Oktober
2022

Umweg als Irrweg

Der Kontrast könnte nicht größer sein: Anstatt unser Potential zu verwirklichen, schlagen sich die Menschen um die mickrigen Reste, die bei der Produktion abstrakten Reichtums für sie abfallen.

Abstrakter Reichtum? Was meint das? Die bunte Warenwelt um uns herum, die Gewinne der Konzerne, die Milliarden in den Händen einiger weniger? – Das mag alles übel verteilt sein, aber es ist doch sehr konkret. Erst recht, die Schattenseite. Unzählige leiden am Mangel, kaum reicht es zum Überleben, der Druck auf die Mehrheit steigt spürbar. Alles schmerzhaft wirklich. Nicht von stofflichen Dingen ist hier die Rede, ob nun von Weizen, Mobiltelefonen, High-Tech-Waffensystemen, Werkzeug, von irgendeiner Nascherei, oder dem Reichtum an Fähigkeiten und Talenten. Abstrakter Reichtum bleibt gleichgültig gegenüber irgendeinem konkreten Inhalt. Abstrakter Reichtum – das meint Reichtum in seiner spezifisch kapitalistischen Form. Oberflächlich betrachtet: Geld. Im Grunde: Wert.

Ganz nebenbei betreiben wir tagtäglich sein Geschäft. Der Wert, wiewohl nur durch einen gesellschaftlichen Gewohnheitsakt hervorgebracht, scheint den Waren innezuwohnen als wäre er ihre Eigenschaft. Eine gleichsam übernatürliche Eigenschaft. Ein Trugbild und doch nichts weniger als eine einfache Täuschung. Der im fortwährenden Tausch unserer Arbeitsprodukte befreite, praktisch verselbständigte Wert steht uns in Form von Geld und Kapital als eine höchst reale sachliche Macht gegenüber. Seine Logik wird durch unser Handeln hindurch wirksam. Wir reproduzieren sie in den Beiläufigkeiten des Alltags, unabhängig vom Bewusstsein und den Absichten der Einzelnen. Frei gesetzt in der Konkurrenz zwingt uns der Wert seine Gesetze auf, macht was seiner „Natur“ entspricht – ökonomisches Wachstum und betriebswirtschaftliche Effizienz etwa – zur äußeren Notwendigkeit für die Menschen. Was uns zur kaum hinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, unsere Existenz als Kauf- und Verkaufssubjekt, als ebenso besitzergreifendes wie verlustängstliches ewiges Mangelwesen schuldet sich seiner Regentschaft.

Ausgedacht hat sich das so niemand. Mit der Gleichsetzung und im Austausch unserer individuellen Arbeitsprodukte schaffen wir spontan, ohne Absicht oder Plan – sozusagen hinterrücks – die grundlegenden Struktur- und Bewegungsmuster unserer Gesellschaft. Es sind unsere eigenen wechselseitigen (Produktions-)Beziehungen, die uns in verselbständigter Gestalt konfrontieren. In unserem täglichen Tun, als Eigentümer von Produktionsmitteln und/oder Arbeitskraft, handeln wir uns eine im Wortsinn eigenwillige Form „sachlicher Abhängigkeit“ jenseits persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse und handgreiflich ausgeübter Herrschaft ein. Mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die zu keinem Zeitpunkt zur Verhandlung standen oder bewusst in Kraft gesetzt wurden. Als blindes Resultat unserer Handlungen bleiben ihre Regeln wirksam, solange wir an dieser Praxis festhalten. Unsere Realität ist die Konsequenz einer blinden Dynamik, die in ihrer Rasanz noch laufend zunimmt.

Unter der Oberfläche fallen mit steigender Produktivität der Arbeit stofflicher und wertförmiger Reichtum zunehmend auseinander. Verringert sich der gesellschaftlich notwendige Arbeitsaufwand, bleibt das nicht ohne Folgen für die pro stofflicher Einheit „produzierte“ Wertmasse. Der Wert der Waren steht also in umgekehrtem Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Je weniger Arbeitszeit auf die Fertigung einer einzelnen Ware aufgewendet wird, desto weniger Wert „steckt“ im einzelnen Produkt. Schon um die potentielle Umverteilungsmasse nicht schrumpfen zu lassen, müssen Output und (Ressourcen-)Verbrauch permanent erhöht werden. Was folgt, sind nicht kreativer Müßiggang, weitgehend befreit von der Sorge um die materielle Existenz, sondern tendenziell immer noch mehr Maloche, Raubbau am Planeten und üble Emissionen.

 
 

Ohne Umweg

Die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte, lokaler Gemüseanbau, die Weitergabe von Erfahrungswissen, Stadtparkpflege, aufmerksame Zuwendung, die Erforschung von Wirkstoffen zur Malariabekämpfung, Butterbrotstreichen, die Überwachung von Produktionsabläufen, Malen und Anstreichen, Komponieren, Erkenntnissuche in Sachen Energieeffizienz, Erkenntnissuche überhaupt, die Betreuung Kranker und Hilfebedürftiger und unendlich vieles mehr sind nicht gegeneinander verrechenbar. Sie bilden auch keine „ökonomische Sphäre“ irgendwo außerhalb des sonstigen Lebens. Sie mögen im Einzelnen unverzichtbar sein oder irgendwann überholt, gesellschaftlich umstritten oder allgemein anerkannt. Eine abstrakte Kategorie, die uns ihre Logik aufzwingt, bilden sie nicht. Eine auf stofflicher Ebene hochgradig vernetzte Produktion wie die unsrige ist in ihren Teilen, wie auch im Ganzen, immer wieder zu hinterfragen und neu auszurichten hinsichtlich Ressourcenverbrauchs, Umweltbelastung, der Anforderungen aller Involvierten. Betriebswirtschaftliche Effizienz ist dabei jedoch kein Maßstab.

Die Fragen, die sich stellen, liegen auf der Hand. Was brauchen wir? Wie kommen wir dazu? Und wie erfüllen wir unsere Bedürfnisse und Begehrlichkeiten – ohne die Umwelt und unsere Mitlebewesen in irreparablem Ausmaß zu schädigen, ohne nachkommenden Generationen den Planeten ausgeplündert, kontaminiert und vermüllt zu übergeben, ohne uns einseitig zu Lasten Dritter auszuleben und ohne unser jeweiliges Gegenüber willkürlich zu Handlungen oder Unterlassungen zu nötigen?

Der Umweg über Geld und Markt schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab und zwingt uns in einen Rationalismus, der einzig und allein der Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen dient. Unser Leben rationell zu regeln heißt dagegen, die eigenen Lebensbedingungen bewusst und gemäß freier Übereinkunft zu gestalten, anstatt dabei von einer blinden Macht beherrscht zu werden. Bereits heute verfügen wir über eine Vielzahl von Beispielen, wie Informationsaustausch und Koordinierung auch innerhalb sehr großer Netzwerke gelingen (etwa aus Open Source oder Peer-Commons-Projekten), die Herausforderung liegt eher darin, das Gewohnte zu verlernen. Oder auch, künftigen Generationen verständlich zu machen, warum einstmals, unabhängig von allem, was gewünscht, möglich und machbar war, erst einmal Geld aufgestellt werden musste, bevor Bedürfnisse befriedigt werden konnten. Der unablässige Tausch von Äquivalenten dürfte dann nur noch als barbarische Vorstufe des Teilens innerhalb einer vorgeschichtlichen Sozietät bestaunt werden.

Die Koordination unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange (Reproduktion, Verteilung, Ressourcenverbrauch etc.) muss bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten abstrakten Form erfolgen. Das krampfhafte Festhalten an der Verwerterei führt uns nur weiter in den Abgrund. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft muss einem Beitragen und Teilen weichen. Wert und Geld müssen verschwinden. Ersatzlos!

Eine Assoziation freier Menschen muss ohne Formprinzip und immanente Logik auskommen, will sie ihr Handeln selbstbestimmt ausrichten. Menschliches Miteinander kann keinem Masterplan folgen, es kann nur der jeweiligen Situation entsprechend gestaltet und immer wieder neu erstritten und errrungen werden. In ernsthafter Auseinandersetzung, in spielerischem Umgang, nach zu vereinbarenden Regeln oder den bloßen Zufälligkeiten folgend. Wir verfügen über ausreichend geistiges, sinnliches, kreatives Vermögen. Vergeuden wir es nicht länger um aus Geld mehr Geld zu machen. Menschen mögen ebenso hemmungslos und unersättlich sein wie hingebungsvoll und fürsorglich. Kaum etwas ist da vorgegeben, die Schattierungen sind nahezu unendlich. Die Farbpalette des guten Lebens wird jedenfalls andere Töne hervorbringen als jene aus Zeiten, in denen Geld Leben frisst.

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