„Ungarn, das ist europäische Peripherie“
Ferge: Die Opfer sind in Ungarn keine anderen als überall sonst: die schlecht Ausgebildeten, die Alten, die kinderreichen Familien, jene, die an der Peripherie wohnen, und vor allem die Zigeuner. Besonders betroffen sind die Pensionist/inn/en, schon alleine deshalb, weil deren Pensionen nicht indexiert sind, das heißt, die Inflation kürzt ihnen Monat für Monat das Geld.
Ferge: Wenn Sie so zählen, dann müssen Sie aber auch dazu sagen, daß das z.B. in England oder Belgien nicht anders ist.
Ferge: Das ist das eigentliche Problem. Wir hatten zu Beginn der 50er Jahre enorme soziale Probleme. Damals kämpften zwei Drittel der Bevölkerung um das Lebensnotwendige. Die Situation hat sich unter Kadar deutlich verbessert. Obwohl ich kein Freund der Kadar-Ära bin, muß ich heute sagen, daß es eine Ära des relativen Wohlstandes war. Zwischen 1965 und 1980 gab es sowohl für die Arbeiter als auch für die Pensionisten spürbare Verbesserungen, der Lebensstandard stieg allgemein.
Ferge: Das ist eine sehr pessimistische Sicht der Dinge, aber sie könnte eintreten.
Ferge: Offiziell haben wir derzeit eine Arbeitslosenrate von einem halben Prozent, meiner Schätzung nach liegt sie bei ca. 2%. Das ist immer noch nicht besonders hoch. Dazu muß man sagen, daß es im Großraum Budapest nach wie vor Arbeitskräftebedarf gibt. Allerdings sind die Löhne insbesondere für unqualifizierte Hilfsarbeiten sehr, sehr niedrig.
Ferge: Die ganze Reformdiskussion in Ungarn ist von neoliberalen Ökonomen begonnen worden, da liegt schon der Hase im Pfeffer. Die wirtschaftliche Reform wurde schon vor vier Jahren vorbereitet, zu einer Zeit, als von politischer Öffnung und Pluralismus noch nicht die Rede war. Die Öffnung der Grenzen hat dann zu einem wahren Konsumboom geführt. Die Leute glauben, daß Konsum Freiheit bedeutet und gesellschaftliche Probleme lösen kann.
Ferge: Ungam ist bereits europäische Peripherie. Die Distanz zum westeuropäischen Wirtschaftsraum hat sich in den letzten 20 Jahren ungeheuer vergrößert. Aber ohne verstärkte Hinwendung zur Marktwirtschaft wird diese Peripherisierung fortgesetzt.
Ferge: Nehmen wir die aktuelle Regierung. Sie spricht immer vom sozialen Netz, aber in Wahrheit ist dieses soziale Netz inexistent. Auch wenn jetzt Arbeitslosengeld und niedrige Pensionen unter dem Druck der Bevölkerung erhöht werden, kann man von einer Sozialpolitik nicht wirklich sprechen.
Ferge: Ja. Und das stimmt nicht nur für die Länder im Osten. Außer in den skandinavischen Staaten wird eigentlich nirgends mehr Sozialstaatspolitik gemacht. Sehen Sie sich z.B. England an oder die BRD, Österreich. Da wird doch Sozialabbau betrieben, und keine gesellschaftlich relevante Kraft stellt sich dagegen. Das heißt, daß die soziale Frage in fast ganz Europa diskreditiert ist.
