FORVM, No. 9
September
1954

Unterrichtsfach „Gesellschaft“

Als vor einigen Monaten im Österreichischen Nationalrat die Krise der Hochschulen zur Debatte stand, wurden die Namen Joseph Schumpeter und Friedrich A. Hayek als Beispiele für den hohen Ruf der österreichischen Wissenschaft hervorgehoben. Von Seiten der äußersten Linken kam der Einwurf, daß beide Gelehrte nicht in Österreich wirken. Allerdings teilte niemand dem Hohen Haus mit, daß der ehemalige österreichische Finanzminister Schumpeter, lange Jahre hindurch Professor an der Harvard-Universität, im Jahre 1951 gestorben ist, gerade als er sich anschickte, Gastvorlesungen an der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Chicago zu halten, an der sein berühmter liberaler Kollege Hayek seit einigen Jahren eine Lehrkanzel für „Moral and Social Science“ innehat.

Gesellschaftswissenschaften? Diesen Ausdruck wird man im Jahrbuch der österreichischen Wissenschaft vergeblich suchen. Zwar spricht man bei uns von Rechts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften (Bezeichnungen, die ebenso umständlich wie unvollständig sind). Aber wann hört man etwas von Soziologie im engeren Sinne, von Ethnologie, von der vielumstrittenen Zeitungswissenschaft?

In dem vom Mittelalter her überlieferten Schema der vier Fakultäten — Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Freie Künste —, aus denen sich die in England heute noch als „Faculty of Arts“ bezeichnete philosophische Fakultät entwickelt hat, gab es freilich keinen Platz für „Gesellschaftswissenschaften“. Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, gleichsam herausgeschält aus dem großen Zusammenhang von Kirche und Staat, ist kaum älter als 200 Jahre. Er besaß keine Basis, solange das menschliche Zusammenleben und die darauf bezüglichen Lehren in die allumfassende Hierarchie von göttlicher und weltlicher Herrschaft eingebettet waren, solange die Idee der Herrschaft und die Idee der Tugend ebenso untrennbar waren wie Theologie, Ethik und Politik. Diese Einheit wurde tödlich getroffen, als im 16. und 17. Jahrhundert Machiavelli und Thomas Hobbes die neuzeitliche Wissenschaft von der Politik als Lehre von der Erringung und Bewahrung der Macht begründeten. Die Erhöhung der alltäglichen Praxis von Machtausübung und Staatsraison zum Rang einer Theorie und der Mißbrauch der staatlichen Macht hat wesentlich zu jener großen Revolte der „Gesellschaft“ gegen den „Staat“, zur amerikanischen Revolution beigetragen, deren Manifest, Thomas Paines Common Sense (1776) in klassischer Weise das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft anzeigt:

Die Gesellschaft wird durch unsere Wünsche geschaffen, die Regierung durch unsere Bosheit; die erstere fördert unser Glück positiv durch die Einigung unserer Neigungen, die letztere negativ durch die Unterdrückung unserer Laster. Die erstere fördert Verkehr und Umgang, die letztere schafft Unterschiede. Die erstere ist ein Beschützer, die letztere ein Bestrafer. Die Gesellschaft ist in jedem Zustand ein Segen, aber selbst die beste Regierung ist nur ein notwendiges Übel.

Von da an war der Weg frei zu der „‚Gesellschaftslehre‘‘, zur „Soziologie‘‘, wie Auguste Comte sie nannte; Comte und Spencer hatten sie zur Meisterwissenschaft des bürgerlichen und industriellen Zeitalters ausersehen, das die „Politik‘‘ am liebsten ganz abgeschafft hätte. Seltsam und bedeutungsvoll ist es auch, daß im gleichen Jahre (1776) Adam Smith, Professor für Moralphilosophie in Glasgow, mit der Herausgabe seiner Untersuchungen über den „Reichtum der Nationen“ die höchstentwickelte aller Gesellschaftswissenschaften, die Nationalökonomie, recht eigentlich begründete.

Zwanzig Jahre später, während der Französischen Revolution, errangen die Gesellschaftswissenschaffen ihre erste Anerkennung, als im Rahmen der Neuorganisierung der französischen wissenschaftlichen Akademien im „Institut de France“ eine Klasse für die moralischen und politischen Wissenschaften mit einer Sektion für die „Sciences Sociales“ entstand (1795). Sie wurde das Hauptquartier für jene Schule französischer Sozialwissenschaftler, die man erstmals als „Ideologen“ bezeichneteund die auf Grund einer psychologischen Ideenlehre, einer Naturlehre des menschlichen Geistes, die Grundlagen für eine rationale Ordnung der Gesellschaft und des Staates schaffen wollten. Der ihnen feindlich gesinnte Napoleon schaffte diese Klasse ab, und erst der liberale Staatsmann Guizot errichtete sie 1832 aufs neue als „Académie des Sciences Morales et Politiques“, mit dem Hinweis, daß eine freie Gesellschaft die wissenschaftliche Untersuchung ihrer Grundlagen nicht zu scheuen brauche. Bald wurden auch in Italien und Spanien Akademien für die moralischen und politischen Wissenschaften gegründet, oder, wie in Belgien und anderen Staaten, Klassen der Akademie der Wissenschaften für Gesellschaftswissenschaften — ein Beispiel, dem Österreich bis heute noch nicht gefolgt ist. Kein einziger der österreichischen Gelehrten, die den Ruf der österreichischen Nationalökonomie in die Welt hinaustragen, ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Es ist verständlich, daß die Gesellschaftswissenschaften in Ländern wie Frankreich, England und den Vereinigten Staaten sich schneller entwickelten, weil man dort seit dem 17. oder 18. Jahrhundert viel unmittelbarer mit den Grundproblemen des staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens zu tun hatte als in Österreich bis zum Ende des ersten Weltkrieges. Hier waren kaiserliche Herrschaft und Verwaltung nie ernstlich in Frage gestellt, und die Gesellschaftswissenschaften leiteten ihren Ursprung eher von der Kameral- und Polizeiwissenschaft, d.h. Finanz- und Verwaltungswissenschaft des 18. Jahrhunderts ab, als von der politischen Philosophie, „Ideologie‘‘ oder Soziologie des Westens. Es ist kein Zufall, daß die berühmte Pariser „Ecole Libre des Sciences Politiques“ sofort nach dem Zusammenbruch des Jahres 1871 gegründet wurde; und die Gründung der „London School of Economics and Political Science“ im Jahr 1895 durch den Reformsozialisten Sidney Webb steht im engen Zusammenhang mit den sozialen Umwälzungen in England um die Jahrhundertwende. Beide Schulen sind inzwischen integrierende Bestandteile der Universitäten von Paris und London geworden und gehören zu den bedeutendsten Zentren des gesellschaftswissenschaftlichen Studiums in der ganzen Welt. Diese Entwicklung wird in Frankreich und England, wie auch in den Vereinigten Staaten, durch die Abwesenheit des Juristenmonopols im öffentlichen Dienst sehr gefördert. In Österreich besteht ein solches Monopol — mit der paradoxen Folge, daß der österreichische Staat für Absolventen der Staatswissenschaften keine Verwendung hat.

An der Wiener Universität hat im letzten Jahr der alten Monarchie der wahrscheinlich größte Gesellschaftsforscher des 20. Jahrhunderts, Max Weber, vor zum Bersten gefüllten Sälen seine Vorlesungen abgehalten. Um die Gesellschaftswissenschaften in ihrer ganzen Vielfalt, wie sie im Lebenswerk Max Webers verkörpert sind, in Österreich wieder zu Ehren zu bringen, bedarf es keiner neuen Fakultäten und keiner Umwälzungen der Universitätsstruktur. Es würde genügen, einzelne Lücken zu füllen und Querverbindungen auszubauen. Besonders fühlbar sind diese Lücken auf dem Gebiet der empirischen Soziologie, die sich weniger mit Gesellschaftsphilosophie befaßt, als mit der Erforschung soziologischer Gegebenheiten (wie der gesellschaftlichen Schichtung oder dem Minoritätenproblem), vor allem aber auf dem Gebiet der politischen Wissenschaft. Die Dynamik der Machtbeziehungen, die Struktur und Funktion der politischen Parteien, der wirtschaftlichen Interessengruppen, der Bürokratie — das alles sind Fragen, die der politischen Wissenschaft der westlichen Länder durchwegs geläufig sind. Die Erfahrungen, die Westdeutschland seit einigen Jahren mit der Errichtung von Lehrkanzeln für politische Wissenschaft in Frankfurt, Köln, Tübingen, Freiburg und anderen Universitäten macht, könnten auch für Österreich wertvoll sein. Ausschlaggebend aber wäre es, die Trennungswände zwischen der philosophischen und der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät niederzureißen, die ein integriertes Studium der Gesellschaftswissenschaften unmöglich machen. Philosophie und Geschichte sind von fundamentaler Bedeutung für die Gesellschaftswissenschaften. Die traurige Sackgasse, in der sich die positivistische und rein auf „Tatsachen“ ausgehende Sozialwissenschaft in Amerika verlaufen hat, gibt beredtes Zeugnis für die Notwendigkeit, den philosophischen Grundfragen größeres Augenmerk zuzuwenden. Und den zu Verallgemeinerung neigenden Soziologen oder Staatswissenschaftlern tut ein Hauch von Skeptizismus aus den Studienräumen der Historiker gut — bei denen man anderseits ein manchmal unsystematisches Denken und eine gewisse Willkür in der Verwendung staatswissenschaftlicher oder soziologischer Begriffe beklagen muß.

Ein kombiniertes Studium an der philosophischen wie an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät mit der Möglichkeit, Haupt- und Nebenfächer an verschiedenen Fakultäten zu wählen, würde Historikern, Philosophen, Ethnologen, Soziologen, Staatsrechtlern, Nationalökonomen und selbst (oder vor allem) Zeitungswissenschaftlern die dringend nötige Abrundung ihres Wissensgebiets vermitteln. Damit wären die Voraussetzungen geschaffen, die Österreich zu einer führenden Stellung in den Gesellschaftswissenschaften verhelfen könnten.

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